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Ausgabe:

1889 Nr. 22

Spalte:

562-563

Autor/Hrsg.:

Quandt, Emil

Titel/Untertitel:

Gethsemane u. Golgatha. Ein Passionsbuch in Predigten. 3. Aufl 1889

Rezensent:

Bassermann, Heinrich

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i;6i Theologifche Literaturzeitung. 1889. Nr. 22. 562

Ergebnifs, dafs die Culturentwicklung (ich mehr und mehr
von dem fehr zweifelhaften Einflufs der Religion befreien
und felbft auf den Gebieten ihr entgegentreten mufste,
wo fie einft einen wohlthätigen erziehenden Einflufs übte.
,Der Widerftreit der Kirche mit dem Staate ift als ein
Kampf zwifchen dem Erzieher und dem lieh felbfländig
fühlenden Zöglinge aufzufallen' (S. 386).

Der Verf. würde in das weite Gebiet der ,Religion'
gewifs mehr Klarheit und Ordnung gebracht haben,
wenn er, ftatt die chnfllichen Lebensbeflimmungen neben
anderen ,Religionen' induetiv aufzunehmen, fie zur durchgreifenden
Norm feiner Werthurtheile erhoben und auch
in der mangelhaften, corrumpirten Durchführung des
Chriftenthums immer noch die verzerrten Züge des ur-
fprünglichen chriftlichen Lebensideals nachgewiefen hätte.
Es ift eine gefchichtlich unhaltbare Behauptung desVerf.'s
(S. 8,, dafs auch bei den höher cultivirten Völkern ,der
Grundgedanke der Gottesverehrung auf der Formel do
ut des beruhe'; vielmehr gründet fleh die chriftliche
Cultur gerade in ihren edelften Vertretern darauf, dafs
das Subject jener Formel der lebendige Gott ift, der in
dem menfehgewordenen Mittler fleh felbft als das höchfte
Gut uns zu eigen gegeben, damit wir Alles, was wir fonft
unfer eigen nennen, diefem höchften Gut dienftbar machen
oder unter Umftänden ein relativ werthvolles Gut opfern,
um im Befitz jenes höchften Gutes uns zu behaupten.
Auch wird das Wefen des Chriftenthums durch den
dürftigen Begriff .Religion' nicht erfchöpfend dargeftellt,
fo wenig es feine Aufgabe war, den unficheren Eigenthumsbegriff
des Alterthums fo lange mit einem göttlichen
Nimbus zu umgeben, bis ,dcr Staat- in eigener
Machtvollkommenheit ihn ficher ftellen konnte.

Der Verf. kommt auf dem von ihm eingefchlagenen
Wege zu dem Ergebnifs, dafs auf die Cultur, die freilich
auch nicht klar und beftimmt genug befchrieben wird,
andere .Religionen' oft einen befferen Einflufs geübt
haben, als das Chriftenthum. Zwar zeigt er für evange-
lifches Chriftenthum an manchen Stellen feines Werkes
ein feines und eindringendes Verftändnifs und auch von
der Cultur will er die chriftliche Geiftes- und Herzensbildung
nicht ausgefchloffen fehen. Aber felbft im ur-
fprünglichen Chriftenthum findet er Züge, welche der
fortfehreitenden Cultur hinderlich lind; in der gefchicht-
lichen Durchführung der chriftlichen Gedanken notirt er
mit einer gewiffen einfeitigen Vorliebe und mit allzu
grofser Breite jene abnorme Verlchiebung des Eigenthums
und jene unfruchtbare, ja verderbliche Anhäufung
von Schätzen zu fcheinbar cultifchen Zwecken, die in
der Priefterfchaft und im Mönchthum uns entgegentritt.
Es ift dies um fo befremdlicher, als der Verf. an einigen
Hauptpunkten den unvergleichlichen ethifchen Gehalt des
Chriftenthums fehr entfehieden hervorhebt, indem er
z. B. daran erinnert, dafs durch das Chriftenthum die
Armuth und die Arbeit zu Ediren gekommen, welche im
Alterthum als zufammengehörend beide verachtet wurden
S. iS). In den Waldenfern findet er das chriftliche Lebens-
.deal auch in Betreff der Verwendung des Eigenthums
fchön verwirklicht (S. 328 ff.) und auf die Reformation
der Kirche fuhrt er auch die Umgeftaltung der Armenpflege
zurück, die nun nicht mehr um des Seelenheils
der Spender willen, fondern zum wirklichen Wohl der
Armen geübt wurde (S. 321).

Freilich glaubt der Verf. folch anerkennende Urtheile
dadurch wieder einfehränken zu müffen. dafs er an anderen
Religionen fcheinbare Vorzüge hervorhebt, die mit wefen-
haften Mängeln derfelben zufammenhängen; nur in dem
Jumpfhinbrutenden Buddhismus findet er die Religion,
welche lieb gegen die .Anhänger aller Bekenntmfse'
wahrhaft duldfam erwies. Den Verfolgungseifer des Islam
und der Inquilition bringt der Verf. infofern mit feiner
Aufgabe in Verbindung, als damit Raub und Schädigung
des Eigenthums der Verfolgten verknüpft war. Aber
viele Partien feines Werkes, z. B. die Capitel, in denen

I er den Einflufs der Religion auf die Kunft und Wiffen-
fchaft fchildert, hängen mit der .Entwicklung des Eigenthums
' nur fehr lofe zufammen, fondern wollen nur den

' nicht allzu fchweren Beweis führen, dafs durch ein verdorbenes
Chriftenthum auch die Cultur und der wirth-
fchaftliche Fortfehritt gehemmt und verdorben wurde.

Da der Verf. von dem weiten und nicht näher be-
ftimmten Begriff .Religion' ausgeht, fo bietet fich ihm
in allen Jahrhunderten eine grofse Menge mehr oder
minder treffender religiöfer Vorftellungen dar, und da er
in allen Literaturen fowohl des claffifchen Alterthums
als auch der chriftlichen Zeiten dermafsen heimifch ift,
dafs er mit fchier unbefchränkter Kenntnifs darin waltet,

I fo finden wir faft auf jeder Seite feines Werkes eine
Fülle werthvoller Gedanken und Belehrungen. Weil er
aber Vieles als ,Religion' bezeichnet, was diefes Namens
kaum werth ift, fo können wir es verliehen, dafs er die
.Hemmungen der Cultur' aus dem ,Uebermafs von Religion
', aus dem .Uebergreifen der Religiofität' erklärt,
während jene Hemmungen vielmehr durch die Abwefen-
heit wahrer Religion verftändlich werden. Oft drängt fich
uns bei der Leetüre diefes gehaltvollen, aber architekto-
nifch einigermafsen verbauten Werkes die Erinnerung
an Savigny auf, welcher einft in feinem bahnbrechenden
Werke vom ,Recht des Befitzes' den unermefslichen
Reichthum der gefchichtlichen Rechtsbeftimmungen von
einfachen Gefichtspunkten aus lichtvoll durchdrang und
beherrfchte.

Dresden. Löber.

1. Kohlbrügge, weil. Paft. Dr. Herrn. Friedr., Passions-
Predigten. Elberfeld, 1889. Leipzig, Guftorfi". 295 S.
gr. 8.) M. 1. 50; geb. M. 2. —

2. Quandt, Director d. Pred.-Sem. Emil, Gethsemane u.
Golgatha. Ein Paffionsbuch in Predigten. 3. Aufl.
Halle, Strien, 1889. (VII, 208 S. 8.) M. 2. 40.

Der im Jahre 1875 verdorbene Herrn. Friedr. Kohlbrügge
(vgl. RE2 VIII, noff.) mufs als Prediger eine bedeutende
Wirkfamkeii entfaltet haben; viele Predigten
und Predigtfammlungen von ihm find veröffentlicht worden
und finden offenbar immer noch einen bedeutenden
Leferkreis. Zwei Eigenfchaften find mir in den vorliegenden
Paffionspredigten entgegengetreten, aus welchen
ich mir diefen Erfolg erkläre: ein ftarke Originalität
und ein heiliger Ernft, der unter Umftänden in Gluth und

1 Feuer übergehen kann. Solche Originalität zieht an,
mag fie auch bizarr und unfehön fein, folcher Ernft erbaut
und ergreift, mag auch das Vorgetragene mitunter
recht wenig erbaulich, ja fogar da und dort faft lächerlich
klingen, wenn man es mit ruhigem Blute lieft. So
fühle ich mich von diefen Predigten angezogen und ab-
geftofsen, ergriffen und gelangweilt. Das Abftofsende
liegt in der geradezu horribeln Willkür einer Theologie,
welche von aller hiftorifch-nüchternen Betrachtung der
Dinge fern, die Schrift wie eine Orakelfammlung benützt
und die Gefchichte von Jefu Leiden und Sterben in ein
mirakulöfes Schauerdrama verwandelt, aus gefliehten,
felbfterdachten Phantaftereien zufammengefetzt. Greift
man fich, wenn man dies zuerft lieft, zuweilen an den
Kopf vor Erftaunen, dafs folches im 19. chriftlichen Jahrhundert
gepredigt und gelefen wird, fo tritt doch fchliefs-
lich auch Langeweile ein, weil fich dasfelbe Spiel immer
wiederholt. Und folche Theologie glaubt fchriftgemäfs
zu fein! Die Sprache der Schrift, befonders des A. T.'s,
wird allerdings fleifsig gehandhabt und fogar weitergebildet
nach Seiten der Derbheit und Seltfamkeit hin bis
zum Unerträglichen; aber wenn von der Schrift gilt, was
der reformirte Verf. einmal (S. 41) in Beziehung auf die
Abendmahlslehre fagt: ,die Wahrheit ... ift nüchtern',
fo ift feine ganze Predigtweife gerichtet, denn fie ift das'

; Gegentheil aller Nüchternheit, wie fchliefslich die in im