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Ausgabe:

1889 Nr. 19

Spalte:

483-484

Autor/Hrsg.:

Steiger, Alfred

Titel/Untertitel:

Der letzte grosse Ketzerprocess in der Schweiz 1889

Rezensent:

Reusch, Franz Heinrich

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4«3

Theologifche Literaturzeitung. 1889. Nr. 19.

484

lüttem' ein Lefefehler für ,necessitatem'. — Gerbert hat
feine Arbeit, die eine erfreuliche Bereicherung der Strafs-
burger und der Literatur über die Secten der Reformationszeit
bildet, dem Andenken feines Freundes, des jungver-
ftorbenen Adolf Baum gewidmet, deffen nachgelaffene
Schrift über die Stellung des Strafsburger Magistrats zur
Reformation von mir kürzlich in diefen Blättern angezeigt
ift; fie bildet auch inhaltlich eine würdige Fortfetzung
deffen, was wir von Baum jun. empfangen hatten.

Kiel. G. Kawerau.

Steiger, Dr. Alfr., Der letzte grosse Ketzerprocess in der
Schweiz. Ein Culturbild aus dem XVIII. Jahrhundert.
Nach den vorhandenen Originalacten zufammengeflellt.
Mit dem Bildnifse des Jakob Schmidlin. Luzern, J.
L. Bucher, 1889. (109 S. 8.)

Im J. 1747 wurde der Bauer Jakob Schmidlin ab
der Sulzig (Sulzjoggi) als ,Irrlehrer und Verführer des
Volkes' zu Luzern ftrangulirt und dann verbrannt. Von
feinen Anhängern wurden zwei zu Galeerenftrafe ver-
urtheilt (es beftanden damals Staatsverträge mit Frankreich
und Spanien, nach welchen die katholifchen Can-
tone körperlich rüftige Leute als Galeerenfklaven dorthin
fchicken konnten), etwa 70 aus der Schweiz verbannt
(nach dem damaligen Rechte durfte ein von einem
Canton Verbannter in keinem anderen aufgenommen
werden; fonft würden die verbannten Anhänger Schmid-
lin's zum Theil in Bafel Aufnahme gefunden haben).
Schmidlin's Verbrechen beftand darin, dafs er, nachdem
er mit pietifbfehen Kreifen in Bafel, Schaff häufen und
dem Canton Bern bekannt geworden, mit feinen Anhängern
,Stündele' gehalten-, die Bibel und pietiftifche
Bücher gelefen *) und allerlei für Katholiken anftöfsige
Aeufserungen gethan hatte. Er war fchon 1739 einmal
in Unterfuchung gezogen, damals aber, da ihm fein
Pfarrer ein günftiges Zeugnifs ausftellte, ,auf Anloben,
fich ruhig zu verhalten', ohne Strafe entlaffen worden.
1747 wurde er hingerichtet, obfehon er feine Irrthümer
widerrief und wiederholt beichtete; am Tage vor feinem
Tode wurde ihm auch die Communion gereicht. Nach
feiner Hinrichtung wurde fein Haus zerftört und auf dem
Platze eine Schandfäule errichtet.

Der Ketzerprocefs von 1747 wird u. a. befprochen
in Pfyffer's Gefchichte von Luzern I, 486; ausführliche
Berichte darüber flehen in den Acta ltistorico-ccclesiastica,
12.—14. Band (1748—50)2). Dr. Steiger, ein Arzt in
Luzern, ein Sohn des aus der Freifchaarenzeit bekannten
Dr. Jakob Robert Steiger, hat für feine Darftellung die
Originalacten, einen von einem Luzerner Geiftlichen, der
bei dem Proceffe mitwirkte, für den Nuncius gefchriebe-
nen Bericht und eine Arbeit von Felix von Balthafar
aus dem J. 1765 (beide nicht gedruckt) benutzt. Seine
Darftellung ift alfo vollftändiger und zuverläffiger als die
bisher vorhandenen, übrigens nicht fehr überfichtlich.

Steiger befpricht auch einen etwas älteren Luzerner
Ketzerprocefs. Im J. 1706 wurde ein Bauer Auguftin
Salzmann wegen unkatholifcher Aeufserungen verhaftet.
Da die beiden zugezogenen Geiftlichen erklärten, er habe
zwar manche falfche Aeufserungen in Religionsfachen
gethan, fich aber keiner eigentlichen Ketzerei fchuldig
gemacht und befinde fich jetzt auf dem rechten Wege,

1) Als ,das eigentliche Hand- und Lehrbuch der Ketzer' wird S. 42
.Eine kleine, ja dennoch heilfame Seelenweid' genannt, ein 1745 er_
fchienenes Schriftchen, worin ,die Fragen nach dem Katechismus des Peter
Canifius geftellt, aber ganz andere als katholifche Antworten gegeben
waren'. Als Verfaffer wurde ,ein Prädicant Lutz' genannt, ohne Zweifel
der bekannte Samuel Lutz, f 1750; f. Prot. R.-E. 9, IOI. — Der S. 14
.rwähnte Pater Kocheim ift natürlich Martin von Kochern. S. 63 Z. 8
v. u. 1. beichteten ft. berichteten ihre Sünden.

2) Steiger citirt fie wiederholt als Acti historico-eccltsiastici (einmal
, S. 8, als .Hamburger Magazin'), fcheint aber nur die Auszüge bei
Balthafar benutzt zu haben.

wurde er entlaffen und ihm nur aufgegeben, bei feinem
Pfarrer und der Gemeinde Abbitte zu thun. Im J. 1713
wurde er aber wieder eingezogen und nun, weil er ,fich
trotz diefer Correction nicht gebeffert, fondern Lehren
vorgetragen, die dem katholifchen Glauben fchnurftracks
widerftreben', zu lebenslänglicher Haft verurtheilt. Steiger
erwähnt auch, dafs fechs Jahre nach dem Luzerner Ketzerprocefs
, im J. 1753 der Rath von Bern Hieronymus
Kohler als .Verführer, Betrüger und abfeheulichen Gottes-
läfterer' ftranguliren und verbrennen liefs. Gegen diefen,
das Haupt der fog. Brüggler Secte, lagen aber allerdings
fchlimmere Dinge vor als gegen Schmidlin; vgl. Prot.
R.-E. 8, 116.

Der Luzerner Ketzerprocefs von 1747 war nicht ein
kirchlicher, fondern ein ftaatlicher. Die weltliche Obrigkeit
des Cantons führte die Unterfuchung und fprach das
Urtheil. Geiftliche wurden von ihr nur zur Begutachtung
der Anflehten und Aeufserungen der Angeklagten und der
bei ihnen gefundenen Bücher zugezogen. Die Nunciatur
in Luzern machte geltend, die Sache gehöre vor das
geiftliche Tribunal, wurde aber bedeutet, da die Angeklagten
weltliche Perfonen feien, feien fie nach altem
fchweizerifchen Herkommen keinem anderen Richter-
ftuhl als dem ihrer natürlichen Obrigkeit unterworfen. Der
oben erwähnte Felix vonBalthafar, ein angefehener Luzerner
Laie, — der Sohn eines der Richter Schmidlin's, derfelbe,
welcher 1768 anonym eine Schrift über die Freiheiten
und die Gerichtsbarkeit der Eidgenoffen in geiftlichen
Dingen gefchrieben hat, die 1769 von der Inquifition
verdammt wurde '), — vertheidigt nicht nur die Abwei-
fung der Nunciatur, — er meint, die Angeklagten würden
fich bei diefer mit Geld und verfchmitzten Antworten
aus der Schlinge gewunden haben, — fondern auch das
Recht des Staates, nur Eine Religion zu dulden und
Störer der religiöfen Einheit, wenn auch nicht hinrichten
zu laffen, — das Verfahren der Luzerner will er nur ent-
fchuldigen, — doch zu verbannen. Das Verfahren gegen
Schmidlin entfprach übrigens den Regeln der Römifchen
Inquifition, nach welcher ein ,Ketzer', wenn er nicht
widerrufen wollte, lebendig verbrannt, wenn er widerrief,
das erfte Mal nicht mit dem Tode beftraft, im Rückfalle
aber ftrangulirt und dann verbrannt wurde. Die Berner
verfuhren milder, wenn fie Kohler, der nicht widerrief,
nicht lebendig verbrannten.

Im J. 1799 bat ein Sohn des 1747 hingerichteten
Schmidlin, der damals als einjähriges Kind mit feiner
Mutter und fünf Gefchwiftern verbannt worden war, um
Wiedereinfetzung in das helvetifche Bürgerrecht. Das
veranlafste den .Grofsen Rath der helvetifchen Republik',
durch einen ausführlich motivirten (bei Steiger abgedruckten
) Befchlufs, alle in Helvetien noch vorhandenen Straf-
gefetze gegen religiöfe Meinungen und Secten aufzuheben
und alle blofs wegen religiöfer Meinungen von
den ehemaligen Regierungen ausgefprochenen Straf-
urtheile mit all ihren Folgen zu vernichten2).

Bonn. F. H. Reufch.

Heinrici, C. F. Georg, D. August Twesten nach Tagebüchern
und Briefen. Mit dem Bildnifs. Berlin, Hertz,
1889. (IV, 490 S. gr. 8.) M. 7. —

Der Verf., Tweften nicht nur als feinem theologifchen
Lehrer, fondern auch als Gatte von deffen Enkelin verbunden
, hat mit Recht das Bedürfnifs gefühlt, bei der
hundertjährigen Wiederkehr des Geburtstages diefes Theologen
(11. April 1789) fein Andenken zu erneuern.
Durch die Erwägung, dafs derfelbe kein Bahnbrecher ge-
wefen und dafs feine Perfönlichkeit hinter den Ereig-
nifsen, an deren Herbeiführung er mitarbeitete, zurücktritt
, hat er fich dazu beftimmen laffen, ftatt einer Bio-

1) Reufch, Index 2, 947.

2) Vgl. die ausführlichere Recenfion im Deutfchen Merkur Nr. 34. 35.