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Ausgabe:

1889 Nr. 17

Spalte:

443-445

Autor/Hrsg.:

Kingsley, Charles

Titel/Untertitel:

Predigten. 1., 3. u. 4. Bd 1889

Rezensent:

Hans, Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1889. Nr. 17.

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zwifchen der auf ihrem Blatt kriechenden Raupe, die
keine Ahnung von ihrer fchönen Zukunft als Schmetterling
hat, und zwifchen der frei in die Lüfte fich auf-
fchwingenden Lerche entwickelt, in der zweiten Parabel
(,übrigkeit und Gehorfam') die Bekehrung des rebellifch
gewordenen Bienenvolkes zu der weifen Ordnung unter
dem Bienenkönig durchgeführt, und dann, um nur noch
eine Probe zu geben, wie fein wird in der dritten Parabel
(,das unbekannte Land') die den Vögeln eingeborene
Sehnfucht nach dem unbekannten Land einer fchöneren
Heimat in der weiten Ferne dargeftellt und gedeutet,
und zugleich in der kritifchen, grob realiftifchen
Elfter, welche dem naiven Rohrfänger feinen einfältigen
Glauben ausreden will, mit gutem Humor die
dünkelhafte Aufklärung gegeifselt! Mitunter wird allerdings
die Schranke der Parabel durchbrochen und der
Ton ein zu didaktifcher, die Anwendung zu direct; fo
namentlich in der letzten Parabel (,eine Gefchichte von
der Hoffnung').

Dem Herausgeber, der in freiefter Weife den Stoff
beherrfcht und ihn in deutfche Form trefflich umge-
goffen hat, kann man nur danken, dafs er diefe fchöne
Gabe feinen Landsleuten vermittelt hat. Theologen
können aus der Schrift für gefunde Apologetik in Predigt
und Seelforge viel lernen.

Dresden. Meier.

Kingsley, Charles, Predigten. Autorifierte Ueberfetzung
von Dina Krätzinger. 1., 3. und 4. Bd. Gotha,
F. A. Perthes, 1889. (8.) geb. M. 10. —

Inhalt: i. Dorfpredigten. 2. Aufl. (VII, 228 S.) M. 4. —. —
3. 4. Drohe Botfchaft von Gott. I. II. (III, 160 u. VI, 156 S.)
ä M. 3. —

Von Kingsley's Predigten find nun fchon mehrere
Bändchen in deutfcher Ueberfetzung erfchienen, darunter
das erfte bereits in 2. Auflage. Sie finden alfo offenbar
bei dem deutfchen Publicum Anklang. Zwar find es
keine Predigten nach deutfcher Art. Sie find aufserordent-
lich kurz, etwas formlos und fchlagen meift andere Ge- j
dankengänge ein, als wir fie in der Regel zu verfolgen
pflegen. Aber fie haben einen grofsen Vorzug. Sie find
frei von jeder Phrafe. Der Prediger macht nicht fromme
Worte. Er hat jedesmal etwas zu fagen. Es ift jedesmal
irgend ein beftimmter Gedanke, der ihn felbft innerlich
befchäftigt hat, den er feinen Hörern klar machen j
oder ans Herz legen will. Deshalb find auch feine Predigten
nicht immer textgemäfs, in der Weife, wie wir es meinen.
Er folgt gewöhnlich einem Gedanken, der durch den i
Text in ihm erregt worden ift, mag er auch keineswegs j
den Hauptgedanken desfelben bilden, ja zuweilen nur in
fehr lofem Zufammenhang mit ihm flehen. Und nicht
feiten ift wohl der Text erft nachträglich gewählt, nachdem
das Thema fchon feftftand. Unter den deutfchen
Predigern ift es vielleicht Bitzius, dem, bei aller Ver-
fchiedenheit des Standpunktes, Kingsley am nächften 1
fleht. Da ift diefelbe Selbftändigkeit und Originalität,
diefelbe Concentrirung auf einen einfachen Gedanken,
diefelbe fachliche Beredtfamkeit, möchte ich fagen, die
ein beftimmtes Ziel vor Augen hat und mit ruhiger
Energie darauf los geht.

Doch ftatt weiterer allgemeiner Erörterungen über
Kingsley s Predigtweife, will ich lieber diefelbe an zwei Bei- j
fpielen kurz zu veranfchaulichen fuchen. In dem zweiten |
der oben genannten Bändchen findet fich S. 116—123
eine Pfingftpredigt über den Text; ,Ich will dich unterweifen
und dir den Weg zeigen, den du wandeln follft; ich
will dich mit meinen Augen leiten' (Pf. 32, 8), die die
Ueberfchrift trägt: .Helden und Heldinnen'. In der Einleitung
wird auf das Pfingftereignifs hingewiefen. Darauf
wird fortgefahren: ,Wir bekommen dasfelbe, was die I
Apoftel erhielten, wenn auch nicht in derfelben Geftalt____r

| Gott gab ihnen den heil. Geift, um fie zu ihrem Werke
zu befähigen; er giebt auch uns den heil. Geift, damit
er uns fähig mache, unfer Werk zu thun, welcher Art
es auch fein mag. Wie ihr Tagewerk, fo war ihre Kraft;
wie unfer Tagewerk, fo wird auch unfere Kraft fein',
j Und dann behandelt der Prediger eingehend zwei Bei-
fpiele. Er fchildert eine Frau, der niemand, fo lange fie
in angenehmenVerhältnifsen lebte, die Kraft zugetraut hätte,
Trübfal zu ertragen, die aber diefe Kraft in hohem Grade
bewies, fich als Heldin zeigte, da die Trübfal kam. Er
fchildert einen Mann, der eine fchwere, gefahrvolle Aufgabe
zu erfüllen hat. .Seine Ehre, fein guter Name
hängen vielleicht an einem Worte. Die Ruhe, der Wohl-
ftand, das Leben menfchlicher Wefen hängen vielleicht
daran, dafs er innerhalb einer kurzen Stunde
befchliefst, genau das Richtige zur richtigen Zeit zu
thun.' Es bangt ihm davor. Aber es fehlt ihm, da
die Zeit es fordert, nicht an Einficht und Kraft. ,Wenn
er dann zurückblickt, fo erftaunt er über fich felbft. Und
auch die Welt ift erftaunt über ihn und ruft: Wer hätte
gedacht, dafs foviel in diefem Menfchen fei. Und fie
nennen ihn einen Helden. Die Welt hat in beiden Aus-
fprüchen recht. Wer hätte geglaubt, dafs foviel in diefem
Manne fei? Denn es war nicht in ihm, bis Gott es in ihn
legte'. Er ift in der That ein Held. Aber wenn wir
von einem Helden fprechen, müffen wir Gott die Ehre
geben und fagen: ,Dies ift ein Menfch, welcher, und fei
es auch nur für einen Tag der Gefahr und der Anfechtung
den Segen des Pfingfttags und die Kraft Gottes an fich
erfahren hat; ein Menfch, den Gott unterwiefen und ihm
den Weg gezeigt hat, den er wandeln foll'.

In demfelben Bändchen findet fich S. 140—147 eine
Weihnachtspredigt über den Lobgefang der Engel, mit
der Ueberfchrift: ,Mufik'. Wir lefen in der Einleitung:
,Was jener Gefang bedeutete. . ., das habe ich euch fchon
oft gefagt. Heute möchte ich, dafs ihr einmal daran
dächtet, dafs es ein Gefang war; dafs jene Engel fangen,
gerade wie mcnfchliche Wefen'. Darauf wird die Schönheit
der Mufik gepriefen nnd ihr Wefen zergliedert. ,Die
Mufik befteht aus zweierlei, aus der Melodie und aus der
Harmonie. Die Melodie befteht, wie die meiden von euch
wiffen, darin, dafs die verfchiedenen Töne einer Tonleiter
in einer dem Ohre angenehmen Weife auf einander folgen;
die Harmonie bedeht darin, dafs verfchiedene Töne in
dem Ohre wohlgefälliger Weife zu gleicher Zeit kommen,
datt aufeinander zu folgen'. Aber warum gefallen fie uns?
Warum id im Himmel Mufik? Weil in der Mufik kein
Eigenwille id, weil fie fich nach gewiffen Gefetzen und
Regeln bewegt und gerade in der Erkenntnifs diefer Gefetze
und der innigden Anfchmiegung an fie ihre Freiheit
und ihre Vollendung findet. Darin id die Mufik ein
Bild des ewigen Lebens im Himmel. Aber darum id auch
ein göttliches Leben, ohne dafs es fich in Tönen kund
giebt, vor Gott Mufik. ,Wenn du das Gefetz erfülld, das
Gott dir gegeben hat, das Gefetz der Liebe und Freiheit,
dann machft du Mufik vor Gott, und dein Leben id ein
Lobgefang zu feinem Preife. Wenn du mit deinem
Nächden in Liebe und Eintracht lebd, fo id das dem
Ohre Jefu Chridi eine füfsere Harmonie als Saitenfpiel,
Gefang und alle Art von Mufik'.

Man mag aus diefen Proben erfehen, dafs fich die
Kingsley'fche Predigtweife nicht einfach auf den deutfchen
Gottesdiend übertragen läfst. Im englifchen Gottesdiend
id die Predigt doch im Grunde nur ein Ornament, wenn
auch ein fehr wichtiges und an feiner Stelle unentbehrliches
. Da kann fie einem einzelnen, auch nebenfächlichen
Gedanken nachgehen und ihn ausfpinnen. Im deutfchen
Gottesdiend dagegen id die Predigt, ob man es billigen
mag oder nicht, Mittelpunkt und Trägerin des Ganzen.
Da mufs fie, befonders an Feden, einen volleren und
reicheren Inhalt haben. Aber der Privaterbauung werden
die Kingsley'fchen Predigten fehr dienlich fein, befonders
wenn man der gewohnten Formen etwas überdrüflig ge-