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Ausgabe:

1889 Nr. 14

Spalte:

361-364

Autor/Hrsg.:

Ador, Paul

Titel/Untertitel:

Jeschua von Nazara. Roman 1889

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1889. Nr. 14.

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wefen war, und weil insbefondere die Laienwelt jetzt ihre
eigenen Erlebnifse, Gedanken, Empfindungen aufzuzeichnen
beginnt. So fängt allerdings die Laienwelt mit
gröfserem Erfolg an, in die bisherige Machtfphäre der
Kirche einzugreifen. Aber andererfeits find diefe letzten
Jahrhunderte gerade auch die Zeit, in der die flärkfle Einwirkung
der kirchlichen Anfchauung auf die der Laien
lieh vollzieht, da alfo diefe gerade jene .transfeendenten'
Elemente in viel gröfserem Umfang in lieh aufnehmen,
als früher. Die Bettelorden haben auch hier das durch-
zufetzen begonnen, was die virtuofe Technik der Jefuiten
vollendet hat, die Durchtränkung der Laien weit mit
den Elementen der clcricalen und mönchifchen Welt-
anfehauung.

Ich glaube, von hier aus tritt auch die Reformation
Luthers in ein ganz anderes Licht, als bei v. E. Es ift
freilich ein längft widerlegter Irrthum, wenn v. E. in
Luther's Wirken wefentlich nur den Zufammenfchlufs der
vorreformatorifchen Oppofition und ihrer Gedanken fieht.
Luther's religiöfes Denken fleht auf einem völlig neuen
Grund, der im Mittelalter in keiner Weife vorgebildet
war. Aber die fittliche Weltanfchauung des Reformators
wurzelt doch in den beften und werthvollften
Elementen derjenigen der mittelalterlichen Laien. Er hat
ihr nur eine abermalige Vertiefung und Läuterung und
dazu den vollendeten Ausdruck gegeben — auch hier
gilt das Wort Döllinger's: ,fie Rammelten; er allein
redete' — und er hat vor allen Dingen die religiöfe
Anfchauung gefunden, in welcher fie lebendig eingefügt,
von der fie getragen und erfordert wurde.

Ich breche ab. Noch hätte ich viele Bedenken im
Einzelnen vorzutragen: ich hätte insbefondere zu fagen,
dafs m. E. auch die Zeichnung der kirchlich-mönchifchen
Weltanfchauung, die der Verfaffer der mittelalterlichen
unterfchiebt, in vielen Punkten verzeichnet und unvoll-
ftändig ift; ich befchränke mich darauf, zu erinnern, dafs
in dem ganzen Buch mit keiner Silbe von der Ver-
mifchung von Religion, Sittlichkeit und Recht die Rede
ift, die doch der mittelalterlichen Religiofitat und Kirchlichkeit
ihr ganz eigenthümliches Gepräge giebt, fowie
dafs man ein Syftem der mittelalterlichen Weltanfchauung
doch nicht wohl darfteilen kann, ohne der Verfuche zu
gedenken, die im Mittelalter felbft in Bezug auf ihren
fyftematifchen Aufbau gemacht worden find, und der
Dienfte zu erwähnen, die da vor Allem das Weltbild
und die Myftik des Areopagiten geleiftet haben.

Giefsen. Karl Müller.

Ador, Paul, Jeschua von Nazara. Roman, auf die Ergeb-
nifse der hiflorifchen Eorfchung begründet. 2 Thle.
in 1 Bde. München, Baffermann, 1888. (VIII, 240
u. 222 S. S.) M. 6. 60; geb. M. 8. —

Vorliegendes Werk habe ich aus allerlei Gründen
pflichtmäfsig gelefen, wobei ich mir freilich ftets deffen
bewufst blieb, nicht zu dem Publicum zu gehören, auf
deffen wohlwollendes Verftändnifs der unter dem Namen
P. A. verfleckte Verfaffer gerechnet hatte. Wollte der-
felbe blofs die äufsere und innere Gefchichte eines jungen
Mannes befchreiben, deffen unbezähmbarer Welterlöfungs-
drang ihn, nachdem ,ihm weder Pharifäer, noch Saddu-
cäer, weder Effäer, noch die ägyptifchen Therapeuten die
wahre Religion geboten' (I. S. 154), und er überdies es
vergeblich auch mit dem Täufer verflicht hat, zuletzt auf
eigenen Wegen zu fchwindelhafter Höhe geführt, fo wäre
dagegen nichts zu erinnern, als dafs der Dichter, indem
er fem Phantafiebild an weltbekannte hiftorifche Erinnerungen
anlehnte, hier zu allerhand Mifsverftändnifsen, dort
vielleicht fogar zu Aergernifsen Anlafs gegeben hätte.
Nun läfst aber die Vorrede darüber keinen Zweifel beliehen
, dafs es fich wirklich um ,ein treues Bild der
\ irklichkeit' handle. ,um dasjenige rein menfehliche Bild,

welches fich bei Zugrundelegung aller hiflorifchen Quellen
und genaueftcr Prüfung ihrer Glaubwürdigkeit ergiebt'.
Diefe Quellen werden zuweilen auch unter dem Text zur Be-
ftätigung angeführt. Schon ,Straufs, Renan, Keim,Schenkel,
Hausrath und viele andere hochberühmte Theologie-
profefforen' haben dem Verfaffer vorgearbeitet. Aber
,die zum Theil äufserft gelehrt gefchriebenen Bücher der
Kirchenhiftoriker werden nicht gelefen'; alfo .bleibt nur
der hiftorifche Roman als einziges Mittel, die PTgebnifse
der gelehrten Forfchung in eine, für Jedermann anziehende
F"orm zu bringen' und fo die Menfchheit einerfeits vor
dem Atheismus, andererfeits vor dem Aberglauben zu
bewahren. ,In diefem Sinne ilt das Buch mehr als ein
gewöhnlicher Roman; es hat eine culturgefchichtliche
Million zu erfüllen'.

Um eine folche Wirkung zu erzielen, wären nun zu-
nächft etwas mehr Vertrautheit mit dem hiflorifchen
Hintergrund, mit Land und Leuten, überhaupt reichlichere
Schul- und Eachkenntnifse erwünfeht. Mehrfach begegnet
z. B. ,der Bach Gibon' (doch wohl fo wenig Druckfehler
wie die ftets wiederkehrende ,Cyfterne', vgl. I, S. 59).
Ueber Kapernaum wird man Ichwerlich ganz richtig
orientirt (I, S. 18. 20. II, S. 56. 80;. Auf der Oftfeite des
todten Meeres werden Hofjagden veranltaltet (II, S. 1 f.).
Die Juden fprechen hier mit den Römern lateinifeh (I,
S. 140. II, S. 204), lateinifeh auch die Herodäer, wenn fie
in Jerufalem unter fich find (I, S. 192 f.). Nur Jefus fpricht
ein gebrochenes Griechifch zu Pilatus, worauf diefer fich
auch feinerfeits zum Gebrauch diefer Sprache bequemt
(II, S. 204. 209f.). Man rechnet nach Jahren feit Er-
fchaffung der Welt (I, S. 58). Die Effäer begrüfsen beim
Eintritt in ihr Verfammlungshaus über der Thür desfelben
ein riefiges Dreieck von Gold (1, S. 80) und rufen .Allvater
im fernen Himmelreich' an (I, S. 148). Die Juden
fchwören bei Jehova (I, S. 132), und auch Pilatus kennt
ihn und die umgeblafenen Mauern Jericho's (I, S. 119.
131). Der Täufer und fein Jünger gehen zeitweilig unter
die Flagellanten (I, S. 157. 168. II, S. 25), Jefus felbft peinigt
fich mitunter (I, S. 168. II. S. 145), der Kaifer Tiberius
aber läfst fich in Tempeln als Gott verehren (I, S. 195).
Die Archäologie des Kreuzes läfst zu wünfehen übrig
(II, S. 214 f. 219). Auch die Namen find oft feltfam.
Die Tochter des Aretas heifst Areta, die des Hannas
Jephta.

Schlimmer noch fleht es mit der Fähigkeit, den
Factoren gerecht zu werden, welche das religiöfe Be-
wufstfein Jefu in feiner Eigenart zu erklären vermöchten.
Dafs Gott die Liebe ift, kann Jefchua hier fortwährend
der Natur abfehen (z. B. II, S. 71). Wer der Welt Gott
als den Vater verkündigte, mufste fchlechterdings aus
feinem elterlichen Haufe andere Eindrücke mitgebracht
haben, als die Schläge Jofeph's, welchen diefer Jefchua,
weil er nicht Zimmermann werden will, bei Zeiten entläuft
. Jefu Himmel war zur Zeit feines Auftretens rein
und unbewölkt. Er hat nicht fchon längft zuvor dem
grauenhaften Haupt der Priefterfchaft Hafs bis zum
letzten Athemzug gefchworen (I, S. 90. II, S. 83 f.). Sein
Frohfinn war nicht ein- für allemal gebrochen in Stunden,
da er die Fäufte gegen den Himmel ballte (I. S. 175. 177).
Schon von Straufs hätte der Verfaffer Befferes lernen
können. Und wie denkt er von dem Begriff .Sohn Gottes
'? Der Name kommt unvermittelt hereingefchneit (II,
S. 102. 110) und erfcheint in den Ohren der Eltern
wie eine Verleugnung feiner natürlichen Herkunft (II,
S. 107 f.), gleichwohl aber auch wieder identifch mit dem
Meffiastitel (II, S. 108. 155), wie der Menfchenfohn (II,
S. 201), auf den man vollends gar nicht vorbereitet ift.

Schriftftellerifchen Beruf fcheint der Verfaffer von
Haus aus trotz einer gewiffen Flüffigkeit der Darfteilung
nicht zu befitzen. Seine Leiftungsfähigkcit bleibt durchaus
innerhalb der Grenzen desjenigen, was guter Unterricht
und Leetüre dem gebildeten Mann von heute erreichbar
machen. Originalität ift nirgends anzutreffen.