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Ausgabe:

1889 Nr. 14

Spalte:

355-361

Autor/Hrsg.:

Eicken, Heinrich v.

Titel/Untertitel:

Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung 1889

Rezensent:

Mueller, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1889. Nr. 14.

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ift ,Bezeichnung des Specificums, mittelft deiTen in der
neuteftamentlichen Heilsökonomie durchweg das aw'Cioüai
zu Stande kommt1 (S. 138). ,Somit hat rs/.voyovia kein
Subject. Es heifst nur, mittelft des Gebärens eines
Kindes werde das aiöCsoirai zu Stande kommen' (S. 144).
Alfo ,uns ift ein Kind geboren1 Jef. 9, 6. Die Theologen,
welche von Origenes bis auf Ellicott an die jungfräuliche
Geburt Maria's dachten, haben ganz recht; nur darin
irren fie, dafs fie meinen, der Tieflinn der Stelle er-
fchöpfe fich in diefer Einen Beziehung. Nicht blofs
,universaliter in der Heilsgefchichte als folcher', gilt der
Satz, fondern auch jede der zahllofen individuellen
Entwicklungsgefchichten' (S. 142) fällt unter ,die Weite
feiner Domäne' 'S. 143). Der Verfaffer wagt geradezu
den Satz ,ato-d,ijvät wird mit zexvoyovia identificirt' (S. 140),
denn es heifst ja fofort iav fieivcoaiv iv Ttiaxsi. ,Ift das
(leivca iv 7t lax Ei eo ipso die Vorausfetzung des oioCeottai,
diefes erfolgt übrigens diu zfjg zExroyoviag, fo mufs der
begriffliche Inhalt des letzteren das Moment der ntang
involviren und fich auf diejenige Geburt erftrecken, welche
im Glauben erfolgt, nämlich auf das ytiiii:h]via, avto&ev
ef Söottogxai fivsvfteetofj auf die rictKi/yyevsoLc/ (S. 141).
Alfo fallen fowohl ,die ivaviroionr^ng des Herrn1, als ,die
naliyysvsaia des Chriften' in den Rahmen der tE/.voyovia
(S. 142), und der Gehalt unferer Stelle umfafst fomit die
objective wie die fubjective Seite der Heilslehre, und
.erfcheint hier zur Vollendung des Parallelismus zwifchen
der Wiedergeburt eines Kindes Gottes im Glauben das
Weib, welches die letztere erfahren foll, als die Mutter,
unter deren (udivtg das zixvov %eov, das aviotrEV ysvvrj&iv,
zum Leben kommt' (S. 144). ,Mufs das Weib, um für
den Eintritt in diefes Myfterium bereitet zu werden, die
Arbeit des Mannes in dem dtdcla/.siv fich gefallen laffen,
fo mufs der Mann, um das Ziel aller Lehre zu erreichen,
feine Seele eintreten laffen in die Frauenarbeit der anderen
Geburt' 'S. 150).

So etwas heifst man in der hermeneutifchen Schule,
welcher unfer Verfaffer angehört, ,tiefer graben1. Man
könnte es auch anders nennen.

Strafsburg i. E. H. Holtzmann.

Eicken, Staatsarchivar Dr. Heinr. v., Geschichte und System
der mittelalterlichen Weltanschauung. Stuttgart, Cotta
Nachf., 1887. (XVI, 822 S. gr. 8.) M. 12. —

Ich mufs von vorn herein darauf verzichten, diefem
umfangreichen Werk ins Einzelne hinein zu folgen und
mich mit allen feinen Hauptpunkten auseinanderzufetzen.
Ich kann, um das in diefer Zeitung gefetzte Mafs nicht
über Gebühr zu überfchreiten, nur die Kernpunkte herausgreifen
. Es wird das um fo nöthiger fein, als das Buch m. E.
trotz aller redlichen Arbeit, trotz aller Hingebung und
Vornehmheit der ganzen Haltung nicht nur in reichlichen
Einzelheiten fchief und unrichtig, fondern auch in der Ge-
fammtauffaffung verfehlt ift. Ich wende mich daher fofort
zu diefer.

Den Ausgangspunkt, den der Verf. für die Genefis
der mittelalterlichen Weltanfchauung nimmt, bilden die
drei weltgefchichtlichen Gröfsen des Römerthums, Griechenthums
, Judenthums. Alle drei haben zur Zeit Chrifti ein
Wefen angenommen, welches das gerade Gegentheil ihrer
Anfänge bezeichnet und fteuern nun diefe Grundeigen-
thümlichkeiten für die mittelalterlich-chriftliche Weltanfchauung
bei: das Römerthum den Kosmopolitismus,
Univerfalismus, das Griechenthum die Empfindung des
tiefen Gegenfatzes von Gott und Welt, Geift und Natur
und der Nothwendigkeit feiner Ueberwindung, und das
Judenthum endlich, das in der Berührung mit diefen beiden
Mächten ihrer beiden Eigenthümlichkeit angenommen,
giebt die Perfönlichkeit, welche in fich felbft die Ueberwindung
jenes Gegenfatzes darftellt und die Bekenner
dazu anleitet, diefelbe Verföhnung mit Gott durch vollkommene
Weltverneinung zu erreichen. Als die univer-
fale Gemeinfchaft diefer Religion der Verföhnung in der
Weltverneinung unternimmt die Kirche ihren Gang durch
die Gefchichte. Und gerade diefe Weltverneinung ift für
fie der Weg zur Weltbeherrfchung. Denn die von ihr
den Menfchen auferlegte Verneinung der Welt kommt
überall ihr zu gut, da diefe Welt doch nicht einfach vernichtet
, fondern nur Gott d. h. feiner ,fichtbaren Wirklichkeit
', der Kirche geopfert werden kann. v. Eicken führt
diefe Thefe dann auf den verfchiedenen Gebieten des
mittelalterlichen Lebens durch: Staat, Familie, Wirth-
fchaft, Recht, Wiffenfchaft, Dichtung, bildender Kunft.
Er zeigt dann aber auch, wie diefer Anfpruch der Kirche
auf die Weltherrfchaft durch Weltverneinung überall
einen Widerftand erzeugt, der zwar der jogifchen Begründung
' des kirchlichen Syftems keine Begründung
feiner felbft, der ,religiöfen Metaphyfik' der Kirche keine
andere ,Metaphyfik' entgegenzuftellen vermag, der aber
überall die Nothwendigkeit der Selbfterhaltung und die
unaustilgbare Sinnlichkeit auf feiner Seite hat. ,Der Wider-
ftreit zwifchen der transfcendentenldee des religiöfen Glaubens
und den Exiftenzbedingungen des irdifchen Lebens'
bildet fomit ,das Charakterbild der mittelalterlichen Cul-
tur'. ,Die Weltallegorie des hierarchifchen Gottesftaates ift
ein erhabener Torfo verblieben'.

Allein dadurch, dafs die Kirche mit ihrer Forderung
der Weltverneinung zur Weltherrfchaft geführt wird, ,fetzt
fich ihre weltverneinende Idee durch ihre eigene Steigerung
in ihr Gegentheil um'. So ,führt die Ueberfpannung
des jenfeitigen mittelalterlichen Culturprincips über fich
felbft hinaus zu entgegengefetzten Beftrebungen'. Das
hierarchifche Syftem zerfetzt fich; die Kirche verliert ihre
Machtftellung an die weltlichen Mächte; die ganze Weltanfchauung
beginnt feit dem 14. Jahrhundert eine andere
zu werden. Und nachdem diefe Neubildungen durch
die Reformation Luther's zufammengefchloffen und ihre
logifche Entwicklung' zum Abfchlufs gebracht worden
ift, nachdem die Werkgerechtigkeit und objective Gläubigkeit
zu Gunften der fubjectiven Innerlichkeit des
Glaubens aufgehoben, die afketifche Sittenlehre der
Kirche überwunden und die einzelnen Gebiete der bürgerlichen
Lebensordnung zu felbftändigen fittlichen Gebieten
ausgewachfen find, führt die Naturwiffenfchaft feit
dem 16. Jahrh. allmählich den Zufammenbruch der trans-
fcendenten Metaphyfik, die auch Luther noch angehaftet,
herbei und hilft den Gegenfatz zwifchen Gott und Welt,
Diesfeits und Jenfeits überwinden. Die Gefchichte der
Menfchheit kehrt in ihrem Schraubenlauf zum Ausgangspunkt
zurück, nur um eine Stufe höher, indem die ehemals
naive ,Einheit von Natur und Geift' nunmehr zur
bewufsten klaren erhoben ift. Ihre ,Selbftbewegung' ift
zum Ziel gelangt. Der Lefer fragt fich nur noch wie
feiner Zeit bei Hegel, was denn die Weltgefchichte künftig
noch zu thun habe, und ob die Langeweile nicht gar zu
grofs werden müffe.

Es berührt faft feltfam, in unferen Tagen noch einmal
ein Gefchichtswerk zu lefen, das eine fo fpäte Nachblüthe
der fonft verfchollenen Gefchichtsconftruction Hegel's darfteilt
, mit feinenAusdrücken, nach feinerMethode arbeitet,
und, wie er, die Fülle des Gewordenen und Werdenden
in ein paar magere Formen giefst. Doch will ich mich
hiebei ebenfowenig aufhalten, wie bei der Conftruction
der Vorgefchichte der von ihm befchriebenen Gröfse.
Der Verf. hat offenbar keine Ahnung von dem aufser-
ordentlich complicirten Charakter diefer Vorgefchichte
des katholifchen Chriftenthums und von der ganzen Fülle
von individuellen wie Maffenwirkungen, die hier zufam-
mengeftrömt find — auch die Auffaffung der Verkündigung
Jefu ift grundverkehrt — und am allerwenigften
in der von ihm verfuchten Weife, fich in der Dreiheit
Judenthum, Griechenthum, Römerthum einfangen laffen.
Schon Harnack's Dogmengefchichte hätte ihm in ihren
einleitenden Paragraphen den Weg zeigen können. Aus