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Ausgabe:

1889 Nr. 13

Spalte:

339-340

Autor/Hrsg.:

Nitzsch, Friedr. Aug. Berth.

Titel/Untertitel:

Lehrbuch der evangelischen Dogmatik. 1. Hälfte 1889

Rezensent:

Schultz, Hermann

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339

Theologifche Literaturzeitung. 1889. Nr. 13.

340

Nitzsch, Prof. Dr. Friedr. Aug. Berth., Lehrbuch der evangelischen
Dogmatik. 1. Hälfte. Freiburg i,'Br., Mohr,
1889. (XII, 211 S. gr. 8.) M. 4. 40.

Die vorliegende erbte Hälfte des Lehrbuchs der Dogmatik
bringt auf 211 Seiten nach den einleitenden Erörterungen
über Aufgabe und Gefchichte der Disciplin
den gröfsten Theil der .dogmatifchen Principienlehre', die
gefchichtliche und fyftematifche Behandlung der Begriffe
Religion, Chriftenthum, Offenbarung, Wunder,
Reich Gottes. Es fehlen noch die Abfchnitte über
Proteftantismus und heilige Schrift. Wir finden überall
die Vorzüge, die bei dem Verf. zu erwarten waren, Genauigkeit
und Sorgfalt, gerechtes Verftändnifs für die
Leiftung der Arbeitsgenoffen, weitherziges wiffenfchaft-
liches und unbefangenes Urtheil. Die Ueberficht über
die verfchiedenen Verbuche, Religion und Offenbarung
zu verliehen, ift fchon durch das Eingehen auf die neueften
Verhandlungen werthvoll. Und auch die eigenen Ergebnilse
, zu denen der Verfaffer kommt, wenn fie auch
nichts wefentlich Neues bieten, find m. A. n. meiftens
befriedigend, obwohl das Beftreben, allen geltend gemachten
Gefichtspunkten gerecht zu werden, hie und da
die Schärfe der Beftimmungen beeinträchtigt. So urtheilt
N. z. B. richtig, dafs die Religion nicht wefentlich aus
einem Drange nach theoretifchem Erkennen hervorgeht,
dafs der moralifche Trieb als folcher nicht der Urfprung
der Religion ift, dafs der äfthetifche Trieb wegen feiner
Gleichgültigkeit gegen die objective Wahrheit des Empfundenen
und feiner Unfähigeit, Willensregungen zu erklären
, nicht mit dem religiöfen zu verwechfeln ift, und
dafs das Gefühl fundamentaler für die Religion ift, als
die andern Seelenfunctionen. Er fafst fie alfo ganz richtig
als ,praktifches Intereffe an der perfönlichen Selbftbe-
hauptung und Befriedigung im Zufammenhange der Welt'
auf. Aber er möchte doch wieder den Trieb nach einheitlichem
Erkennen für die Entftehung der Religion als
bedingend denken, während doch diefer Trieb, wie die
Gefchichte der Religionen zeigt, weder Religion erzeugt,
noch für ihr Zuftandekommen nöthig ift. Und er möchte
der theoretifchen, der ethifchen und der myftifchen Seite
in der Religion felbftändige Bedeutung geben, während
fie doch nur eine abgeleitete haben (vgl. auch S. 186. 7.).

Ich würde es für unangemeffen halten, abweichende
Anflehten gegenüber einem folchen ,Syftem' im Einzelnen
geltend zu machen. Dagegen kann ich nicht umhin, meine
Bedenken gegen die ganze Art der Anlage des Buches,
die gerade diefen erften Theil entfeheidend treffen, zur
Geltung zu bringen. Nicht fowohl was die Ausführlichkeit
diefer erften Abfchnitte betrifft. Der Herr Verf.
hat fie gefühlt und bei dem gegenwärtigen Standpunkte
der theologifchen Controverfe für geboten erachtet.
Darüber zu rechten fcheint mir nicht erfpriefslich. Ich
kann nur wünfehen, dafs Nitzfeh das befondere Charisma
verliehen fein möge, den Reft der Dogmatik annähernd
auf dem gleichen Räume, wie er bisher benutzt ift, befriedigend
entfalten zu können. Aber mein Bedenken
ift anderer Art.

Der Herr Verf. fieht in der Dogmatik die wiffen-
fchaftliche Darlegung und Vertheidigung des evan-
gelifch-chriftlichen Glaubens- oder Bewufstfeinsinhalts in
den Denk- und Ausdrucks-Formen des gegenwärtigen
Zeitalters. Damit fcheint er mir an fich über die wirkliche
Aufgabe hinauszugreifen. Vertheidigt (oder, wie
es S. 6 heifst, nach ihrer wiffenfehaftlichen Denkmög-
keit erwiefen) follen und können doch die einzelnen
chriftlichen Glaubensfätze als folche nicht werden. Sie
find erwiefen, wenn fie fich als nothwendige und in fich
zufammenhängende Entfaltungen des auf biblifcher und
kirchlicher Grundlage ruhenden Glaubensinhalts bewähren.
Dafs der evangelifche kirchliche Glaube dem Glauben
anderer Kirchen gegenüber der rechte chriftliche ift, das
hat die Symbolik oder Polemik zu erweifen, — dafs der

biblifch-chriftliche Glaube vor der Vernunft und der Gefchichte
der Religionen befteht, das aufzuzeigen ift Sache
der Apologetik oder Religionsphilofophie. So fcheint
mir bei Nitzfeh eine Ueberfchätzung der Dogmatik als
der einzigen fyftematifchen Disciplin in der Theologie
vorzuliegen, die ihn auch dazu führt, die Ethik mit der
praktifchen Theologie zufammenzuftellen, während die-
felbe doch das Gefammtgebiet deffen, was die Dogmatik
als Gottesthat erkennt, als fittliche Vorgänge in der
Menfchheit zu befchreiben hat.

Aber felbft nach des Verf.'s Definition gehört doch
von Allem, was feine Principienlehre bietet, in erfter
Linie nur die Erörterung über das Reich Gottes in
Chrifto als Fundamentalfatz des Glaubens, und über
die h. Schrift als entfeheidende Norm für dogmatifche
Ausfagen, — und in zweiter Linie die Frage nach dem
Wefen des Proteftantismus und nach der Dignität der
Symbole zum Stoffe der Dogmatik, oder genauer zur
Verftändigung über die Behandlung ihres eigentlichen
Stoffes, des Glaubensinhalts evangelifcher Chriften. Die
Fragen über Religion, Offenbarung und Wunder find Be-
ftandtheile der Apologetik. Das hat auch der Verf.
gefühlt (S. 45 16.). Aber wenn Schleiermacher das volle
Recht hatte, feiner durchaus neuen Behandlung der
Glaubenslehre folche Lehnfätze vorauszufchicken, fo
mufs dasfelbe einem, Lehrbuche der Dogmatik' entfehieden
abgefprochen, und die Forderung erhoben werden, dafs
man diefe Fragen da erledige, wo fie allein wiffenfehaft-
lich erledigt werden können, in der nach einer ganz
anderen Methode, als der dogmatifchen, verfahrenden Disciplin
der Apologetik.

Diefe Forderung hat keineswegs nur ein encyklo-
pädifches Intereffe. Die Dogmatik hat ihrerfeits von
Offenbarung und Wunder bei ihren Ausfagen über Gottes
Verhältnifs zur Welt und Gefchichte nothwendig zu reden.
Da kann fie, unverwirrt von philofophifchen Fragen, den
wirklich religiöfen und chriftlichen Inhalt diefer Begriffe
entwickeln. Ebenfo gehört die Frage nach der Religion
in die dogmatifchen Ausfagen über die ,Idee des Men-
fchen'. Es kann nur verwirren, wenn diefe Fragen zweimal
, von ganz verfchiedenen Vorausfetzungen aus und
gegenüber ganz andern Gegenfätzen, in demfelben Lehrbuche
behandelt werden. Und es wird fchwerlich vermieden
werden können, bei einem folchen Verfahren, in
der Principienlehre fchon dogmatifche Vorausfetzungen zu
machen, oder in die Glaubensausfagen metaphyfifche Erwägungen
einzufchliefsen.

Aber auch die gefchichtliche Behandlung diefer
Gegenftände leidet unter der gegebenen Anordnung. Die
Dogmatik wird es z. B. in ihrem Intereffe finden, die
verfchiedenen Möglichkeiten der Behandlung des Religionsbegriffs
fyftematifch zu entwickeln und zu beur-
theilen. Im Intereffe des gefchichtlichen Verftändnifses
aber liegt es, die mafsgebenden Umwälzungen in der
Auffaffung der Religion in ihrem Gegenfatze und Zufammenhange
an ihren entfeheidenden Trägern aufzuzeigen
. Dafs wir bei N. Cartefius, Baier, Schleiermacher,
Kahler, A. Dorner, Gloatz und Heman unter einer
Rubrik betrachten follen, oder Hegel und Max Müller,
— dafs wir Nichts von J. G. Fichte, dem für die Religion
bedeutfamften unter allen unferen grofsen Philofophen,
Nichts von feiner Bedeutung für Hegel's Religionsbegriff
erfahren u. dgl., — das ift ja aus dem einmal ge-
fafsten Plane verftändlich und relativ berechtigt, aber es
beweift, dafs diefer Plan für die Behandlung folcher
Fragen nicht der fruchtbarfte ift. — Dafs diefe princi-
piellen Bedenken der Freude an der Leiftung des Verf.'s
keinen Abbruch thun, brauche ich nach dem Gefagten
nicht zu wiederholen.

Göttingen. H. Schultz.