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Ausgabe:

1889 Nr. 13

Spalte:

328-331

Autor/Hrsg.:

Harnack, Adolf

Titel/Untertitel:

Der pseudocyprianische Traktat de aleatoribus 1889

Rezensent:

Jülicher, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1889. Nr. 13.

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Unterzeichnete jederzeit als einen treuen, umfichtigen I
und gewiffenhaften Mitarbeiter, wie als edeln und unantastbaren
theologifchen Charakter geachtet hat.

Das Werk zerfällt in 3 Capitel: Zur Vorbereitung
S. 3—64; Zerlegung der Briefe in ihre urfprünglichen
Beftandtheile S. 65—224; Zeitbestimmungen S. 226—340.

Das erste Capitel nimmt auf die bekannte Erfcheinung
der Ordnungslofigkeit Bezug, welche in den Briefen
herrfcht. Der Verf. fpricht von ,Zufammenftückelung'
(S. 54). Ja mehr als diefes! Selbst der (am besten ge-
fchriebene) zweite Timotheusbrief weift einen handgreiflichen
Widerfpruch zwifchen Zweck und Inhalt auf
(S. 61 f.). In folchem Zickzack vollends wie der erste
Timotheusbrief ,geht fonft kein Brieffchreiber in der Welt,
auch nicht, wenn er auf Unterfchiebung finnt' (S. 57). |
,Sowie unfere Briefe gefchrieben find, fchreibt kein geordneter
Menfch, fobald er für einen bestimmten Zweck
die Feder angeletzt hat'. ,Es ift darum unmöglich, die
feltfame Befchaffenheit unferer Briefe blofs aus ihrer
Unechtheit zu erklären' (S. 55). Mit diefem ersten durch-
fchlagenden Eindruck, welchen der Verf. aus dem Studium
diefer Briefe davongetragen hat, trifft aber ein anderer
zufammen: dafs dieselben nämlich nicht wenige Anfchau-
ungen und Notizen enthalten, welche paulinifch, bezw.
hiftorifch fein müffen (S. 13 f. 20 f.), ja dafs der ganze
Rahmen des Lebens des Apostels, welchen fie erkennbar
werden laffen, wenn er auch über den der Apoftel-
gefchichte hinausgreift, doch kein künstlich gemachter
fein könne (S. 21 f. 44 f.). Daraus ergiebt fich die Ver-
muthung, die Hirtenbriefe möchten urfprünglich nur auf
das Nächstliegende berechnete, apoftolifche Instructionen
gewefen fein; fpäter habe man die Stellung der Adreffaten
als eine bifchöfliche aufgefafst und von diefer Voraus-
fetzung aus den Kreis der in ihnen ertheilten Vorfchriften
erweitert; auf dem Wege mehrfach wiederholter Umarbeitung
und Verletzung mit anderweitigem, bereits für
einen anderen Zweck geformten, Material fei zuletzt eine
Anleitung zur Führung des bifchöflichen Amtes (1 Tim.
3, 15), ein speculum episcoporum daraus geworden (S. 6
f. 15. 17 f. 55).

Das zweite Capitel ift am meiden methodifch angelegt
. Die drei Briefe werden Stück für Stück analyfirt
und auf ihren compilatorifchen Charakter hin geprüft.
Die Refultate, zu welchen der Verf. gelangt, find folgende.
Dem erften Timotheusbriefe liegt der fog. Beftallungs-
brief zu Grunde, demzufolge der Apoftel Paulus feinem
Schüler Timotheus nicht den Titel, aber doch die Rechte
und Pflichten eines Bifchofs von Ephefus überträgt
(uaoayyeXia 1, 18 foll heifsen Verordnungsrecht, Ober-
aufficht S. 5. 24. 47. 78 f. 82 f. u. f. w.) und ihn anweift,
dem Fortfehritte der Ketzerei dadurch entgegenzutreten,
dafs er feinen Untergebenen den Befuch und das Hören
fremder Lehrer verbietet (in der Hauptfache 1, 1—10.
18—20. 4, 1—16. 6, 3—16. 20. 21). Aber diefes Schreiben
ift durch Einbehaltung einer Anzahl unter fich in
keinem formellen Zufammenhang flehender Partien, der
f. g. Einfatzftücke, erweitert worden, welche die bifchöfliche
Amtsthätigkeit in der Gemeinde betreffen. Während
fonach diefem Briefe die Beziehung auf die Häretiker
von Haus aus eignet, ift diefelbe in den Titusbrief erft
nachträglich eingeführt, nämlich durch die Erweiterungen
, womit hier ein Schreiben ausgestattet worden
ift, in welchem Paulus nach feinem Weggange von Kreta
feinen dort zurückgelaffenen Schüler Titus mit der Vollendung
eines fchon von ihm felbft begonnenen Werkes,
der Bestellung von Presbytern in den, auf der Infel
neugegründeten, Gemeinden beauftragt hat (in der
Hauptfache 1, 1. 2. 4. 5. 6. 12. 16. 3, 1—6. 12. 13. 15).
Unter den Einfatzftücken befitzt nur Cap. 2 felbftän-
digen Gehalt und Charakter. Der zweite Timotheusbrief
endlich ift durch Zufammenarbeitung zweier Briefe
entftanden, die fich freilich gegenfeitig ftofsen, infofern
der, den wefentlichen Beftandtheil des Ganzen aus-

; machende, Theil, der f. g. Ermunterungsbrief (in der
Hauptfache 1, 1 — 3. 5—10. 2, 1. 3—8, 14—3, 8. 14—4, 5),
den limotheus zu einer weiteren Wirkfamkeit in
Ephefus, und zwar zu muthiger Bekämpfung der Häretiker
antreibt, der andere aber, das f. g. Abberufungsfehreiben
(1, 4. 16. 17. 4, 9—22), ihn nach Rom entbietet.
Gerade eine Stelle, auf die noch Lemme pochte, 4, 6—8,
wird richtig als unpaulinifch erwiefen und foll nur den
Uebergang von einem Beftandtheil zum andern bahnen.
— Eine derartige Entftehungsweife unferer Briefe hätte
allerdings ihre Analogien, wiewohl der Verfaffer auf diefe
Seite an der Sache nicht befonders hinweift. Seine Argumentation
befteht meift in Zergliederung des Zufammen-
hangs, bezw. im Nachweife, dafs keiner vorhanden ift,
j dafs Spalte klaffen, welche durch Conjunctionen nur
nothdürftig überbrückt werden, Nachfätze von ihren
Vorderfätzen durch Einfchiebungen getrennt find u. dgL,
wobei felbftverftändlich das exegetifche Gefchmacks-
urtheil in erfter Linie beteiligt ift.

Das dritte Capitel bringt zunächft die Herausfchä-
lung des paulinifchen Eigenthums. Hier bleibt es bezüglich
des erften Timotheusbriefes bei der allgemeinen
Möglichkeit, dafs fchon Paulus feinem Schüler eine
nctQayytkiu in obigem Sinne übertragen habe (S. 229 f.),
die fich dann aber freilich nicht auf marcionitifche und
valentinianifche Gnofis bezogen haben kann, wie folche
in unferen Briefen bekämpft wird (S. 266 f.). Der
oben namhaft gemachte Kern des Titusbriefes weift
zwar jetzt vielfach unpaulinifches Sprachcolorit auf, beruht
aber auf einem wirklichen Schreiben des Apoftels, das
er auf dem Wege von Kreta nach Nikopolis abgefafst
hat (S. 229 f.). Ganz als echt erweift fich endlich das
f. g. Abberufungsfchreiben (S. 239 f.), welches der Apoftel
in feiner zweiten Gefangenfchaft erlaffen hat. Eine folche
wird nämlich angenommen (S. 25 f. 244 f.), und zwar
wunderbarerWeife nicht etwa aufGrund des Clemens-Briefes
und des Muratorifchen Kanons (die Reife nach Spanien ift
vielmehr unhiftorifch, S. 255), fondern auf Grund der
,morgenländifchen Berichte', d. h 2. Tim. 4, 16—18 und
des Eufebius (S. 250 f.); denn ,nichts kann gewaltfamer
fein' (S. 251), als die Annahme, die Nachricht des
Kirchenvaters beruhe auf feiner Zurechtlegung jener
Stelle, und das Zeugnifs der letzteren gilt trotz Joh. 5, 31.
Den fpäteren Zeithintergrund der jetzigen Briefe fichern
indeffen nicht blofs die durchgängige Beziehung auf die
Gnofis (S. 258 f. 295), fondern ebenfofehr auch die erkennbar
werdenden Gemeinde- und Verfaffungsverhält-
nifse (vgl. S. 297 f.), welche unferen Briefen ihre ge-
fchichtliche Stellung gerade noch vor der ignatianifchen
Literatur anweifen (S. 324. 338).

Strafsburg i. E. Holtzmann.

Harnack, Adolf, Der pseudoeyprianische Tractat de aleatori-
bus, die ältefte lateinifche chriftliche Schrift, ein Werk
des römifchen Bifchofs Victor I. (saec. II.). [Texte u.
Unterfuchungen zur Gefchichte der altchriftl. Literatur
von Ose. von Gebhardt u. Adf. Harnack, 5. Bd. 1. Hft]
Leipzig, Hinrichs, 1888. (V, 135 S. gr. 8.) M. 4. 50.

Wenn Harnack weiter nichts gefchrieben hätte, als
diefe literargefchichtliche Abhandlung über eine bisher
fall unbeachtet gebliebene, irrthümlich unter Cyprian's
Werken mitgehende Schrift, er hätte fich hinreichend als
Meifter hiftorifcher Forfchung erwiefen. Denn in fchöne-
rem Ebenmafs als hier können umfaffende Sachkenntnifs,
eindringender Scharffinn, glückliche Combinationskraft
und vorfichtige Befonnenhcit, zu denen noch fchlichte
Klarheit der Darfteilung fich gefeilt, gar nicht verbunden
auftreten. Das Intereffe, welches der Verf. dem Lefer
gleich zu Anfang für feinen Gegenftand abgewinnt, wächft
fortwährend bis zu förmlicher Spannung — und der
Schliffs ift der Höhepunkt; wie in einem guten Schaufpiel