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Ausgabe:

1889 Nr. 12

Spalte:

303-306

Autor/Hrsg.:

Chavannes, C. G.

Titel/Untertitel:

La religion dans la Bible 1889

Rezensent:

Baethgen, Friedrich

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303 Theologifche Literaturzeitung. 1889. Nr. 12. 304

Aeufserlichkeiten fällt und viel Ballaft geladen wird, der
mit der Auslegung des prophetifchen Buches gar nichts
zu thun hat. Dazu trägt befonders viel bei die etymo-
logifirende Methode des Verf.'s, das Wurzelgraben in der
Weife vergangener Zeit. Was foll z. B. zu dem ISTKH
in I, 2 die Anmerkung, dafs D^lTXft die Wage von
einer anderen Bedeutung der Wurzel yat komme, was
zu dem IS^pil in 1, 5 die Ausführungen über ysp und yp,
und eine grofse Menge ähnlicher Anmerkungen? Uebrigens
ift die Arbeit durchweg fleifsig und tüchtig.

Des Herausgebers Zuthaten fcheinen fich auf gelegentliche
mit ,A. J. B.' bezeichnete Anmerkungen und
eine reichhaltige, wenn auch nicht vollftändige Bibliographie
für das 19. Jahrh. zu befchränken. Inhaltsangaben
find in der letzteren etwas willkürlich hie und
da gegeben, aber die ausführlichfte zu Merx' Commentar
läfst feltfamer Weife die Hauptfache, einen Bericht über
des Verf.s' Krgebnifse für Entftehung und Auslegung des
Buches, ganz vermiffen. Der Avant-propos dürfte be-
ftimmtere Auskunft über die Geftalt des vorgefundenen
Manufcriptes geben, wie denn die Forderung diploma-
tifch genauer, eine fcharfe Controle ermöglichender Herausgabe
pofthumer Schriften feiten ganz erfüllt wird.
Die Correctur ift gut.

Der prachtvolle Druck mit breitem Rande auf dem
ftärkften Büttenpapier wäre eines gewichtigeren Inhalts
würdig, mag aber der Pietät gegen den Verdorbenen
Ausdruck geben und ermöglicht jedenfalls dem franzö-
fifchen Studirenden, das Buch als Handexemplar für die
genauede Durcharbeitung mit der Feder zu benutzen.

Strafsburg i/E. K. Budde.

Chavannes, C. G., La religion dans la Bible. Etüde cri-
tique de la maniere dont la religion est pröchee et
defendue dans les divers ecrits bibliques. Vol. I.
L'ancien testament. Leiden, Brill, 1889. (XIX, 424
S. gr. 8.) M. 4. 75.

Dies Buch enthält Gedanken und Refultate der
holländifchen alttedamentlichen Schule in franzöfifcher
Form. Doch kömmt der Vorzug des franzöfifchen Stils,
Klarheit und Durchfichtigkeit, in dem Titel nicht zur
Geltung. Man erwartet nach demfelben etwas wie bib-
lifche Theologie, denn nach allgemein angenommenem
Sprachgebrauch id dies die Disciplin, welche die in der
Bibel enthaltene und gepredigte Religion darzudellen
hat. Allein der Verfaffer verwahrt fich ausdrücklich
dagegen, dafs man in feinem Buche bibliche Theologie
fuche, nur von Religion folle es handeln. Theologie
nämlich fei das, was man über die Gottheit denkt,
Religion aber die Beziehung, in welche der Menfch
zur Gottheit tritt, und dasjenige, was er fich deshalb
zu thun oder zu vermeiden verpfiichtet glaubt. ,Man
kann fehr aufrichtig an die Exidenz eines einzigen, erhabenen
, geidigen, gerechten, guten, weifen Gottes
glauben, und dennoch keine Religion haben; dies id der
Fall, wenn man in moralifcher Beziehung im Guten wie
im Schlechten derfelbe id mit diefem Glauben, wie man
es ohne denfelben fein würde'. ,Die ideale Religion,
die wahre Religion ... id das, was das vierte Evangelium
die Verehrung Gottes im Geide und in der Wahrheit
nennt, die Liebe zu dem moralifch-heiligen Gotte, welcher
uns zu der moralifchen Heiligkeit beruft. Ich nenne
gut Alles, was in diefer Richtung geht, felbd ohne dafs
man ein deutliches Bewufstfein davon hat; alles Uebrige
nenne ich falfch und fchlecht, mit welchem pomphaften
religiöfen Schein es auch umgeben fei'. Ein anderes
Mal heifst es noch: ,Die wahre Religion bedeht darin,
die Tugend zu üben in einer tiefen Ehrfurcht vor dem
Allmächtigen'.

Der Verfaffer geht nun das ganze alte Tedament durch,
um zu unterfuchen, wie weit die einzelnen Schriftdeller

die Religion in dem Sinne, wie er das Wort verdeht,
enthalten und predigen. Das 1. Capitel, an Umfang den
übrigen vier zufammen genommen gleichkommend, behandelt
die Propheten. Joel deht an der Spitze, obgleich
Chavannes mit den ,beden' Kritikern der Anficht id,
dafs er erd in nachexilifcher Zeit anzufetzen id. Aber
Joel's Programm id gewiffermafsen eine Zufammen-
faffung derjenigen Punkte, welche bei den übrigen
Propheten weiter entwickelt vorliegen; er giebt ein
Relume von der Predigt der Uebrigen. Jenes Programm
bedeht in der Forderung der Hingabe an den
Gott Ifraels. Je mehr ein Prophet diefe Hingabe
als eine moralifche auffafst, dedo religiöfer id er; diejenigen
, welche der Cultus eben fo fehr befchäftigt wie
die Uebung der Tugend, entfprechen am wenigden den
Forderungen der Religiofität. Die Idee der moralifchen
Heiligkeit id die grofse Neuerung der Propheten — ihnen
felbd freilich id es, wie Chavannes anerkennt, abfolut
unbekannt, dafs fie hiermit eine Neuerung vertreten —
und nur um des Prophetismus willen zählt Ifrael in der
Religionsgefchichte der Menfchheit.

Der Werth der prophetifchen Gefchichtsbücher dagegen
, welche im 2. Capitel behandelt werden, wird
von Chavannes fehr gering angefchlagen. Der Verfaffer
des Richterbuchs id in feiner Vertheidigung der Religion
unglücklicherweife ausfchliefslich von dem Dogma voreingenommen
(preoccupe), welches jeden andern Cultus
als denjahve's verdammt; in feinem ganzen Werk findet
fich keine Spur von einem Anzeichen davon, dafs er
die Wichtigkeit der moralifchen Seite in der prophetifchen
Predigt empfunden hat. In den Samuelisbüchern bleibt
aufser der Selbdvertheidigung Samuel's (I 12, 3) und
den Vorwürfen Nathan's an David auch gar nichts, was
ahnen liefse, dafs Jahve der heilige Gott in moralifchem
Sinne id. Sie find z. Th. das Gegentheil von erbaulich,
denn der Segen Gottes id in diefen Büchern durchgängig
unabhängig vom moralifchen Charakter. Von
David weifs der Verfaffer der Samuelisbücher, wo er
ihn das erde Mal feinen Lefern vordellt, weiter Nichts
zu fagen, als dafs er blond war, fchöne Augen und eine
fchöne Figur hatte; dann erfährt man, dafs er ein guter
Mufiker war. ,Freilich vertraut er fich feinem Gott an,
damit diefer ihm den Sieg über Goliath gebe; aber das
id eine Form der Frömmigkeit, welche fich in Nichts über
das Heidenthum erhebt und welche nichts Grofscs oder
Reines im Charakter involvirt. Es giebt genug Leute,
welche fich Gott in ihren Unternehmungen anvertrauen,
und bei denen dies fehr bedauerlich id'.

Chavannes hat keine hohe Meinung von der Vertheidigung
der Religion, welche im 17. Capitel des 2.
Königsbuches vorgetragen id, weil nur die Verletzung
der Cultuspflichten getadelt wird. Dafs die Ifraeliten
fich verkauft haben, das zu thun, was böfe id in den
Augen Jahve's, um ihn zu erzürnen, will nur fagen, dafs
fie fremden Göttern gedient haben, ihre Söhne und
Töchter haben durch das Feuer gehen laffen und fich
der Weisfagung und Zauberei hingegeben haben. Von
dem moralifchen Gehalt der Predigt der grofsen Propheten
und des Deuteronomiums bleibt direct gar nichts.
Diefe Bücher haben freilich mächtig dazu beigetragen,
den Polytheismus zu tödten, aber zugleich auch dem
Legalismus die Wege zu bahnen, in welchem die Juden
moralifch erdorben find. ,Diefe Bücher haben dazu beigetragen
, dafs Jefus getödtet wurde'.

Das 3. Capitel behandelt den Hexateuch. Der in-
tereffanteite Abfchnitt id hier die Kritik des Dekalogs.
Derfelbe id frühdens im 9. Jahrhundert entllanden,
wahrfcheinlich aber noch fpäter. Chavannes erkennt ihn
als das Juwel des Pentateuchs an, aber die Chriden haben
ihm einen abfeheulichen Diend erwiefen, indem fie ihn
für die göttliche und ewige Zufammenfaffung der Moral
ausgaben. Die moralifchen Pflichten dehen in ihm hinter
den rituellen, felbd hinter dem Sabbatgefetz. Dies letztere