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Ausgabe:

1889 Nr. 1

Spalte:

8-9

Autor/Hrsg.:

Schnedermann, Georg

Titel/Untertitel:

Von dem Bestande unserer Gemeinschaft mit Gott durch Jesum Christum 1889

Rezensent:

Kaftan, Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1S89. Nr. 1.

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Verfaffer defselben ein Schwiegerfohn und Amtsgenoffe
von Thierfch id. Erfleres hat die Wirkung gehabt, dafs
die Lichtfeiten im Charakter und Leben von Thierfch
einfeitig hervortreten, die Schattenfeiten dagegen, wie
der Verf. in der Vorrede felbfl bemerkt, nicht fcharf genug
gezeichnet find. Niemand wird mit ihm darüber
rechten. Wo die kindliche Pietät den Griffel führt, ift
ein folches Verfäumnifs von vornherein entfchuldigt.
Nicht fo leicht vermögen wir das Andere zu nehmen,
dafs die Stellung des Verf.'s in der fogenannten ,apo-
ftolifchen' Gemeinde ihn verleitet hat, das Buch zu benutzen
, um Stimmung für diefe zu machen. Dafs ein
Mann wie Thierfch fich diefer Secte zugewandt, war
ihren Anhängern in Beutfchland, wenn fie fich an gebildete
Kreife wandten, bei feinen Lebzeiten Aushänge-
fchild und Deckung. Dem entfpricht das Verfahren des
Biographen. Und zwar in erheblicherem Mafs, als es
für einen Mann diefer Richtung eine begreifliche fubjec-
tive Nothwendigkeit gewefen fein mag. Alles Gute in den
Schriften von Thierfch wird auf feine Zugehörigkeit zu
jener Gemeinde zurückgeführt. Bei jeder Gelegenheit
wird daran erinnert. Ja, der Verf. giebt uns auf S. 280
bis 294 aus einem eigenen früheren Schriftchen ausführlicheren
Bericht über den Urfprung und das Wefen der
Gemeinde. Durch alles dies wird der Werth des Buches
fehr beeinträchtigt. Eine Biographie von Thierfch könnte
einen werthvollen Beitrag zur Gefchichte der Kirche und
Theologie in unferem Jahrhundert enthalten. Trotz des
befonderen Wegs, den er gegangen, hat er doch
innere Fühlung mit Motiven und Gedanken gehabt, die
für weite Kreife mafsgebend gewefen find. Pietifli-
fche Gläubigkeit und der Eigenfinn des echten Romantikers
waren in ihm vereinigt und fanden in ihm durch
feine feltene geiftige Begabung und die Tüchtigkeit und
Unabhängigkeit seines Charakters einen bedeutenden
Ausdruck. Ein Biograph, der ihn zu würdigen und zu
charakterifiren wüfste, wie er war, könnte an ihm eine
Epoche der jüngften Vergangenheit unferer Kirche ver-
ftändlich machen. Davon ift in der vorliegenden Biographie
keine Rede. Sie ift das Werk des Sohnes, der
mit Verehrung und Bewunderung zu dem von ihm Ge-
fchilderten aufblickt: das ift ihr befferes Theil. Sie ift
das Werk des Sectenmannes, der gern Propaganda
machen möchte: infoweit wird fie langweilig und weniger
anziehend.

Einen Punkt erörtert der Verf. öfter, nämlich die bisweilen
geäufserte Meinung, Thierfch habe fich bei feinem
Standpunkt als Irvingianer auf die Dauer nicht wohl gefühlt
und defshalb eine grofse Zurückhaltung in der Vertretung
defselben feinen anders gefinnten perfönlichen
Bekannten gegenüber beobachtet. Natürlich wird diefe
Meinung eifrig zurückgewiefen. Sollte aber hier ein volles
Ja oder Nein am Platze fein? Ich habe f. Z. von den
in Bafel gehaltenen Vorträgen, die öfter erwähnt werden,
denjenigen gehört, in welchem Thierfch die Entftehung
der ,apoftol. Gemeinde' in England und Schottland erzählte
. Er hat mir einen tiefen Eindruck gemacht. Einen
Mann wie Thierfch, den ich verehrte und liebte — er
hat erft fpäter um meiner theologifchen Ueberzeugungen
willen jede Beziehung zu mir in der fchroffften Weife
abgebrochen — eine folche Gefchichte in der Form erzählen
zu hören, dafs diefe ganz gewöhnliche Sectenge-
fchichte als eine Wirkung des heiligen Geiftes bezeichnet
wurde, das war mir eine wunderbare Erfahrung.
Und nichts war mir beim Hören unmittelbar gewiffer,
als dafs es dem Erzähler felbft nicht wohl dabei war,
dafs er feinen Zuhörern gegenüber doch eine leife Anwandlung
von Scham hatte. Trotzdem bezweifle ich
nicht, dafs er bis zuletzt ein eifriger und überzeugter Anhänger
feiner Gemeinde geblieben ift. Der Menfch ift
eben keine einfache Gröfse, der kleine Zufatz von Bedenken
gegen die vertretene Sache macht den Vertreter
derfelben in der Regel nur um fo eifriger, bisweilen übt

er trotzdem Einflufs aus, wenn nicht auf das, was, fo
doch auf die Art, wie es gegeben wird. Die auch vom
Verfaffer nicht beftrittene Thatfache, dafs Thierfch
im Verkehr mit anderen Chriftenmenfchen feinen Irvin-
gianismus völlig bei Seite liefs, fo dafs man auch durch
nichts daran erinnert wurde, dürfte immerhin etwas Aehn-
liches bezeugen. Sagen wir: weil es ihm mit feiner Sache
Ernft war, mochte er fich nicht in die Lage bringen, gegen
feinen eigenen Willen etwas wie Scham bei ihrer Vertretung
zu empfinden. Und wenn es fo war, gereicht
es ihm in keiner Weife zur Unehre. Ueberhaupt wird
jeder, der diefen Lebensweg betrachtet, fo viel Bedauern
er über die fchiefe Richtung defselben empfinden mag,
doch vor der rückhaltslofen Wahrheitsliebe des Mannes,
die ihn alle Confequenzen ziehen, Amt und Brod um
der, wenn auch vermeintlichen Wahrheit willen verladen
liefs, allen Refpect haben. Und jeder, der ihn gekannt,
weifs, welch eine anziehende Perfönlichkeit er war, wie
belebend und erfrifchend der Umgang mit ihm wirkte.

Berlin. J. Kaftan.

Schnedermann, Doc. Lic. Dr. Georg, Von dem Bestände
unserer Gemeinschaft mit Gott durch Jesum Christum.

Kurzgefafster Verfuch einer neuen Darfteilung der
evangelifchen Glaubenslehre. Leipzig, Hinrichs, 1888.
(XI, 229 S. gr. 8.) M. 5.—

Aus dem Bedürfnifs des Verfaffers, feine dogmati-
fchen Vorlefungen vom Dictat zu entladen, id diefes
Werkchen hervorgegangen. Dasfelbe enthält daher in
durchgearbeiteter und etwas erweiterter Form die Paragraphen
, die er bisher zu dictiren pflegte. Er legt fie
zugleich dem weiteren theologifchen Publicum vor, um
in kurzgefafster Weife den Gefichtspunkt des chrifllichen
! Bewufstfeins als des leitenden Erkenntnifsmittels am
Ganzen des dogmatifchen Lehrdoffs durchzuführen und
fo für das gute Recht desfelben einzutreten. Dem entfpricht
die Ausführung, fofern der erwähnte Gefichtspunkt
überall vorangedellt wird, Schrift und Kirche nicht felb-
dändig, .fondern nur im Zufammenhang der fubjectiv bedingten
Erörterung zu Worte kommen. Die Reihenfolge
der Lehrdücke ift im grofsen und ganzen die übliche,
die fich ja auch aus der Sache ergiebt. Nur darin weicht
der Verf. ab, dafs er dem Beifpiel Schleiermacher's folgend
die Trinitätslehre an den Schlufs des Ganzen dellt.

M. E. hätte der Verf. beffer gethan, fich vorerd auf
den nächden Zweck des Drucks zu befchränken und feine
Arbeit erd nach längerem Ausreifen dem gröfseren Publicum
vorzulegen. So wie fie jetzt lautet, dient fie keinem
erkennbaren Zweck. Etwas neues, was die Erkenntnifs
anregen und fördern könnte, wird im einzelnen nicht geboten
. Und wenn der Verf. meint, die durchgängige
Anwendbarkeit eines naheliegenden Gefichtspunktes' neu
aufgezeigt und in in diefem Sinne eine Monographie geliefert
zu haben, fo id das doch wohl eine Selbfltäufchung.
Was er giebt, id von denen, die er als feine Lehrer dankbar
rühmt, fchon früher gegeben worden, nur eben überlegt
und bedimmt, während feine eignen Ausführungen
vielfach unbedimmt und verfchwommen bleiben. Die
Mängel der von ihm befolgten Methode treten daher
auch in feinem Buch befonders deutlich hervor. Andatt
den biblifchen Stoff methodifch zu entwickeln und die
Kirchenlehre nach ihren inneren Motiven zum Verdänd-
nifs zu bringen (was fehr wohl auch in kurzgefafster
thetifcher Weife gefchchen kann), verflicht er beides nach
Bedürfnifs und willkürlicher Auswahl in feine vom chrifllichen
Bewufstfein ausgehende Dardellung. Was aber
diefer fubjective Gefichtspunkt verlangt, wenn er berechtigt
fein foll, dafs nämlich der innere und nothwendige
Zufammenhang der chrifllichen Wahrheitserkenntnifs mit
der perfönlichen Frömmigkeit des Chriden aufgewiefen
werde, wird andrerfeits überhaupt nicht oder nur in der