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Ausgabe:

1889

Spalte:

241-242

Autor/Hrsg.:

Nitzsch, Karl Immanuel

Titel/Untertitel:

Neue Predigten, aus seinem Nachlass gesammelt und zur Feier des 100jährigen Gedenktages seiner Geburt hrsg 1889

Rezensent:

Meyer, Ernst Julius

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Theologifchc Literaturzeitung. 1889. Nr. 9.

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die vornehmlichften Unterfcheidungslehren lieh eine
Verftändigung werde erzielen laffen. Es find irenifche
und darum wohlthuende Gedanken, die von dem ehrwürdigen
Manne an diefer Stelle kundgegeben werden.
Können wir uns auch nicht mit allem, namentlich nicht
mit dem, was über Bekehrung und Rechtfertigung gefagt
wird, einverftanden erklären, fo ftimmen wir defto freudiger
und von ganzem Herzen ein in den ergreifenden,
ebenfo chriftlichen, als patriotifchen Schlufs des letzten
Vortrages, der da lautet: ,Wir Deutfche haben ernfte
und freudig erhebende Tage durchlebt — Tage des Sieges
und der endlich erreichten nationalen Eintracht, und ich
vertraue, dafs unfer Volk ftark und fittlich genug bleiben
werde, um fich auf der Höhe der Stellung zu behaupten,
welche die göttliche Vorfehung ihm angewiefen hat.
Aber diefe Tage des Triumphes über unfere Eeinde
haben um hohen Preis, mit fchweren Opfern erkauft
werden müffen. um den Preis von Blutftrömen und koft-
barem Menfchenleben. Hier, auf dem Gebiete der Religion
und im Ringen nach dem religiöfen Frieden, winkt
dem deutfehen Volke noch eine fchönere Krone, ein
unblutiger Sieg — fchwerer freilich zu erringen als jener
über Frankreich, denn er müfste vor allem über uns
felbft, unfere Trägheit, unferen Hochmuth und Eigennutz,
und unfere bequemen und fchmeichelnden Vorurteile
erfochten werden. Wenn wir aber in diefen Streit ziehen
wollen, dann thun wir es unter der Führung eines Feldherrn
, deffen Namen auch dem Zaghafteften Muth ein-
zuflöfsen vermag. Es ift der, von welchem alle gute
Gabe kommt, der, deffen Wort noch nicht erfüllt ift
und doch noch erfüllt werden mufs, — das Wort: „es
wird ein Hirte und eine Heerde werden." (S. 139. 140).

Krefeld. F. R. Fay.

Nitzsch. Karl Imman.. Neue Predigten, aus feinem Nach-
lafs gefammelt und zur Feier des l<X>jährigen Gedenktages
feiner Geburt hrsg. Gotha, F. A. Perthes,
1887. (VII, 114 S. gr. 8.) M. 2. —

Der Herausgeber hat mit diefer Sammlung aus dem
Nachlafs feines unvergefslichen Vaters die homiletifche
Literatur um eine werthvolle und intereffante Gabe
bereichert, die in hohem Grade charakteriftifch ift
ebenfo für den inneren Gang des grofsen Theologen
und des nicht minder, was lange nicht genug anerkannt
ift, bedeutenden, die Schleiermacher'fche Schule auf der
Kanzel in eigenthümlicher Weife repräfentirenden Predigers
, als für die Gefchichte der neueren Theologie und
fpeciell für die Entwicklung der evangelifchen Predigt
in diefem Jahrhundert. Die ausgewählten geiltlichen
Reden flammen aus der Wittenberger und aus der Berliner
Zeit Nitzfch's; aus jener werden eine Beichtrede
■ bei einer militärifchen Abendmahlsfeier) und drei Predigten
, aus diefer fünf Predigten, aus beiden Perioden
meift Feftpredigten, dargeboten. Der frühere und der
fpätere Nitzfeh, der noch in der theologifchen Gährung
und im Ringen des Alten und des Neuen begriffene jugendliche
Homilet und der ausgereifte Homilet auf der
Höhe feiner theologifchen Entwicklung treten uns hier
in höchft charakteriftifcher Weife entgegen, und es gewährt
einen eigenthümlichen Reiz, diefes Stück compa-
rativer Homiletik an einer und derfclben Perfönlichkeit
zu verfolgen. In den Wittenberger Predigten arbeitet
lieh das chriftliche gläubige Bewufstfein noch durch die
Eierfchalen des Rationalismus hindurch, der ftellenweife,
befonders wo es lieh um das Verftändnifs des Werkes
Chrifti, feines Leidens und feines Todes handelt, noch
ziemlich ftark hervortritt und namentlich in den Feftpredigten
abfehwächend wirkt. Dem entfprechend ift
auch der Ton in jenen Predigten mehr oder weniger
der Ton der Abhandlung, der doctrinären Entwicklung
, und die Sprache bewegt fich vielfach in der ratio-

naliftifchen Terminologie. Auch tritt in jenen Predigten
der Text gegen die fpätere Periode wefentlich zurück
und wird auf die Auslegung und Anwendung desfelben
nicht die eingehende Sorgfalt verwendet, die wir fonft
an dem homiletifchen Meifter gewohnt find, als welcher
er auch in diefem Heft in den Berliner Predigten fich
documentirt. Das find Predigten aus dem Vollen, das
löfende Wort für die chriftlichen Probleme ift in ihnen
auch für die Kanzel gefunden, die Fülle und Tiefe der
chriftlichen Wahrheit bezeugt fich mit voller Sicherheit
in gedankenreicher, aus energifcher Meditation hervorgegangener
, dialektifch entwickelnder und doch kraftvoll
bewegender, fittlich wirkfamer Rede, in der fich die
| feltene Reinheit und Harmonie der geweihten Perfönlich-
I keit eines Nitzfeh überaus wohlthuend abfpiegelt. Wahr-
j haft ergreifend wirken insbesondere die Stellen, in welchen
die ruhige Gedankenentwicklung von der Plerophorie
feftlich gehobener Stimmung und von dem freudigen
Ausdruck perfönlichen Glaubenszeugnifses unterbrochen
wird.

So wefentlich der Untcrfchied zwifchen den beiden
Predigtperioden Nitzfch's ift, fo ift doch der innere Zu-
fammenhang zwifchen beiden nicht zu verkennen und
ift es das Gepräge derfelben Perfönlichkeit, das beiden
aufgedrückt ift. Die Sinnigkeit und Innigkeit theolo-
gifcher Meditation; die Weite des geiftigen Horizonts,
von dem aus N. die chriftlichen Anfchauungen betrachtet
und fie mit der aufserchriftlichen Gedankenwelt in Ver-

! bindung bringt; die Gabe, die er in befonderem Mafse
befitzt, die dogmatifchen Begriffe nach ihrer ethifchen
Bedeutung zu entwickeln und fruchtbar zu machen; die
Feinheit, mit der er verfteht, auch verborgene Beziehungen
des Textes herauszuftellen und die Sicherheit dia-
lektifcher Gedankenbewegung; die völlige Unterordnung
der eigenen Perfönlichkeit des Redners unter die Wahrheit
, die er verkündet, zeigen fich in den Predigten
aus beiden Perioden, hier noch im Werden, dort in
ausgereifter Geftalt. Theologen, namentlich jüngeren,
kann das gründliche Studium diefer Predigten nur dringend
empfohlen werden; fie können viel an ihnen lernen,
namentlich an der Arbeit und Zucht der Gedanken, die
den Nitzfch'fchen Predigten in fo hohem Grade eigen-
thümlich ift und die der modernen Gefühls- und Phan-
tafiepredigt mit ihren Virtuofenkunften nur zu fehr fehlt.
Der Herausgeber würde fich den Dank Vieler verdienen,
wenn er diefer Veröffentlichung noch weitere folgen laffen

' würde.

Dresden. Meier.

Müllensiefen, Dr. J., Tägliche Andachten zur häuslichen
Erbauung. 14. vollftändig durchgefehene und um 8
Beichtbetrachtungen verm. Aufl. 2 Tille, in 1 Bd.
Halle, Strien, 1889. (XX, 343 u. VII, 352 S. Lex.- 8.)
Mk. 6. —

Die neue Auflage der bekannten und weitverbreiteten
Müllenfiefen'fchen Andachten — die 14. bereits! — weift
zwar in manchen Einzelheiten vielerlei zum Theil mehr
redactionelle Veränderungen auf; im Wefentlichen aber
ift dem Buche fein bisheriger Charakter unverändert bewahrt
geblieben. Ein Volksbuch ift es auch in feiner
jetzigen Geftalt nicht geworden; der Verf. erklärt felber
im Vorwort, dafs er den Aufforderungen, eine volkstümlichere
Sprache anzuwenden, nicht habe nachkommen
können, da er dann ein völlig neues Buch hätte
; fchreiben müffen. Die Andachten fetzen gebildete Lefer
voraus und wenden fich vielfach an folche, die noch
fuchen; fie eignen fich daher weniger zum Gebrauch
für einen gröfseren Familienkreis als zur Privaterbauung
der Einzelnen. Pur diefen Zweck wird man in der modernen
Erbauungsliteratur nicht leicht ein Andachtsbuch
finden, das an Wärme und Innigkeit wie an Vielfeitig-