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Ausgabe:

1888 Nr. 7

Spalte:

160-167

Titel/Untertitel:

Kirchengeschichtliche Studien. Hermann Reuter zum 70. Geburtstag gewidmet 1888

Rezensent:

Bornemann, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 7.

innerlichere, ethifche einer Repräfentation der neuen
Menfchheit in Chrifto, ihrem Haupte, ein Gedanke, welcher
(ich zum Begriff der religiöfen Lebensgemeinfchaft des
Gläubigen mit dem Herrn vertieft. Ich mufs es mir Verlagen
, im Einzelnen zu zeigen, wie Sabatier, auf Grund
der von ihm verfuchten Löfung der Frage nach dem
Urfprunge der Sünde, den Nachweis führt, dafs die
ethifch-religiöfe Faffung der Erlöfungslehre allein dem
eigentlichen Kern der paulinifchen Gedankenwelt gerecht
wird und daher auch der oben gegebenen Deutung feiner
Hamartiologie vollkommen entfpricht: auf der einen Seite,
Unvermögen der aüoS, den göttlichen Willen zu vollbringen
, Herrfchaft des den pfychifch-farkifchen Menfchen
nothwendig zum Sünder conftituirenden Gefetzes, Ver-
dammungsurtheil über die der Sünde verfallene Menfchheit
; auf der anderen Seite Ertödtung der ffapf, an deren
Stelle das fchöpferifche Princip des fivevfia getreten ift,
Abrogation der Gefetzesökonomie, Aufhebung des y,axü-
zo//ia, welche gerade dadurch erfolgt, dafs der Sünder
in und mit Chrifto ftirbt. — Was von dem Individuum
gilt, das bewährt (ich an dem Leben der Menfchheit; die
religiöfe Fhilofophie der Gefchichte beftätigt die
Lehre von dem im Subject fich vollziehenden Heil. Die
Gal. 4, 1 —11 fkizzirte, im Römerbrief weiter ausgeführte
teleologifche Betrachtung derEntwickelung des Menfchen-
gefchlechtes ift die Anwendung der anthropologifchen
und foteriologifchen Grundfätze des Apoftels auf das
Gefammtleben der Menfchheit in ihrem natürlichen Zu-
ftande der Unmündigkeit und Gefetzesknechtfchaft, wie
in ihrem durch Chriftus vermittelten Verhältnifs der Freiheit
und Gotteskindfchaft. — So erprobt fich die Richtigkeit
der exegetifchen Detailunterfuchung des erften Thefls
an den allgemeinen biblifch-theologifchen Erörterungen
des zweiten.

Wie fchon oben bemerkt, vermag diefer dürftige
Umrifs nur in fehr befchränktem Mafse von der gehaltvollen
Arbeit Sabatier's Rechen fchaft zu geben. Diefelbe
fetzt fich nirgends mit den Anflehten anderer Exegeten
auseinander; die Kenntnifs der einfehlägigen Literatur
erhellt aber aus dem Auffatze nicht minder als aus dem
früheren Werke Sabatier's über Paulus; am meiften erinnern
die hier gegebenen Ausführungen an Holften's
bekannte Forfchungen, wenn auch Sabatier in Bezug auf
einen wefentlichen Punkt, das Verhältnifs der (ragt; zur
uftagzia, der durch Holften gegebenen Erklärung direct
widerfpricht. Aber auch im Uebrigen verfährt der Ver-
faffer durchaus felbftändig, und die geiftvolle Gruppirung
des zweiten Theils in feiner fteten Rückbeziehung auf
den erften ift von packender Originalität. Indeffen hat
Sabatier's Abhandlung eine Erwiderung hervorgerufen,
welche Bedenken erhebt, denen Ref. zum Theile zu-
ftimmen mufs. Der Herausgeber der Revue theologique
von Montauban, Profeffor Bois, hat in der genannten
Zeitfchrift (XIII. Jahrgang, Num. 3, pag. 229—251) den
exegetifchen Theil der Abhandlung Sabatier's einer fehr
eingehenden Prüfung unterworfen. Der Hauptmangel
diefer Polemik liegt zweifellos in der abfichtlichen Nichtbeachtung
der biblifch-theologifchen Unterfuchungen des
Gegners, denn diefe follen das Ergebnifs der exegetifchen
Einzelforfchung nicht nur feftftellen, fondern auch direct
bewähren und begründen. Auch die mehr allgemeinen,
fowohl dogmatifchen als ethifchen Inftanzen, welche Bois
gegen Sabatier geltend macht, können in diefer rein
hiftorifchen Arbeit nicht als mafsgebend betrachtet werden.
1 'agegen hat Bois in der exegetifchen Discuffion einige
Punkte berührt, welche in der That den Widerfpruch
herausfordern und, wenn ich recht fehe, Unzuträglichkeiten
in dem fo harmonifchen Gebäude des Gegners
aufweifen. Vor allem mufs das Recht der Identificirung
des Ixvij-qumog ex yjjg 704*00, der vjvyj[ tfiaa Adam's
mit dem Begriff und Terminus oüqy.ivog fehr begründete
Zweifel erwecken: hat doch Sabatier felbft treffend bemerkt,
dafs in jenen 1 Cor. 15, 45.47 gebrauchten Ausdrücken

die Parallele zwifchen dem erften und dem zweiten Adam
nicht im religiös-ethifchen Sinne gemeint ift; nichtsdefto-
j weniger wird unter der Hand, durch Heranziehung von
I Rom. 7, 7 f. (vgl. 1 Cor. 2, 14) jene aus 1 Cor. 15 entlehnte
Bezeichnung in ein Gebiet hinübergefpielt, welchem
| fie ausgefprochener Weife nicht gehört; auf Grund diefer
(xtxäßaoig elg ullo yti'og kann dann allerdings die Ueber-
tragung des Abfchnitts Rom. 7, 9 f. auch auf Adam
ftattfinden. Weiter foll die ffaߣ an fich nicht Sünde und
die uuugxia der 0"apf nicht urfprünglich und wefentlich
immanent fein: wie ift es aber dann möglich, dafs die
0"dp|, fobald fie mit dem vdftog in Berührung tritt, fofort
zu einer ödpg" a/iaoriag wird? Andere Ausheilungen beziehen
fich mehr auf Einzelnes: die Erklärung von Rom.
5, 14 mit Hilfe von Rom. 2, 14—15 ift keineswegs unanfechtbar
(S. 9—10); der Ausfpruch Gal. 5, 17 ift nach
dem Context (praktifche Ermahnung-an die chriftlichen
Lefer) nicht ein theoretifcher Satz über den Gegenfatz
der oÜq^ und des nvsifia überhaupt, fondern eine Auslage
über den concreten Zuftand des Chriftenlebens
(S. 18—19); die S. 22—23 über die Perfon Chrifti ge-
äufserte Bemerkung, nach welcher zwifchen feiner geift-
erfüllten Perfönlichkeit und dem geiftgewirkten Gefetze
j eine Harmonie beftanden hat, überlieht, dafs die als Be-
j leg angeführten Stellen 2 Cor. 3, 17; 1 Cor. 15, 45 fich
auf den Auferftandenen, nicht aber auf den Chriftus
y.acu ücto/.a beziehen. — Beliehen vorliegende Einwen-
: düngen zu Recht, fo wird auch die biblifch-theologifche
[ Ausführung in Mitleidenfchaft gezogen, und es befchleicht
i den Lefer die Empfindung, dafs die glänzenden De-
duetionen, in welchen die Combinationsgabe des Ver-
faffers alle Bewunderung verdient, mehr beftechend als
überzeugend fein möchten. Es kann nicht meine Aufgabe
fein, hier im Einzelnen meine Bedenken darzulegen.
- Es mag genügen, auf die Soteriologie hinzuweifen: der
fehr beachtenswerthe Verfuch, die bei Paulus conftatirte
Doppelreihe von Auslagen in eine höhere Einheit aufzuheben
, konnte dem Exegeten doch nur durch eine nicht
hinreichend begründete Depotenzirung und Entwerthung
der immerhin überaus wichtigen Stelle Rom. 3, 24 f.
1 gelingen. — Doch zum Schliffs. Was ergiebt fich wohl
aus diefer nach allen Seiten hin, fowohl durch die pofi-
tiven Förderungen als durch die disputabeln Aufftellungen
äufserft anregenden Unterfuchungr Vielleicht ganz einfach
die durch den Verfaffer felbft am Anfang feiner
Abhandlung ausdrücklich ausgelprochene Einficht, dafs die
rein fpeculative Frage von dem Urfprung der Sünde für
! den Apoftel Jefu Chrifti, für den Verkündiger des Evan-
' geliums, niemals Gegenftand unmittelbaren Intereffes und
I Nachdenkens gewefen; hat er fich aber die Frage nicht
; in der Weife vorgelegt, wie die traditionelle Theologie fie
Hellt, fo kann auch eine fertige Löfung im Sinne des
Paulus nicht gegeben werden. Die einzig mögliche Aufgabe
liegt für den Exegeten darin, die treibenden Motive
und Factoren der paulinifchen Glaubens- und Gedankenwelt
verftändlich zu machen und die Richtung anzugeben
, in welcher fein theologifches Denken fich bewegt.
I Diefe Aufgabe fcheint mir in der vorliegenden Abhand-
| lung Sabatier's fo energifch aufgefafst und fo klar vor-
j gezeichnet, dafs ein bleibender wiffenfehaftlicher Gewinn
! auch dann aus ihr erwachfen wird, wenn die Löfung nicht
als eine Entfcheidung der Frage gelten könnte.

Strafsburg i/E. p. Lobftein.

Kirchengeschichtliche Studien. Hermarm Reuter zum 70.
Geburtstag gewidmet von Thdr. Brieger, Paul
Tfchackert, Thdr. Kolde, Friedr. Loofs und
Karl Mirbt. Mit einer Beigabe von Aug. Reuter.
Leipzig, Hinrichs, 1888. (VII, 351 S. gr. 8.) M. 8.—

1. Die Unterfuchung von Loofs befchäftigt fich
mit der handfehriftlichen Ueberlieferung der lateinifchen