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Ausgabe:

1888

Spalte:

145-147

Autor/Hrsg.:

Nippold, Fr.

Titel/Untertitel:

Die Thümmel‘schen Religionsprocesse, vom kirchengeschichtlichen und kirchenrechtlichen Standpunkte beleuchtet 1888

Rezensent:

Fay, Friedrich Rudolf

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145

Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 6.

.46

dann folgerecht, wenn fie die alte Geftalt der Kirche als eine
überlebte, die in Ausficht geftellte als eine lebenskräftigere
beurtheilend, die Kirche aus jener in diefe hinüberzuführen
trachten. Aber find denn die Gründe des Verf.'s
für die von ihm eröffnete Perfpective zureichend? Er
verweift zunächft auf die allerdings unbeftreitbare That-
fache, dafs es die Tendenz parlamentarifcher Inftitutionen, 1
hier alfo der Synoden ift, ihre Competenzen zu erweitern.
Aber, fo wenig wir jetzt noch die conftitutionelle Mo-
narchie als die Form des Uebergangs zur Republik betrachten
, fo gewifs dürfen wir hoffen, dafs auch der
kirchliche Parlamentarismus über die Periode der Kinder-
kiankheiten hinauskommen werde, in der er — freilich
drollig genug, wenn man an die fonftigen Principien der
Perfonen denkt — es jetzt dem politifchen nachmacht.
Schwerer wiegt der zweite Grund des Verf.'s: der Gang
unterer Culturentwicklung, bei dem z. B. die Confirmation
in ihrer gegenwärtigen Form eine auf die Dauer nicht
zu ertragende Unwahrhaftigkeit mit fich führe. Dafs hier
ein fehr gefährlicher Nothfland vorliegt, wer wollte es
bezweifeln! Aber ob man angefichts desfelben den Zu-
fammenbruch der Volkskirche als das Ziel betrachtet,
dem wir — leider — zutreiben, oder aber die Herausbildung
einer höheren Geftalt der Volkskirche als ein
Ziel anfleht, für das es hoffnungsfreudig zu arbeiten
gilt, das hängt davon ab, wie man (ich die Fragen beantwortet
, ob das Chriftenthum nur auf die Gewinnung
Einzelner oder zugleich auf die Chriftianifirung ganzer
Völker angelegt ift, ob der äufserliche, paffive Gehorfam
gegen Lehre und Ordnung einer autoritären kirchlichen
Anftalt oder die Einwurzelung chriftlicher Empfindungsund
Urtheilsweifen im allgemeinen Gewiifen oder fie-
wufstfein das werthvollere Merkmal eines chriftlichen
Volkes ift, ob man dem Evangelium die Kraft zutraut,
auch ohne gefetzliche Zügelung der geiftigen Bewegung,
lieh durch feinen eigenen Inhalt als aller Cultur überlegen
und doch als Beftätigung der Cultur zu bewähren, ob
man den gegenwärtigen Zuftand unferes Volkes als Abfall
von einer früher wirklich innerlich erreichten Stufe
höherer W ahrheit beurtheilt oder aber für den begriffswidrigen
, thatfächlichen Zwiefpalt zwifchen Culturbe-
wegung und evangelifcher Kirche einen fehr erheblichen
Grund in dem Umftande erblickt, dafs es immer noch eine
erft zu löfende Aufgabe ift, das Evangelium ohne Zäune
und Hüllen und Uebergriffe und Anhängfei zur lebendigen
Regel der Erziehung und Verkündigung zu machen,
und ob man deshalb die Hoffnung nicht fallen läfst, dafs
der gegenwärtige Zuftand ein kritifches, aber trotz allem
durch die Kraft des Evangeliums zu überwindendes Durch-
gangsftadium im Verlauf einer auffteigenden Entwicklung
unferes Volkes zu einem chriftlichen Volke ift. Der Verfi
hat diefe mafsgebenden Fragen hier nicht aufgeworfen;
darum gebe ich auch die Hoffnung nicht auf, dafs er
nur aus einer, freilich aus mehr als einem Grunde fehr
erklärlichen peffimiftifchen Anwandlung heraus feine Pro-
gnofe aufgeltellt hat.

Giefsen. J. Gottfchick.

Nippold, Prof. Dr. Fr., Die Thümmel'schen Religionsprocesse,

vom kirchengefchichtlichen und kirchenrechtlichen
Standpunkte beleuchtet. Vortrag, im ftudentifchen
Guftav-Adolf-Verein gehalten und mit einem littera-
rifchen Anhang hrsg. 3. Taufend. Halle, Strien, 1888.
(84 S. gr. 8.) M. —.80.

Wenn irgendjemand berufen war, über die Thümmel'-
fchen .Religionsproceffe' das Wort zu ergreifen, dann war
es Nippold; einmal fchon deshalb, weil er alle inter-
confeffionellen Verhältnifse und insbefondere diejenigen
feiner rheinifchen Heimath fehr genau kennt, zum anderen
aus dem Grunde, weil er bei dem dritten Proceffe zwar
als Sachverftändiger geladen, fchliefslich aber doch nicht

gehört worden ift (S. 42). Mit jener vornehmen, dem
Gefchichtsfchreiber geziemenden Objectivität beleuchtet
der verehrte Verfaffer in dem eigentlichen Haupttheile
der vorliegenden Schrift, in einem im ftudentifchen Guftav-
Adolf-Verein in Jena gehaltenen Vortrage, die viel-
befprochenen Proceffe (S. 1—39), in dem literarifchen
Anhange aber (S. 40—84) giebt er forgfältig gefammeltes
Material, das zur Kennzeichnung der gegenwärtigen
kirchenpolitifchen Lage dient. Sein leitender Gefichts-
punkt ift, nicht etwa ein .Plaidoyer für den Angeklagten'
(S. 5) zu halten, fondern den allgemeineren Hintergrund'
(S. 23. 31) zu beleuchten, auf welchem die Rechtshändel
lieh abgelpielt haben. Ohne mit Thümmel einverftanden
zu fein rückfichtlich der Identificirung von Katholicismus
und Jefuitismus, Auffalfung der Meffe und Beurtheilung
der Juriften (S. 5—9), betont Nippold gleich bei dem
erften Proceffe, dafs der Ausgangspunkt desfelben in
einer Thatfache liege, die merkwürdigerweife in den
fämmtlichen juriftifchen Urtheilen in die .gleiche Ver-
geffenheit' gerathen zu fein fcheine: ,in der Vergewaltigung
eines evangelifchen Pfarrhaufes bei Gelegenheit
einer Fronleichnamsproceflion' (S. 9). Von gegnerifcher
Seite fucht man diefe Thatfache, wie im literarifchen
Anhange auf S. 61 zu lefen ift, dadurch abzufchwächen,
dafs die Maien ,auf der Bezirksltrafse' und nicht .auf dem
Trottoir' geftanden hätten; allein daraufkommt es, wenn
man die Veranlaffung des ganzen Rechtsftreites tiefer
fafst, wenig an. Es ift das Proceffionswefen felbft, wie
der Verf. mit vollftem Rechte hervorhebt, das in Orten
mit confeffionell-gemifchter Bevölkerung fich ungehörig
breit macht, welches immer wieder und wieder uns
Evangelifche zum Widerfpruch herausfordert und namentlich
diejenigen Proteftanten, die wiffen, wie der auf S. 12
angeführte Kanon des Tridentinums über die Fronleich-
namsproceffion lautet. Bekanntlich befchränkte die in
diefem Stücke ganz vortreffliche franzöfifche Gefetz-
gebung in Orten mit confeffionell-gemifchter Bevölkerung
Proceffionen auf das Innere der Kirchen. Es ift eine
Märzerrungenfchaft aus dem für das Aufblühen des
Ultramontanismus fo fegensreichen Jahre des Heils 1S48,
dafs auf unferem linken Rheinufer die Fronleichnams-
proceffion mit Entfaltung des gröfsten Pompes z. B.
gerade hier in Crefeld Stunden lang die Stadt durchzieht
, den Verkehr ftört und die Einwohnerfchaft in eine
gewiffe Aufregung verfetzt. Man mufs dergleichen Jahr
für Jahr feit längerer Zeit beobachtet haben, um einem
etwas heifsblütigen, jungen evangelifchen Paftor es nicht
j zu verargen, wenn er feinem Küfter gegenüber den be-
j kannten Ausdruck gebraucht hat, über den Nippold auf
S. 16—19 e'ne fenr lehrreiche, vollftändig fachlich ge-
; haltene Betrachtung aufteilt und dann fehr richtig be-
! merkt: ,Alle diefe Dinge wollen alfo abermals miteinander
; in Verbindung gebracht werden, um die principielle Bedeutung
unferes Proceffes richtig zu würdigen. Denn es
tritt uns in ihnen allen gleich fehr das fyftematifche
Streben der unfehlbaren kirchlichen Inftanz entgegen,
den Staat auf's Neue zum Büttel der Curie zu machen'
i (S. 20). Eben dahin gehört auch und dient wefentlich
: zur Charakteriftik des ,allgemeineren Hintergrundes' das
höchft eigenthümliche Benehmen des Zeugen Teitfcheid
im dritten Proceffe zu Elberfeld. Nippold hat den ein-
fchlägigen Thcil der Verhandlungen wörtlich eingefchaltet
(S. 25—28). Hieraus ergiebt fich, dafs der Zeuge Teitfcheid
, Präfident des katholifchen Kirchenvorftandes in
Remfcheid, auf feinen Eid ausgefagt hat, er habe die
beim Staatsanwalt eingereichte Befchwerde felbft unter-
fchrieben, während der unmittelbar nach ihm, auf nachdrücklichen
Wunfeh des Vertheidigers von Thümmel,
Rechtsanwalt Dr. Sello aus Berlin, aufgerufene frühere
katholifche Pfarrer von Remfcheid, Bötticher, ebenfalls
eidlich bekundete, dafs nicht Teitfcheid, fondern er
Teitfcheid's Namen gefchrieben habe!! ,Wir blicken da
in Zuftände moralifcher oder beffer immoralifcher Art,