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Ausgabe:

1888 Nr. 6

Spalte:

143-144

Autor/Hrsg.:

Beyschlag, Willibald

Titel/Untertitel:

Die Religion und die moderne Gesellschaft 1888

Rezensent:

Gottschick, Johannes

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H3

Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 6.

144

horfam gegen jenes Zeugnifs ,zu ftolz' zum Schein
(84 f. u. f.). Wie fchon diefe Proben andeuten, zeigt der
Verf. in der Darfteilung feiner Gedanken eine grofse
Herrfchaft über die Sprache. Die Form der Rede für
diefen Gegenftand ift gewifs ein Wagnifs, an fich, in
unterer Zeit und um der Parallele willen, die fich aufdrängt
, wenn diefes ,Wort' fich an die ,Suchenden unter
Deutfchlands Gebildeten' richtet. Es ift leicht, einzelne
disparate Bilder, da und dort eine unfchöne Vermengung
des rhetorifchen und ftreng unterfuchenden oder des
biblifchen und modernen Stils zu entdecken; wer die
Grundgedanken ablehnt, wird diefes Gefchäft mit Vergnügen
beforgen. Gerechter wird das Urtheil fein, dafs
der Verf. in der formellen Durchführung feiner Aufgabe
über nicht gewöhnliche Mittel verfügt hat. Der Ausdruck
ift fehr oft von anfchaulichfter Lebendigkeit, und cha-
rakteriftifch, ohne gefucht zu fein. Manchmal weifs er j
das verföhnende Lächeln des Humors zu wecken; häu- 1
figer noch wirkt er durch fcharfen Sarkasmus, aber den
eines fittlich ergriffenen und nur von der Liebe getriebenen
Willens. ,Der Unglaube im Gewand der Dichtung
' (in —128) bezeichnet vielleicht den Höhepunkt
der Darfteilung, nebft dem entfprechenden Abfchnitt !
(220ff.) mit feinem Schlufs ,Die Natur ift gleichfam das
Gute und weckt gleichfam das Gute in Ewigkeit, ohne [
es zu wiffen und zu wollen, gleichfam, gleichfam'! In
diefer ganzen Darftellung des poetifch verklärten Un- ■
glaubens, in Wahrheit ,unfittlichen' Glaubens fühlt man,
wie beftechend der Zauber diefes ,Feierkleides' einft mufs
für den Verf. felbft gewefen fein. Und fo wird, was von
der Form des Buches zu fagen ift, doch wieder zu einem
Urtheil über feinen Inhalt. Wer irgend die Gefahr jener
träumerifchen Weltanfchauung felbft gekoftet, wer weifs,
welche Gefahr in ihr als angeblicher Sonntagsftimmung
gerade für ein am Werktag fieberhaft ,praktifches' Ge-
fchlecht liegt, der mag, ob im einzelnen einverftanden
oder nicht, fich freuen über diefe Schrift, die den fitt-
lichen Charakter unterer Religion und den chriftlich-
religiöfen Charakter der wirklichen Sittlichkeit mit der
Kraft der Begeifterung und Befonnenheit ausfpricht. Als
ihr Motto könnte gelten (234): ,fei du hart in deinem
Willen, fo wirft du kühn in deinem Glauben'.

Zürich. Th. Häring.

Beyschlag, Willib. Die Religion und die moderne Gesellschaft
. Halle, Strien, 1887. (43 S. 8.) M. —.80.

Ein zeitgemäfses Thema hat hier feinen berufenen
Bearbeiter gefunden. In umfichtiger, von Schönfärberei j
ebenfo wie von Schwarzfeherei fich frei haltender Weife |
wägt B. die Erfcheinungen, in welchen die noch vorhandene
Macht der Religion über unfer Volk fich kund !
giebt, und diejenigen, in welchen die irreligiöfe Strömung [
heraustritt, gegen einander ab und gelangt zu dem Re-
fultat, dafs der entfchloffene Unglaube nicht minder wie
der entfchloffene Glaube nur die Minorität hat, während
die grofse Mehrzahl unteres Volkes nicht irreligiös fein
möchte und doch nicht recht religiös zu fein vermag.
Er lehrt diefe Thatfache verliehen, indem er darauf verweift
, dafs feit der Mitte des vorigen Jahrhunderts die
Religion die Führung des nationalen Geifteslebens an
weltliche Intereffen, und zwar nacheinander an die Poefie,
die Philofophie, die Naturwiffenfchaft, die Politik abgetreten
hat, weil die kirchliche Ausprägung, die das
Chriftenthum damals in einer Mifchung gemäfsigter Orthodoxie
und gemäfsigten Pietismus befafs, keine ausreichende
Ueberzeugungskraft mehr hatte. Eine befon-
dere Gefahr der gegenwärtigen Situation erblickt er
darin, dafs der Katholicismus die blinde Unterwerfung
unter die Auctorität und den Aberglauben nicht nur in
feinem Bereiche befördert, fondern damit auch gläubigen,
halbgläubigen und ungläubigen Proteftanten imponirt,
vor allem aber darin, dafs die in der evangelifchen Kirche

herrfchende Richtung einerfeits dem Skepticismus einen
gefteigerten Pofitivismus entgegenfetzt, bei dem die un-
veräufserlichen Beftandtheile evangelifchen Glaubens,
Wahrheitsfinn und Freiheitsgefühl, verkümmern, und an-
dererfeits über dem Eifer in einer nach aufsen gewandten
Werkthätigkeit der Liebe, die Aufgabe der nach innen
gewandten Ausprägung des Glaubens in der Herausbildung
von Selbftlofigkeit, Demuth, Wahrhaftigkeit, duld-
famer Liebe hintenanftellt. Trotz diefer Gefahren verzagt
er an der Zukunft nicht, weil er in unzähligen Hillen
Spuren eine Unterftrömung zu ebenfo pofitivem wie geiftig
und fittlich befreiendem Chriftenthum fich herausarbeiten
lieht.

Giefsen. J. Gottfchick.

Kawerau, Prof. Dr. G., lieber Berechtigung und Bedeutung
des landesherrlichen Kirchenregiments. Vortrag, auf der
theologifchen Konferenz zu Kiel am 6. Juli 1887 gehalten
. Kiel, Homann, 1887. (38 S. gr. 8.) M. —.80.

Gegenüber den leitenden Ideen und den hiflorifchen
Mythen, welchen die Hammerftein'fche Bewegung ihr
Pathos, aber auch ihren bedenklichen Charakter in viel
höherem Mafse verdankt, als den meiften ihrer concreten
Forderungen, Hellt der Verf. in fehr beherzigenswerther
Weife die leitenden reformatorifchen Ideen über die Kirche
und die hifforifchen Thatfachen auf den Leuchter. Wenn
theologifche Wortführer jener Bewegung fo reden, als
ob eine beflimmte Art des Regiments zum ffiftungsge-
mäfsen Wefen der Kirche gehöre, als ob Kirche und
Staat fich zu einander verhielten, wie Reich Gottes und
Welt, wenn fie deshalb dem landesherrlichen Kirchenregiment
die Statthaftigkeit principiell abHreiten, ja wenn
fie den 3. Artikel fo verHehen, als ob dort Kirche etwas
von der Gemeinde der Heiligen Verfchiedenes, nämlich
die Rechtsordnung einer Heilsanffalt bedeuten folle, fo
betont der Verf. energifch den principiell religiöfen
Charakter des reformatorifchen Kirchenbegriffes, vermöge
deffen die Gemeinde der Heiligen die Kirche iff,
die kirchliche Rechtsordnung nicht unter die Glaubensartikel
, fondern in die vierte Bitte gehört und genau fo
viel Werth hat, als fie für die Aufgabe zweckmäfsig ifl,
dem Evangelium zu geordneter Wirkfamkeit zu verhelfen,
und zeigt, dafs aus diefem Grunde feiner Zeit die chriff-
liche Obrigkeit — nicht die Perfon des Landesherrn,
fondern der Träger der Staatsgewalt, eventuell der durch
die Stände befchränkte — von den Reformatoren mit
Recht als zum Träger des Kirchenregiments berufen
erachtet worden iH, fowie dafs Luther und Melanthon
keineswegs zu Vertretern des Epifkopalismus geffempelt
werden dürfen. Den Segen, den das landesherrliche
Kirchenregiment unter veränderten Verhältnifsen auch
heute noch Hiftet, fafst er treffend fo zufammen: es bildet
das heilfame und nöthige Gegengewicht gegen die
Gefahr heillofer Zerfplitterung, fchafft einer normalen
Entwicklung der theologifchen Arbeit wie der verfchie-
denen kirchlichen Richtungen Raum, bewahrt die Kirche
vor Majoritätsherrfchaft und dem Terrorismus der Parteien
, fichert der evangelifchen Kirche einen weitgreifenden
Einflufs auf Staats- und Volksleben'. Als Heilmittel
der kirchlichen Nöthe empfiehlt er anffatt Verfaffungs-
änderungen im Sinn Hammerftein's die intenfivere und
mannigfaltigere geiffliche Arbeit auf dem Boden der
Einzelgemeinde.

Leider hat der Verf. diefen trefflichen Gedanken ein
gut Theil ihrer Wirkungskraft genommen, indem er das
Urtheil ausfpricht, dafs wir gegenwärtig in einem Ueber-
gangsfladium zwifchen Volkskirche und freiem Vereine
begriffen find und dafs der Zufammenbruch der Volkskirche
das Ziel iH, dem wir zutreiben. Da wird feine
Warnung, diefem Ziele nicht zuzufleuern, bei denen
nicht verfangen, welche feiner Prognofe glauben. Es iH