Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1888 Nr. 5

Spalte:

118-120

Autor/Hrsg.:

Sommer, Hugo

Titel/Untertitel:

Individualismus oder Evolutionismus? 1888

Rezensent:

Gottschick, Johannes

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

U7

Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 5.

118

rafche durch den überwiegenden Eindruck der niederen
Stufen bedingte Ueberfchau das Refultät ergeben, dafs
die religiöfe Werthfehätzung im Gegenfatz zur fittlichen
die natürliche des Triebes nach Leben fei. Dies Refultät
hindert K. daran, deutlich zu machen, dafs der
religiöfe Trieb nicht nur in Hinficht der zu feiner Befriedigung
aufgewandten Mittel, fondern in Hinficht feiner
Ziele und feiner Art etwas von den concreten, auf weltlich
geartetes Leben gerichteten Naturtrieben fpeeififeh
Verfchiedenes ift. In Bezug auf die höheren Religions-
ftufen fehlt es an dem Nachweis, dafs die erftrebten
überweltlichen Güter wirklich als folche überweltlicher
Art gemeint find. Denn eine jenfeitige Steigerung weltlicher
Seligkeit in's Unbegrenzte wie im Islam oder ihre
blofse Verneinung in der Myflik ergiebt noch keine überweltliche
Art. Nicht nur hat die Scheu, die Gedanken
anderer als empirhTifcher Philofophen zu benutzen, K.
daran gehindert, aus Kant's meifterhafter Analyfe der
fittlichen Wirklichkeit fich die Erkenntnifs anzueignen,
die hier fchliefslich allein weiterführt, dafs nämlich im
Sittlichen vermöge der Correlation zwifchen Soll und
Freiheit ein Hinweis auf ein Lebensgebiet liegt, welches
feiner Art nach übernatürlich und überweltlich ift. K. benutzt
auch nicht einmal die Mittel, über welche er felbft
verfügt, zur Unterfcheidung des religiöfen Triebes von
der Summe weltlicher Lebenstriebe, welche Motive nicht
der Religion, fondern des Aberglaubens in der Religion
find. Er macht nämlich Ritfehl jetzt das Zugeftändnifs,
dafs der Gedanke der erhabenen Macht der Gottheit
die religiöfen Gefühle mitbeftimmt. Aber er lehnt es
ausdrücklich ab, von diefer Correctur aus auch die Ausführungen
über die religiöfe Werthfehätzung und die
Bedeutung der Güter in den Religionen umzugeftalten.
Nun gehört aber, was der Cult, abgefehen davon, dafs
er für den Aberglauben Mittel zum Zweck ift, unmittelbar
gewährt, die Anknüpfung des menfehlichen Lebens
an das erhabene Leben der Gottheit, die Verletzung in
ihre Nähe, die Theilnahme an Luft und Leid ihres als
Naturkraft gedachten Lebens, doch ohne Frage zu den
Gütern der Religion, nicht minder, wie fchon auf der
niedrigften Stufe, auf der des Ahnencults, das fittliche
Gut der Familie. Die Befriedigung aber, welche durch
die Religion in Bezug auf diefe Güter gewonnen wird,
ift fpeeififeh anderer Art, als die, worauf das natürliche
Begehren geht. Diefe Güter werden nur genoffen, indem
fie nicht als Mittel der Befriedigung der zufällig vorhandenen
Wünfche, fondern als fei bftwerthig aufge-
fafst werden. Und das ift für die religiöfe Werthfehätzung
ein entfeheidendes Merkmal. Auch für die myftifche
Seligkeit ift diefer Gefichtspunkt von gröfster Bedeutung.
Denn die myftifche abftracte Negation weltlichen Glücks
bekommt lediglich dadurch den Schein eines pofitiven
Gehaltes, dafs der Gedanke des Einen, Unbegrenzten,
Unwandelbaren im Vergleich mit der Vielheit, Be-
fchränktheit, Veränderlichkeit des weltlichen Seins den
Charakter der Erhabenheit befitzt. Die Einigung mit
ihm wird eben deshalb nicht als Befriedigung eines Naturtriebes
, fondern als Erhebung in eine der Art nach
höhere Lebensfphäre empfunden.

Insbefondere rächt fich der Fehler der Methode K.'s
bei der Auffaffung des höchften Gutes des Chriftenthums,
indem fie„ wie er felbft (S. 95. 96) betont, dazu führt,
das Chriftenthum Refultaten zu fubfumiren, die aufser-
halb des Chriftenthums gewonnen find. Es ift wieder
keine Frage, dafs der Belitz einer gottgefchenkten,
überweltlichen oder transfeendenten Seligkeit, das Ein-
gepfianztfein in den Lebenszufammenhang des Leibes
des erhöhten Chriftus im Chriftenthum das Entfcheidende
ift, aus dem die Pflichtforderungen an unfere Selbft-
thätigkeit erft hervorgehen. Aber gerade, weil dies das
Entfcheidende ift, fo ift eine pofitive Antwort auf die
Frage, worin dies überweltliche Leben befteht, und der
Nachweis des organifchen Zufammenhangs zwifchen

diefem Gute und dem verpflichtenden Ideal dringend
nothwendig. K. behauptet aber diefen Zufammenhang
lediglich und giebt auf jene Frage nur die negative Antwort
, dafs das überweltliche Leben, das man als Glied
des Leibes Chrifti befitzt, weder das Aufgehen im Unendlichen
im Sinne der hiftorifchen Myftik, noch die
blofse Ausficht auf jenfeitige Steigerung irdifch-gearteten
Glücks, noch auch das Leben in der fittlichen Gerechtigkeit
fein foll. Mit der letzten Verneinung, an der ja
felbftverftändlich richtig ift, dafs das höchfte Gut des
Chriftenthums in erfter Linie nicht in der Nächftenliebe,
fondern im Vertrauen auf Gottes Gnade fich verwirklicht
, vermag ich freilich nicht zu reimen, dafs man nach
K. das Trachten nach der Gerechtigkeit als Moment feiner
Seligkeit, alfo doch felbft als Seligkeit kennen lernen foll.
K. wirft hier das Chriftenthum auf das Prokruftesbett von
Begriffen, die er nach feiner Methode unter Abftraction
von der chriftlichen Beurtheilung der Sache gewonnen
hat. Er befteht darauf, dafs zwifchen dem Genufs der
Seligkeit eines Gutes und zwifchen der Erfüllung der
Pflicht ein Unterfchied bleibe, vermöge deffen es niemals
heifsen könne, dafs einer, indem er die Pflicht erfüllt
, damit und darin das Gut geniefse. Er beruft fich
hierfür auf das Beifpiel eines geordneten Familienlebens.
In der That kann beides auseinanderfallen bei einem
Gut, welches ein Gut nicht nur für den fittlichen Willen,
fondern auch für das natürliche Begehren ift. Aber diefe
Regel pafst, wie Joh. 4, 34 und die paulinifche Lehre
vom Gefetz zeigt, nicht auf das vollendet fittliche Gut,
welches das Chriftenthum gewährt. Zwifchen dem natürlichen
Lebenstrieb und der fittlichen Pflichtforderung
bleibt allerdings ftets ein fcharfer Unterfchied. Aber die
im Leben des Chriften, der auf Erden noch nicht im vollkommenen
Befitz des höchften Gutes ift, thatfächlich
vorhandene Ofcillation zwifchen dem Trieb und Drang
freudiger Hingabe an den Willen Gottes, wie er unfer
Leben geftaltet und uns Aufgaben ftellt, als an einen
befeligenden, und zwifchen dem Gefühl der Verpflichtung,
diefem Willen Gottes innerlich und äufserlich uns hinzugeben
, deckt fich keineswegs mit dem Unterfchied
zwifchen dem natürlichen Lebenstrieb und der diefen ein-
fchränkenden Pflichtforderung, der auf unterchriftlichem
Standpunkt ftatt hat. Denn die Endpunkte, zwifchen denen
das Leben des Chriften ofcillirt, haben mehrere Merkmale
gemeinfam, welche es ausfchliefsen, dafs man fie
als Specialfall des Kaftan'fchen Gegenfatzes anfleht.
Nicht nur, dafs die Empfindung des von Gott Getrieben-
feins das Bewufstfein unferer Freiheit nicht aufhebt und
dafs wiederum dieEmpfindung der an unfere Selbftthätig-
keit ergehenden Anforderung von dem Bewufstfein durchwaltet
ift, von Gott die Kraft empfangen zu haben und
feiner Hülfe für die Zukunft fleher zu fein. Der neue
Lebenstrieb, in deffen Regung der Chrift feiner überweltlichen
Seligkeit inne wird, ift auch ftets von dem Gefühl
durchdrungen, dafs er mit ihm an einer über feine natürlichen
Lebenstriebe fpeeififeh erhabenen, unbedingt werthvollen
, höheren Ordnung der Dinge Theil hat; und das
j Bewufstfein des Chriften von einem an ihn ergehenden
Soll ift immer zugleich das Bewufstfein, dafs das Soll
den eigentlichen Gehalt feines Lebens, das factifche
Ziel eines in ihm wirklich vorhandenen Wollens ausdrückt
. — Nach diefen Merkmalen, welche das chrift-
liche Leben nach dem Mafsftab Chrifti und der fonftigen
Zeugnifse des N. T.'s hat, haben die allgemeinen Begriffe
von Gut und Ideal fich zu richten; nicht find die erfteren
nach einer abgefehen vom Chriftenthum gewonnenen
Faffung der letzteren zu corrigiren.

Giefsen. J. Gottfchick.

Sommer, Hugo, Individualismus oder Evolutionismus? Zugleich
eine Entgegnung auf die Streitfchrift des Hrn.