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Ausgabe:

1888 Nr. 5

Spalte:

115-118

Autor/Hrsg.:

Kaftan, Julius

Titel/Untertitel:

Das Wesen der christlichen Religion. 2. Aufl 1888

Rezensent:

Gottschick, Johannes

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Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 5.

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in der Schätzung der erfahrenen Aufhebung der Schuld
der Schmerz über deren Begehung fortdauert und der
Abfcheu vor neuer Sünde eingefchloffen ift. Hingegen
könnte ich aus meiner Erfahrung eine Menge von Bei-
fpielen anführen, dafs folche Theologen, welche die um-
faffendfte Schätzung der Sünde und ihrer Sühnung durch
Chriftus bekennen, und fich darin über Andere hoch erheben
, fich gar nicht fcheuen, in demfelben Athem fich
an Anderen zu verfündigen. Den Herrn Verf. des vorliegenden
Vortrages aber hoffe ich davon überzeugt zu
haben, warum auch fein zweiter aus pietiftifchen Rück-
fichten entfprungener Verfuch der Verbefferung meiner
Theologie meine Zuftimmung nicht finden kann.

Göttingen. A. Ritfchl.

Kaftan, Jul., Das Wesen der christlichen Religion. 2. Aufl.
Bafel, Detloff, 1888. (XI, 490 S. gr. 8.) M. 8.—

Angefichts der von Stöcker mit Genugthuung con-
ftatirten Thatfache, dafs Gegenfätze wie die zwifchen
Greifswald und Jena vor dem Bewufstfein der Ueber-
ftimmung gegenüber derjenigen Richtung der Theologie,
welcher Kaftan nicht ohne Grund zugezählt wird, zeitweilig
fchwinden können, mufs es faft überrafchen, dafs
binnen fechs Jahren eine zweite Auflage diefes Werkes
hat nöthig werden können. Es ift aber nicht nur diefer
Zufammenhang, in welchem diefelbe mit Freuden zu
begrüfsen ift. Dies Werk befitzt in der Klarheit der
Darftellung, in der methodifchen Sorgfalt und Umficht
der Unterfuchung, in der Ueberfichtlichkeit der Gliederung
und des Fortfehritts der Gedanken fo viel befon-
dere Vorzüge, dafs es als ein ausgezeichnetes Mittel zur
Verbreitung folcher theologifchen Anfchauungen gelten
darf, die dazu befähigen, das Evangelium fo zu verkündigen
, wie es verkündigt werden mufs, um Gegenftand
und Grund des im evangelifchen Sinne d. h. als perfön-
liche fiducia verftandenen Glaubens zu fein.

Die Veränderungen, welche die zweite Auflage aufweht
, find von relativ geringem Umfang (das Buch ift
nur 23 Seiten ftärker geworden), betreffen faft nur die
erfte, religions-philofophifche Hälfte und find meift dadurch
veranlafst, dafs andere Theologen wie Biedermann,
Lipfius, Ritfehl u. A. fich mittlerweile wieder über die
betreffenden Fragen geäufsert haben. Insbefondere find
es Ritfchl's Einwände, gegen welche Kaftan fich ver-
theidigt. Dabei treten durchfchlagende Befonderheiten
feiner Methode und feiner Anfchauungen über das Wefen
der Religion und des Chriftenthums auf's Neue in helle
Beleuchtung. Es wird deshalb angezeigt fein, ohne das
Detail der Verhandlung zwifchen K. und R. zu berück-
fichtigen, auf diefe Fragen einzugehen.

Es handelt fich zunächft um die Methode, das Wefen
der Religion zu beftimmen. Dafs K.'s Verfahren, durch
Vergleichung der gefchichtlichen Religionen die gemein-
famen Merkmale aller Religion feftzuftellen, für das Ver-
ftändnifs der einzelnen Religionen und alfo auch des
Chriftenthums werthvoll, ja unumgänglich ift, ift keine
Frage. Wohl aber ift es fraglich, ob es möglich und
richtig ift, diefe Unterfuchung fo ,objectiv' zu führen,
dafs die perfönliche religiöfe Stellung des Forfchers und
feine hierdurch bedingte Abftufung der Religionen für
das Refultat ohne Belang bleibt. K. beharrt bei der
Bejahung diefer Frage und, wenn er den Schlüffel für
die innere Seite der Gefchichte in der erfabrungsmäfsigen
Kenntnifs menfehlichen Lebens d. h. in diefem Leben
felbft erblickt, fo meint er doch, dafs für die Aufgabe,
die allen Religionen gemeinfamen Merkmale feftzuftellen,
nur ganz allgemein menfehliche Impulfe des Geiftes in
Betracht kommen. Aber dies letztere ift — und gerade
auch nach den philofophifchen Anfchauungen, von
welchen K. abhängig ift — ein Irrthum. Jene gemeinfamen
Merkmale follen ja nur formelle Schemata fein,
die in den einzelnen Religionen ganz verfchieden ausgefüllt
find. Um daher den Begriff durch Abftraction zu
gewinnen oder die Gleichartigkeit des mannigfaltigen
Wirklichen d. h. des Verfchiedenen fich zum Bewufstfein
bringen zu können, mufs man fich mit innerer Nachempfindung
auf den Standpunkt der verfchiedenen Religionen
verletzen können. Dazu reicht der Befitz der
allgemein-menfchlichen Lebensimpulfe nicht aus: es gehört
dazu ein Mafs innerer Beteiligung an den der
höchften Stufe zu Grunde liegenden befonderen Lebensimpulfen
; denn nur vom höchften Standpunkt aus kann
man alle Erfcheinungsformen der Religion, auch die
niederen verliehen. Nun will K. uns bange machen:
wenn er nicht im Rechte fei, fo falle die Ausficht auf
Verftändigung fort, weil dann für jeden feine befondere
Auffaffung des Chriftenthums die Vorausfetzung fein werde.
Doch niJiüprobat, quinimiumprobat. Wer von den gefchichtlichen
Religionen den Allgemeinbegriff der Religion ab-
ftrahiren will, mufs nun einmal feine Auffaffung nicht
nur des Chriftenthums, fondern aller Religionen zu
Grunde legen. Wir können eben nicht anders als mit
unferen eigenen Augen fehen und auch die Wahrnehmungsfehler
nur mit ihrer Hülfe durch allfeitige Beobachtung
und Vergleichung corrigiren. Ferner bedingt
fich die Erkenntnifs des Allgemeinen und des Befonderen
gegenfeitig.

Die perfönliche religiöfe Stellung mufs ferner fich
bei der Aufhellung des Begriffs der Religion geltend
machen, weil man die im Wefen des Begriffes liegende
Einheit bei Begriffen von geiftigen Gröfsen gar nicht
'■ anders gewinnen kann, als dadurch, dafs man den Gegenfatz
des Inhalts der gleichen formellen Merkmale oder den
Eindruck der gänzlichen Ungleichartigkeit gleichnamiger
Erfcheinungen erft durch die Erkenntnifs einer auch
inhaltlichen Gleichartigkeit oder durch die Auffaffung
derfelben als verfchiedener Stufen einer Entwicklungsreihe
überbieten kann. Dafs der Neger von höheren
Mächten Befriedigung feines Anfpruchs auf Leben erwartet
, ift für uns Chriften nicht eher ein Anlafs, ihm
etwas Befferes wie Aberglauben, nämlich Religion zuzu-
fchreiben, als bis wir bei ihm idealere Motive entdecken,
die zu den Motiven der chriftlichen Frömmigkeit irgendwelche
pofitive Analogie haben. Das heifst aber, um
eine Erfcheinung unter den Begriff der Religion fub-
fumiren und fie als Material für die Gewinnung der Merkmale
diefes Begriffes benutzen zu können, mufs man eine
Vorftellung von feinem Inhalt fchon mitbringen. Diefelbe
fchöpft man aber unvermeidlich aus feiner eigenen
Religion.

Unter diefen Umftänden ift Verftändigung nur möglich
, wenn man den nothwendigen und förderlichen
Cirkel auch reinlich und mit Bewufstfein begeht. Das
von Kaftan vertheidigte Verfahren dagegen erfchwert
die Verftändigung fo gewifs, als es einmal dazu führt,
die höheren Stufen Merkmalen unterzuordnen, die in
ihrer eigenthümlichen Zufpitzung nur von den niederen
abftrahirt find, und als zweitens die perfönliche Vorausfetzung
des Forfchers unbewufst und unwillkürlich das
Refultat becinflufst. Beides ift auch bei^ K. zu erkennen.

Nach feinen Grundfätzen müfste K. fich begnügen,
zu conftatiren, dafs in der Religion durch die von über-
I weltlichen Mächten gewährten Güter der Anfpruch auf
j Leben befriedigt wird, und dies formelle Schema eben
durch Aufzählung der möglichen Arten der Güter zu
illuftriren. Er führt aber wiederholt aus, dafs ,das Ver-
I langen nach Leben über die Welt hinaus' die eigent-
! lieh religiöfe Anlage fei, und dafs der eigentlich religiöfe
Trieb entbunden fei, fowie dies durchdringe. Das ift
eine vollkommen richtige Erkenntnifs, aber nur nicht
eine nach den Grundfätzen feiner Methode gewonnene,
fondern vielmehr eine an den höchften Stufen orientirte.
Wiederum aber wird K. durch den Druck der Grund-
I fätze feiner abfichtlichen Methode gehindert, diefe Er-
| kenntnifs zu verwerthen. Nach den letzteren hat eine