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Ausgabe:

1888 Nr. 5

Spalte:

113-115

Autor/Hrsg.:

Häring, Theodor

Titel/Untertitel:

Zu Ritschl‘s Versöhnungslehre 1888

Rezensent:

Ritschl, Albrecht

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Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 5.

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ihrer Verfchiedenheit anpafst (c. 18); ja eben dadurch,
dafs Gott macht, dafs die Handlung die meinige ift,
macht er, dafs fie frei ift, wenn ich ein freies Agens
bin. Nämlich die wirkfame Kraft der Urfache (c. 21)
wirkt nicht blofs auf die Hervorbringung der Wirkung,
fondern auch auf den Modus. Wenn nun Gott bei
feiner Thätigkeit über die höchfte wirkfame Kraft verfügt
, dann wird aus ihr nicht blofs die geplante Wirkung
hervorgehen, fondern auch ganz genau in der geplanten
Weife, d. i. entweder frei oder nothwendig, je nachdem
die gefchöpflichen Urfachen, deren fich die göttliche Kraft
bedient, nothwendige oder freie find. Es handelt fich
alfo um eine Thätigkeit, die zugleich ganz von Gott
und .den Kreaturen' (sie) frei ift: Dens movendo volunta-
tem dat ei proprium indinationem. Das Erzeugnifs ift ein
einziges untheilbares, nämlich unfer Willensact, der als
gefchöpflicher Act von einer erften allgemeinen und von
einer zweiten befonderen Urfache herrührt.

Was die zweite Frage anlangt, fo räumt Pecci zwar
ein, dafs Gott auch die res futuribiles, d. h. das, was
unter einer (thatfächlich) nicht eintretenden Bedingung
gefchehen würde, erkennt, aber nicht, dafs diefes Ob-
ject göttlichen Wiffens neben der fog. scientia visionis
"(Erkenntnifs alles Wirklichen) und der sc simplicis in-
lelligcntiac (Erkenntnifs alles nur Möglichen) eine dritte
Art des göttlichen Wiffens, die fog. scientia media,
fordere. Gott, lehrt er vielmehr, ,erkennt die bedingten
zukünftigen Dinge ebenfo wie die anderen möglichen
Dinge mit der sc. simplicis intclligentiae, weil fie in den
Kreis der möglichen, nicht der wirklichen Dinge gehören
und fich zur Menge der indeterminirten, nicht der de-
terminirten zählen'. Aber die sc. simpl. intell. gründet
ihrerfeits in der Erkenntnifs, die Gott von fich felber
hat, d. h. in der Vifionserkenntnifs von fich felbft, welche
ein unendlicher, von keiner Potentialitht getrübter Act ift.

Das Intereffante diefer ,Feftgabe' liegt, wie bemerkt,
für uns nicht in ihren dogmatischen Ergebnifsen, zumal
da das Verhältnifs Gottes zu den böfen Handlungen
der Menfchen gar nicht fpecicll berührt ift; mehrfchon
in dem. was fie zur richtigen, ungekünftelten Auslegung
der betr. Sätze des Thomas beiträgt, am meiften in dem
Einblick, den fie in die Art der neueren Verhandlungen
römifcher Theologen über die Lehre des Thomas von
Aquino gewährt. Uebrigens ift die (von den katholifchen
Theologen fehr beachtetet Urfchrift italienifch, wurde
18S5 zuerft in der Zeitfchrift LAccadcmia Romana, dann
auch feparat veröffentlicht und rührt von dem Bruder
Leo's XIII., dem Präfidenten der römifchen Akademie
des hl. Thomas, her. Die Abhandlung trägt die Briefform
, deren fich der alte Jofef Pecci gegenüber einem
jungen Theologen, wie es einem Cardinal geziemt, in
höchft urbaner Weife bedient. Die Ueberfetzung ift im
Ganzen zu loben, wenn auch einzelne Ausdrücke (wie
z. B. ,ift den Creaturen frei' und ,Gott würdigt fich',
das und das zu thun) zu wörtlich und in Folge deffen
undeutfeh lauten.
Kiel. F. Nitzfeh.

Häring. Prof. Dr. Th., Zu Ritschl's Versöhnungslehre.

Sonderabdruck aus den Verhandlungen der allg.
Schweizerifchen Predigergefellfchaft. Zürich, Höhr,
188S. (45 S. gr. 8.) M. —.90.

Der Unterzeichnete bezeugt dem Herrn Verfaffer
gern, dafs er feine Lehre von der Verföhnung durch
Chriftus richtig dargeftellt hat, und ift demfelben für
manche Widerlegung gangbarer Einwendungen dankbar.
Ich fpreche diefes an diefer Stelle aus, weil der Herr
Verf. zugleich einige Verbefferungen meiner Lehre hinzufügen
zu follen meint, welche zu beurtheilen mir zweck-
mäfsig erfcheint, weil fie von einem Theologen kommen,
welcher mir wohl will. Zuerft vermifst er (S. 31), dafs

ich es unterlaffen habe, bei der Nachweifung der durch
Chriftus vollzogenen Vertretung der Sünder vor Gott,
den Werth diefer Leiftung für Gott zu bezeichnen. Er
findet denfelben darin, dafs die durch Chrifti priefter-
liches Handeln vermittelte Umbildung der Sünder in
die Gemeinde Chrifti die Offenbarung der Liebe Gottes
vollende. Ich erkenne hierin eine richtige Folgerung
aus den von mir feftgeftellten Lehrbeftimmungen, die ich
nur deshalb nicht vollzogen habe, weil keine directe
Auslage des N. T.'s darauf hinweift, und weil das Inter-
effe an diefer Folgerung durch das in dem Begriff der
Straffatisfaction Chrifti ausgedrückte Intereffe der alten
Lehrweife hervorgerufen ift. Allein um dem entgegenzukommen
, habe ich fchon in meinen letzten Vorträgen
der Dogmatik diefe von Herrn Prof. H. geforderte Ergänzung
ausgefprochen. — Eine andere Verbefferung
meiner Lehre hat H. fchon in einer Schrift von 1880
(Ueber das Bleibende im Glauben an Chriftus) vorgetragen
, indem er die Forderung ausfprach, die unvollkommene
Reue der Gläubigen, in welcher fie fich die
Sündenvergebung durch Chriftus aneignen, müffe durch
eine analoge Leiftung desfelben als integrirt nachgewiefen
werden. Dem habe ich (Rechtf. u. Verf. 2. Aufl. III.
S. 513) widerfprochen, und H. zieht den Gedanken jetzt
(S. 39) zurück. Zum Erfatze aber fchliefst er fich einer
andern Combination an, welche, wie er fagt, von Dorner,
Kähler, Gefs und Anderen vorgetragen worden ift. Er
formulirt (S. 40. 41) diefen Gedanken fo: .Chriftus weckt
die Bufse wefentlich durch das räthfelvolle Gefchick
feines Leidens; das Kreuz ift die gewaltigfte Thatpredigt
von dem unverbrüchlichen Ernft der göttlichen Liebe,
die den zur Sünde macht, der die Sünde nicht gekannt
hat. Er felbft aber, in diefes dunkle Gefchick dahin
gegeben, nimmt dasfelbe auf fich in demüthigem Gehor-
fam, weil er die göttliche Abficht erkennt, darin den
Schuldigen zu zeigen, welcher Ernft es Gott mit der
Verurtheilung der Sünde ift'. Hiebei kommt in
Betracht, dafs H. wenigftens (ob auch feine Gewährsmänner
, weifs ich nicht) nicht daran denkt, dafs das
Leiden Chrifti die Execution der von dem fündigen
Menfchengefchlecht verdienten Strafe fei. Dann erlaube
ich mir aber zu bemerken, dafs fein Vorfchlag gar keine
neue Entdeckung in fich fchliefst. Mich fchaut aus dem
Schlufs der angeführten Sätze ein alter Bekannter an,
nämlich der Begriff des Strafexempels als Deutung
des Todes Chrifti. Nun ift ja bekannt, wie Grotius darauf
hereingefallen ift, indem er die Straffatisfaction als
Inhalt des Leidens Chrifti beweifen wollte. Nachher haben
Semler und Gruner den Begriff des Strafexempels, ferner
Joh. David Michaelis den einen, wie den andern Begriff
zugleich geltend gemacht; darin find ihm die Vertreter
des verftändigen Supranaturalismus vor hundert Jahren
gefolgt (Rechtf. u. Verf. I. S. 336 ff. 414. 420 ff.). Anderer-
feits entfeheidet fich im Kreife des Pietismus Stier (S. 604)
für das Strafexempel im Tode Chrifti, und Zinzendorf
fchwankt hilflos zwifchen beiden fich ausfchliefsenden
Gedanken (Gefch. des Pietismus III. S. 430 ff). Ich
habe diefe gefchichtlichen Data im Kopfe und erkannte
deshalb fogleich die Art und die Herkunft des Begriffes
, welchen H. mit feinen Gewährsmännern Sühne
zu nennen beliebt. Vielen grofsen Theologen der
Gegenwart erfcheint es als ein überflüffiges Werk, fich
die Gefchichte der Verföhnungslehre gegenwärtig zu
halten, wenn fie dogmatifch an ihr herumdenken. Ich
achte es für mich als einen Vortheil, dafs ich an deren
Befitz den Mafsftab habe, um verkleidete Geftalten längft
! vor-handener Erkenntnifse zu durchfehauen und zu entlarven
. Für den Gedanken des Strafexempels im Tode
Chrifti wird auch H. auf Schriftbeweis verzichten müffen.
Der ganze Begriff ift ja nur ein Product der Verlegenheit
. Wenn aber der Reue des Gläubigen der Ernft der
Beurtheilung der eigenen Sünde gewahrt werden foll, fo
genügt dazu meine von H. gebilligte Aufftellung, dafs

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