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Ausgabe:

1888 Nr. 5

Spalte:

108-109

Autor/Hrsg.:

Reuss, Ed.

Titel/Untertitel:

Die Geschichte der heiligen Schriften Neuen Testaments. 6., verm. u. verb. Aufl 1888

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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107 Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 5. 108

für die poetifchen Bücher mindeftens je zwei Handfchrif-
ten, für jene Vaticanus 330 und Marcianns V, für diefe
Vaticanus 346 und ebenfalls Marcianns V. Delitzfch
zeigt nun an einer Reihe von Beifpielen, in welcher Weife
die Handfchriften für die Conftituirung des Textes benützt
find. Die vaticanifchen Handfchriften bilden vorwiegend
die Grundlage; doch wird auch zuweilen der
Marcianns bevorzugt. In einem der von Delitzfch unter-

Reuss, Ed., Die Geschichte der heiligen Schriften Neuen
Testaments. 6., verm. u. verb. Aufl. Braunfchweig,
Schwetfchke&Sohn, 1887. (XII, 686 S. gr. 8.) M. 12 —

Ueber den Platz, welchen das vorliegende Werk
meines verehrten Collegen in der materiellen und formellen
Behandlung der Einleitungswiffenfchaft einnimmt,
bedarf kein Fachgenoffe noch irgendwelcher Belehrung.

fuchten Stücke (S. 27) ift der complutenfifche Text ge- Ich begnüge mich daher, zur Ergänzung des im ,Lehr
radezu ,eine nicht ohne Verftand und Gefchick im Hin- buch der hiftorifch-kritifchen Einleitung in das Neue Tefta
blick auf den hebr. Text bewerkftelligte Mixtur aus | ment' (2. Aufl. S. 10. 199 f.) Gefagten hier nur Folgendes
Vat. 330 und Marc. V. — Die Pfalmen find in keiner ! zu bemerken. Die neue Auflage ftellt im Gegenfatz zur
der drei von Delitzfch nachgewiefenen Handfchriften ent- i letzten (zwei Abtheilungen) wieder einen einzigen Band
halten. Delitzfch vermuthet, dafs der complutenfifche , dar, der aber faft um 3 Bogen umfangreicher erfcheint,
Text derfelben vorwiegend aus einem in der Madrider 1 als die zwei Abtheilungen der 5. Aufl. Die gröfsere Hälfte
Bibliothek befindlichen Pfalterium gefloffen ift (S. 28 f.) I diefer Erweiterungen kommt dem erften, die Gefchichte
Während beim Alten Teftamente die Herkunft des | der Entftehung der neuteft. Schriften darfteilenden, Theile
Propheten-Textes noch fraglich bleibt, ift es beim . zu. Nächftdem mufste der dritte Theil, die Gefchichte
Neuen Teftamente (S. 30—51) den Bemühungen De- I des Textes, vielfache Vervollftändigung erfahren, da die
litzfch's nicht gelungen, über die Herkunft des Evange- ! letzte Auflage von 1874 datirt. Mit Recht ift Verfaffer
lien-Textes zu ficheren Refultaten zu gelangen. Manches auf diefen Theil feiner Leiftung, zumal die Gefchichte
fpricht für eine Benützung des Vaticanus Ii58, anderes j des gedruckten Textes, welche anerkanntermafsen (vgl.
aber wieder dagegen. Ein ficheres Refultat der eingehen- j mein Lehrbuch S. 67) feine Schöpfung ift, befonders ftolz
den Unterfuchungen Delitzfch's ift dagegen , dafs eine (Vorrede S. VI). Vereinzelte Zufätze hat auch der vierte,
Kopenhagener Handfchrift eine, ja wohl die Haupt- von den Ueberfetzungen handelnde Theil erfahren; fo
quelle für den Text der Apoftelgefchichte und der Briefe 1 felbftverftändlich infonderheit bezüglich der anglo-ameri-
gebildet hat. Es ift Havniensis I., datirt vom Jahre 1278 i kanifchen Bibelrevifion S. 569 (wozu noch die Jahreszahl
n. Chr. (in den kritifchen Apparaten zum Neuen Tefta- I der Publication 1881 zu ergänzen wäre); in der Gefchichte
mente für die Evangelien mit Nr. 234 bezeichnet, für j der Auslegung (5. Buch) und auch des Kanons (2. Buch)
die Apoftelgefchichte und katholifchen Briefe Nr. 57, für treten die Erweiterungen, weil fie wenig Raum einnehmen

die Paulinen Nr. 72). ,Die fonft beifpiellofe UeBerein-
ftimmung diefes Codex in den Acten und Briefen mit
der Complutenfis ift fchon yoi Hensler {Notitia 1784)
und Birch [Variae Lectiones zu den Ew. 1801 p. ClV)
bemerkt worden' (Delitzfch S. 40). Delitzfch hat die

und zumeift die Literaturangaben betreffen, wenig hervor.
Die alte Anlage ift beibehalten, daher hier auch in ftoff-
licher Beziehung der Unterfchied zwifchen diefer und
anderen neueren Bearbeitungen des Stoffes am meiden
in die Augen fällt. Dagegen ift es der erfte Theil, wel-

Handfchrift im Winter 1862/63 em Vierteljahr lang in j eher die Differenzen zwifchen diefer Ausgabe felbft und

Erlangen zur Unterfuchung gehabt; und weift nun in
überzeugender Weife die ftarke Abhängigkeit der Complutenfis
von diefer Handfchrift nach.' Sein Refultat ift
(S. 46), dafs im Text der Apoftelgefchichte die geringen
Abweichungen der Complutenfis vom cod. Hav-

ihren Vorgängerinnen am erkennbarften werden läfst,
fofern diesmal in der Reihenfolge der Paragraphen Um-
ftellungen eingetreten, welche nach des Verfaffers Angabe
(Vorrede S. V) eigentlich fchon in der 5. Ausgabe
angezeigt gewefen wären. Herbeigeführt find fie vor

niensis fich erklären laffen ohne die Annahme, dafs noch I allem dadurch, dafs 1 Tim. und Tit. ftatt inmitten der

eine andere Handfchrift benützt worden fei. Nur die | paulinifchen Briefliteratur nunmehr erft gegen Schlufs

Abweichungen in den Briefen, vor allem im Galater- j der Darftellung (zwifchen 1—3. Joh. und Judas) erfchei-

brief, weifen auf eine zweite Quelle. Als folche vermu- ! nen, dafs ferner Jak. und 1 Petr., welche Briefe früher zu

thet Delitzfch den verfchollenen Codex Rhodienfis, aus I den Denkmälern, die ,aus der Zeit von Paulus' Ausgang

welchem Stunica fünf Lesarten ausdrücklich citirt (f. das ! bis zum Schluffe des eigentlichen apoftolifchen Zeitalters

erfte Heft von Delitzfch's Studien S. 30—32). Aufser
dem könnte der Vaticanus 366 ,ein Beftandtheil des kri-
tifchen Apparates' für Apoftelgefchichte und Briefe gewefen
fein; doch mufs dies zweifelhaft bleiben (S. 35—
39). ■—■ Für den Text der Evangelien ift der Havnien

übrig geblieben find', zählten, jetzt zwar ebenfo charak-
terifirt werden, nur dafs die Lesart ,des im weiteren
Sinne fo zu nennenden apoftolifchen Zeitalters' (S. 136)
auftaucht und im Zufammenhang damit beide Briefe nicht
mehr zwifchen den Paulusbriefen und dem Hebräerbrief

sis zwar auch benützt; die Abhängigkeit der Compl. von | erfcheinen, fondern die jüngere didaktifche Literatur des
ihm ift aber hier eine ungleich geringere. ,An dem j auf die Zerftörung Jerusalems folgenden Zeitraums ein-
Evangelientexte hat ein anderer Codex wenigftens glei- i leiten. Der diefen Schriftftücken gewidmete Text hatte
chen Antheil, und es entfteht von neuem die Frage, ob ! freilich fchon zuvor eine fo refervirte Haltung einge-
nicht Vat. 1158 diefer Cod. ift. Den Verfuch, ob viel- | nommen, dafs er faft unverändert flehen bleiben konnte,
leicht aus diefem Vaticanus und dem Havnienfis zu- ' Nur einige Zufätze, wie namentlich der über den (in-
fammen fich der complutenfifche Evangelientext recon- [ directen) Gegenfatz zwifchen Paulus und Jakobus (S. 219 f.),
ftruiren läfst, müffen wir Anderen überlaffen' (S. 46). — find zu bemerken. Selbftverftändlich erfcheinen auch alle
Mit diefen Worten deutet Delitzfch die Aufgabe an, [ dennoch für Echtheit beider Epifteln angeführten In-
welche zunächft in Betreff der Entftehungsgefchichte des ftanzen nur noch in abgefchwächter Geftalt und auf der
neuteftamentlichen Textes der Complutenfis noch zu [ leichteren Wagfchale. Im nächften Gefolge diefer Flpifteln
löfen ift. Auch die Wiederauffindung des verfchollenen ; treten jetzt Barnabas und Clemens auf, die in den frühe-
Codex Rhodienfis gehört dahin. Aber wenn auch noch i ren Ausgaben erft hinter den johanneifchen Schriften,
manches zu thun ift, fo haben diefe ,Studien' doch fehr j überhaupt ganz am Schluffe der neuteftamentlichen Lite-
wefentlich zur Aufhellung der bisher fo dunkeln Entfte- ratur kamen. Bei diefer Gelegenheit hat der frühere
hungsgefchichte des complutenfifchen Bibeltextes beige- ' § 232, welcher von den kanonifchen Schriften zu den
tragen. ' apoftolifchen Vätern überleitete oder vielmehr diefe

Giefsen. E. Schürer. I Unterscheidung als eine Fiction bezeichnete, Bedeutung

und Leben eingebüfst. Der Judasbrief aber, der noch
vor Barnabas und Clemens einherging, hat jetzt vielmehr
I 2 Petr. im Gefolge und nimmt jene Stelle vor dem