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Ausgabe:

1888

Spalte:

81-86

Autor/Hrsg.:

Tiling, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Das Leben der Christen ein Gottesdienst 1888

Rezensent:

Reischle, Max

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Theologifchc Literaturzeitung. i8bS. Nr. 4.

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Xotenfyftems zu Tage tritt, hat den Vortheil, dafs uns
dadurch die Durchfahrt durch die Stoffmaffe einiger-
mafsen erleichtert wird. Auf genaue Begründung feiner !
exegetifchen Vorausfetzungen und Refultate konnte lieh
der Verfaffer aber auch hier kaum einlaffen. Die meiften
und vielleicht fachlich gewichtvollften Angriffe, die fein j
Werk erfahren könnte, werden dagegen gerichtet fein. Auch
der Unterzeichnete könnte, wenn es darauf ankäme, in
diefer Beziehung einen weitgehenden Diffenfus verzeichnen
. Beifpielsweife fei die kühne Ausdeutung des ßut-
Cto&ai Matth. II, 12 genannt (S. 173). Auch an ficher
hingeworfenen Behauptungen, wie dafs die Hasmonäer
nicht zaddokitifchen Gefchlechts gewefen (S. 46), oder
dafs Mt. 8, 17 allein im erften Evangelium der Grundtext
berückfichtigt fei (S. 121), fehlt es nicht. Manchem
wird auch zu viel Beurtheilung und Räfonnement in die
Forfchung hineingetragen zu fein fcheinen, oder man
wird fich an gewiffen Eigenthümlichkeiten des Stiles und
der Darftellungsweife des Verfaffers ftofsen, die indeffen
meift Folgen feines Ringens nach möglichft bezeichnendem
, fcharf treffendem Ausdruck find. So wenn fich i
z. B. ,auf dem Doppelpfeiler der Leidensnothwendigkeit
und der Parufiehoffnung das zuvor in der Schwebe hängende
Meffiasbewufstfein Jefu bleibend niedergelaffen
hat' (S. 185). Das Alles wird nicht hindern, dafs des Verfaffers
Leiftung ihren Weg mache.

Strafsburg i. E. Holtzmann.

Tiling. Paff. Oberlehr. Wilh., Das Leben der Christen ein
Gottesdienst. Effay, zu Nutz und Frommen der chrift-
lichen Gefellfchaft verfafst. Riga, Stieda, 1885. (XX,
170 S. gr. 8.) M. 3. 60.

Aeufserer Druck, unter weichemeine Kirche zu leiden
hat, bringt zwar dem Glaubensleben derfelben in der
Regel Läuterung und Stärkung, dem Leben der theo-
logifchen Wiffenfchaft aber häufig Verkümmerung. Um
fo erfreulicher ift es, wenn wir aus einer Kirche unter
dem Kreuz, wie die der Oftfeeprovinzen ifb, Proben davon
erhalten, dafs doch das wiffenfehaftliche Intereffe
wach erhalten und rechtfehaffene theologifche Arbeit
getrieben wird. Eine folche bietet der obige Effay, in
welchem der Verf., Paftor und Oberlehrer in Riga, den
Entwurf einer chriftlichen Cultuslehre vorlegt. Wohl-
thuend berührt der ganze Ton der Schrift: es ift dem
Theologen der lutherifchen Kirche um das Lob der
Schriftwahrheit und Bekenntnifstreue zu thun, aber die
überall zu Tage tretende Freiheit des Urtheils gegenüber
der eigenen Kirche und Milde des Urtheils gegenüber
fremden Kirchen erweckt ein günftiges Vorurtheil für
die theologifche Unbefangenheit des Verf.'s. Beweife I
eines durch kirchliche Rücklichten nicht gebundenen Urtheils
giebt Verf., wenn er den Unterfchied zwifchen
Chriftenthum und Kirchenthum einfehärft (p. 39), wenn er
von reformirten Chriften bezeugt, dafs er bei denfelben
mehrmals ein befferes und richtigeres Bekenntnifs zum
heiligen Mahle und zum Heilande felbft gefunden, als
bei den Gliedern der lutherifchen Gemeinden (p. 147),
wenn er fich der todten Infpirationstheorie der lutherifchen
Dogmatik für die Kirche der Gegenwart fchämt
(p. XI), etc. Mit anerkennenswerther Deutlichkeit (teilt
der Verf. der neulutherifchen Amtstheorie den Grundfatz
gegenüber, ,dafs alles, was irgend amtliche Aufgabe ift, I
wefentlich der Gemeinde gehört und den Vertrauensmännern
derfelben übertragen ift' (p. 34).

Es find aber nicht nur einzelne wohlmeinende und
richtige Urtheile, welche uns anziehen, fondern der Verf.
wirbt um unfere Theilnahme durch den Verfuch, die-
felben aus dem Zufammenhang einer fyftematifch dar-
geftellten theologifchen Gefammtanfchauung zu begründen.
Viele feiner leitenden Gedanken haben meine unbedingte
Zunimmung; doch ftatt diefe aufzuführen, will ich lieber

zum Beweis dafür, dafs Verf. feine Lefer zur Ausein-
anderfetzung herauszufordern vermag, einige der Punkte
bezeichnen, an denen ich Widerfpruch erheben mufs,
oder, genauer gefagt, an denen er mir richtige theologifche
Einfichten nicht confequent und ficher genug
durchzuführen fcheint. Im Theil I ,von dem Worte
Gottes' finde ich den Anfatz der Gedankenentwickelung
trefflich: Unfer Herr Chriftus. ,der in Vollmacht
die Seibitoffenbarung Gottes an die Welt befitzt', ift
das Wort Gottes; alsdann erft ift ,in einen ununterbrochenen
Zufammenhang alles und jedes Gotteswort (auch
das eines lallenden Chriftenkindes) auf diefelbe, wenngleich
ablteigende Linie zu fetzen'. Diefer Anfatz würde
wohl am richtiglten fo ausgeführt, dafs gefragt würde,
in welchen Merkmalen fich Chriltus als das perfönliche
Wort Gottes für unferen Glauben bewährt, und dann fich die
Unterfuchung anfehlöffe, wie diefe Merkmale in verfchie-
denem Mafse fich in jeder Bezeugung des Evangeliums
von Cnrifto vorfinden, inwiefern fie aber in ausgezeichneter
Weife bei der heil. Schrift zutreffen, wie jedoch
jener höchfte Mafsftab: ,Chriftus das Wort Gottes', fofort
uns nöthigt, innerhalb der Schrift felbft in fehr verfchie-
dener Abltufung Gottes Wort zu erkennen. Statt deffen
führt der Verf. nach jenem richtigen Ausgangspunkt in
einem neuen Anfatz für die ganze heilige Schrift die
Unterfcheidung des ftufenmäfsig fortfchreitenden Heilslebens
der Menfchen und der in dasfelbe eingreifenden
Offenbarungen Gottes in Wort und That ein, um hierauf
ziemlich weitläufig überden Modus der Infpiration der heil.
Schriftfteller fich zu verbreiten und dann erft wieder auf die
grundlegende Frage zurückzulenken, welche Bedeutung
für die Begründung unferes Glaubenslebens der Schrift
zukommt. Soviel Richtiges nun im F'ortfchritt diefer
Gedankenreihe begegnet, fo fcheint mir diefelbe doch
noch zu viel Nachgiebigkeit gegen die Frageftellung der
alten Infpirationstheorie zu verrathen, deren mechanifche
Auffaffung der Verf. durch eine beffere Einficht in das
Wie der Infpiration befeitigen will. Dabei ift er der
Gefahr nicht völlig entronnen, an Stelle der alten Con-
ftruetion eine neue zu fetzen; eine folche ift es, wenn
die Abfaffung der heil. Schriften A. T.'s reclamirt wird
für die Propheten (auch prophetifch begabte Patriarchen,
Dichter, Könige und Priefter), für lauter Perfonen von
ausgezeichneter natürlich-geiftiger Beanlagung, fittlich-
religiöfer Bildung und heiliger Begabung zu ihrem heils-
gefchichtlichen Berufe. Es ift eine öfters und fo auch
beim Verf. zu machende Beobachtung, dafs bei einer
derartigen Theorie die Berufung auf den Werth der
Schrift für unfer Glaubensleben zurücktritt hinter dem
Gewichtlegen auf die ,fides humana'. — In Theil II ,von
der Sündenvergebung', genauer, von Beichte und
Abfolution, ift der Verf. fchon durch die in der That
fehr glückliche Zufammenftellung des vom Geiftlichen
vollzogenen Abfolutionsactes mit dem vergebenden Handeln
einer Mutter, eines Vaters, eines Erziehers gegenüber
dem zu erziehenden Kinde vor einer hierarchifchen
Anfchauung von der Abfolution bewahrt. Ich meine
aber, durch eine weitere Verfolgung diefer Vergleichung,
und zwar nicht blofs der Aehnlichkeits-, fondern auch der
Verfchiedenheitspunkte, welche fich dabei ergeben, hätte
die Bedeutung der Abfolution von Seiten des Predigers
noch fchärfer umgrenzt werden können. Ein Vater ver-
giebt feinem Kinde, d. h. er fpricht dem Kinde trotz
feiner Verfchuldung wieder die volle (fittliche) Gemein-
fchaft mit fich oder die volle Theilnahme an dem Kin-
desverhältnifs zu; weiterhin wird er dann, wenn er ein
chriftlicher Vater ift, dem Kinde bezeugen, dafs, ebenfo
wie die Vergebung des irdifchen Vaters erfolgt ift, auch
unfer Vater im Himmel ihm vergebe d. h. ihm trotz
der Uebertretung die Freiheit gebe als Kind zu ihm zu
kommen und dafs es Gottes liebes Kind fei, wenn es
kindlich ihn bitte. Der Geiftliche abfolvirt ein Beichtkind
, das kann in die fem Falle nicht heifsen: er

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