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Ausgabe:

1888 Nr. 3

Spalte:

55-57

Autor/Hrsg.:

Wunderlich, Herm.

Titel/Untertitel:

Untersuchungen über den Satzbau Luthers. 1. Thl.: Die Pronomina 1888

Rezensent:

Kawerau, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 3.

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kenntnifs in die Arme wirft; denn ,man ift leichtlich
überzeugt, dafs man folche Artikel glaube', wenn die
Noth gebietet. Aber fchwerlich würde es das luthe-
rifche Bekenntnifs fein. Bei einem Satze wie dem:
,Das Bekenntnifs ift die in Wahrheit regierende Grofs-
macht in der Kirche, und diefe Grofsmacht gilt es wiederum
auf den Thron zu fetzen', vermag ich als Chrift,
als Theologe und als Hiftoriker nur an die römifche
Kirche zu denken; denn neben dem Evangelium giebt
es in alledem, was fich Kirche nennt, nur eine
Grofsmacht — das ift der römifche Papft.

Und das Evangelium hat zur Zeit unter uns keinen
öffentlichen, fetten Ausdruck, dem man fich, wie
einft die alten Apologeten des 2. Jahrhunderts, mit voller
Freude, mit unverletztem Wahrheitsfinn und mit vollkommener
Ehrfurcht hingeben könnte. Man foll das
Evangelium nicht an die Welt verkaufen und es nicht
um feinen heiligen Ernft und um die Verheifsung des
zukünftigen Lebens bringen; aber man kann anderer-
feits nicht mit erkannten Wahrheiten capituliren, und
diefe fchneiden den überlieferten Bekenntnifsen ins Mark,
mögen wir Theologen auch einen unvergänglichen
Kern in ihnen ermitteln können. Das ift die Krife
der Krifen. Der Verfaffer fchildert im letzten Ab-
fchnitt feines Buches in ergreifender Weife die Situation
', die Moral des Antichriftenthums, den Kampf
zwifchen materialiftifcher und chriftlicher Weltan-
fchauung. Hier fällt kein Wort über das Bekenntnifs
des 16. und 17. Jahrhunderts: es ift die chriftliche Moral
und der Glaube an Jefus Chriftus, auf die er vertraut.
Aber die Situation ift doch nicht in ihrer ganzen Gefährlichkeit
gefchildert: wir kämpfen als evangelifche
Chriften mit einem gefchloffenen, furchtbaren Gegner,
dem Geilte diefer Welt und diefer Zeit, und wir ftehen
dabei im eigenen Lager in einem gewaltigen Widerftreit
und in einer Krifis, die kein guter Wille zu befchwich-
tigen vermag. Die romantifchen und philofophifchen
Mittel, mit denen fich zwei Generationen über den Wider-
fpruch ihres Glaubens und der alten Bekenntnifse hinweg-
getäufcht, find verbraucht; der Wind der Gefchichte hat
fie im Zeitalter des Realismus verweht. Fortab befitzen
wir nur das Mittel der Autorität, um die Hervorbringungen
älterer Zeiten in vollem Umfang als zutreffenden
Glaubensausdruck in Geltung zu belaffen.
Aber wo die Autorität regiert, da wird das evangelifche
Chriftenthum über kurz oder lang das Feld
zu räumen haben. Es ift heute wieder, wie im ^.Jahrhundert
: ,eine auffteiger.de Bewegung trägt feit dem
Beginn unteres Jahrhunderts bis in unfere Tage das
chriftliche und kirchliche Princip empor". In kräftigen
Beftrebungen und Thaten erweift fich das Chriftenthum
als eine Lebensmacht; voran fchreiten unzweifelhaft die
Kreife, welche man die pofitiven nennt. Aber auf Allem
liegt wieder wie damals ein Bann, die Laft der Vergangenheit
. In halben Bekenntnifsen, in Vertufchungen
und Klitterungen bewegt man fich, und Alles droht dadurch
kümmerlich, parteiifch und unwahr zu werden.
,Nihil veritas erubescit nisi solummodo abscondd — diefer
erhabene Satz gilt auch von der evangelifchen Wahrheit
; fie kann nur dann eine Kraft bleiben, die uns
trägt, wenn wir nichts an ihr zu tragen haben.

Marburg. Adolf Harnack.

Wunderlich, Dr. Herrn., Untersuchungen über den Satzbau
Luthers. i.Thl.: Die Pronomina. München, Lindauer,
1887. (72 S. gr. 8.) M. 1.50.

Da die hier begonnenen, von Wilmanns in Bonn
angeregten, von M. Bernays in München geförderten
Unterfuchungen lediglich den Zwecken des Germaniften
dienen, fällt eine Befprechung über ihren Werth als Beitrag
zur deutfchen Grammatik aufserhalb der Competenz

eines theologifchen Berichterftatters. Für diefen befteht
das Intereffe darin, dafs fie dem Herausgeber refp. Benutzer
deutfcher Luthertexte Regeln und Materialien darbieten
, um den Luther'fchen Sprachgebrauch daraus erkennen
und fomit in zweifelhaften Fällen Textkritik üben
zu können. Da die Regeln nur auf dem Wege der In-
duction zu gewinnen find, fo handelt es fich darum, ob
in genügendem Umfang Erhebungen über den Sprachgebrauch
ftattgefunden haben, ob alfo die Grundlage
der Arbeit breit genug gewählt ift. In diefer Beziehung
feien mir einige Bemerkungen geftattet. Der Verf. benutzt
aus der Weimarer Ausgabe nur die 7 Bufspfalmen;
dann ,chriftlichen Adel' in Braune's Neudruck; ferner

7 Schriften von 1520—-1530 in Originaldrucken, fodann

8 Schriften von 1525—1545 nach der Erlanger Ausgabe,
endlich die älteften Briefe nach dem I. Bande der En-
ders'fchen Ausgabe. Hier fällt zunächft auf, warum nicht
die deutfchen Schriften, foweit fie in Bd. I und II der
Weimarer Ausgabe jetzt vorliegen, vollftändig benutzt
worden, ebenfo warum nicht die Neudrucke der Nie-
meyer'fchen Sammlung vollftändig herangezogen worden
find. Da waren doch für Jedermann leicht zugängliche
Materialien vorhanden, deren Uebergehung fchwer ver-
ftändlich ift. Ich bringe einige Beifpiele dafür bei, wie
von hier Ergänzungen und auch Berichtigungen, refp.
Einfchränkungen zu den Aufftellungen des Verf.'s zu gewinnen
find. Für Luther's Neigung, das Pronomen der
1. Perfon beim Verbum auszulaffen, ift z. B. Weim. Ausg.
I 391, 29 nachzutragen; für die Neigung, nach ,fondern'
den Nebenfatz zu verlaffen und im Hauptfatz fortzufahren
I 269, 1. Bei der Regel, dafs das Pronomen der 3. Perfon
meift der Vertretung einer bereits genannten
Perfon oder Vorftellung diene (S. 21), wäre jenes ,meift'
durch Beifpiele wie I 267, 23 u. 28, wo das Pronomen
auf erft nachfolgends benannte Perfonen bezogen ift, zu
erläutern. Der Regel (S. 42), dafs Luther nicht mehr
das einfache pron. demonstr. ,der, die, das' adjectivifch
verwende, fondern dafür ,diefer' einfetze, widerftreitet

I 271, 29 ,denn das (= diefes) Heilthum hat Gott felbs . .
| geheiliget'. Ebenfo mufs ich unter Hinweis auf I 269, 25;

II 81, 31. 88,23. 89, 7 beftreiten, dafs die fubftantivifche
Verwendung von ,diefer' bei Luther fo feiten fei (S.43).
Auch die auf S. 57 gewonnene Regel, dafs bei Luther
die lateinifche Anwendung des Relativs ftatt demonftra-
tiver Beiordnung zumeift nur bei Verdeutfchungen aus
dem Lateinifchen fich einftelle, kann ich dem Verf. nicht
zugeben; man vergleiche nur die zahlreichen Beifpiele,
die fich auf wenigen Seiten der Weim. Ausgabe bei einander
finden in Luther's urfprünglich deutfch gefchrie-
bener Vater-Unfer-Auslegung: II 83, 23. 95, 21. 25. 28.
33. 100, 38. — In einem Falle hat der Verf. den von ihm
ermittelten Sprachgebrauch zur Bekämpfung einer von
Knaake vorgenommenen Textcorrectur verwendet; aber,
wie mir fcheint, mit ungenügender Beweisführung. Knaake

hat 1168,24 f- (,Sund ift das bofze der natur----darumb

fpricht, das got die felb nit zurechnet') hinter ,fpncht'
ein ,er' eingefchaltet; nun weift Wunderlich darauf hin,
dafs Luther auch fonft gerade bei ,fpricht' das Pronomen
auslaffe. Aber das von ihm beigebrachte Zeugnifs ift ja
ganz anderer Art: ,Alfo hatt derprophet auch gefagt,
Es follen . . klagen all gefchlecht der erden, fpricht
nitt, fie follen —'. Hier ift ja das Fehlen des Pronomen
bei ,fpricht' ganz regulär, da das Subject ,der prophet'
vorherfteht; aber eben diefes Subject fehlt in der von
Knaake m. E. mit vollem Rechte corrigirten Stelle. Ueber-
rafchend ift mir auch die Bemerkung auf S. 24, dafs
Luther den Abfchlufs einer Vorftellungsreihe, an welche
eine neue durch Pronomen angefchloffen werde, nicht
immer durch Kolon andeute. Braucht denn überhaupt
Luther das Kolon in unferem Sinne? Ich will dem Verf.
Wittenberger Originaldrucke — und von den Drucken, nicht
von Handfchriften Luthers handelt ja der Verf. — zeigen,
in denen das Kolon überhaupt nur in gewiffen gothifchen