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Ausgabe:

1888

Spalte:

651

Autor/Hrsg.:

Clasen, L.

Titel/Untertitel:

Das ungleiche Mass und die wahren Ziele evangelischer Kirchenpolitik 1888

Rezensent:

Köhler, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 26.

Clasen, Paft. L., Das ungleiche Mass und die wahren Ziele
evangelischer Kirchenpolitik. Halle, Strien, 1888. (V,
59 S. gr. 8.) M. —. 80.

Das ,ungleiche Mafs', von dem der Verf. redet, ift
das zweierlei Mafs, womit feit dem Culturfrieden zwar
nicht von dem ,Staate' insgemein, aber leider doch von
dem preufsifchen Staate der römifchen und der evange-
lifchen Kirche gemeffen wird. Er fagt darüber ernfte
und fcharfe Worte, aber kein Wort zu viel. Ob es nach
dem Eintreten der allerneueften Phafe des Verhältnifses
zu Rom damit anders werden wird, bleibt abzuwarten,
wahrfcheinlich ift es nicht. Als die wahren Ziele, welche
durch die gegebene Sachlage der evangelifchen Kirchenpolitik
gewiefen find, bezeichnet der Verf. fodann:
,1. reichlichere Ausrüftung der evang. Kirche mit materiellen
Mitteln und gröfsere Selbftändigkeit gegenüber
dem Staate, fowie ein richtiges engeres Verhältnifs zum
Staate, 2. engere Vereinigung der Evangelifchen zu ge-
meinfamen Zwecken und vor allem zu gemeinfamem
Kampfe gegen Rom'. Auf das Sachliche feiner Ausführungen
einzugehen, ift in einem Literaturblatte nicht der
Ort. Es mufs genügen, zu fagen, dafs fich überall ein
richtiger Blick in das Wefen der Dinge (z. B. das rechte
Verhältnifs von Kirche und Staat, die Wege zum inneren
Ausgleich der fich bekämpfenden theologifchen Richtungen
), ein klares, mafsvolles Urtheil und ein warmes
Herz für Kirche und Vaterland erkennen laffen. Man
kann der kleinen Schrift nur wünfchen, dafs fie fleifsig
gelefen und wohl beherzigt werde.

Darmftadt. K. Köhler.

Gallwitz, Paft. H., Die Lebensbedindungen der evangelischen
Volkskirche. Halle, Strien, 1888. (52 S. gr. 8.) M. —. 80.

Dem Schlufsfatze des Verf.'s: ,So lange das evang.
deutfche Volk fich noch nicht bewufst von feinem chrift-
lichen Beruf und feiner Kirche losgefagt hat, ift es unfere
Pflicht, alle die Mittel anzuwenden, durch welche nach
menfehlichem Hoffen und Ermeffen die evang. Volkskirche
erhalten werden kann', ift unbedingt zuzuftimmen.
Die ernfte Krifis, welche die deutfeh-evang. Kirche als
Volkskirche zur Zeit zu beftehen hat, wird von ihm mit
eindringendem Blick und richtigem Urtheil dargelegt.
,Gott hat eine Fülle hervorragender chriftlichcr Perfönlich-
keiten erweckt, aber das eigenthümliche chriftliche Leben,
welches in einer Volkskirche pulfiren mufs, zeigt Symptome
einer gefährlichen Krankheit, der Schwindfucht' (S. 51).
Die übliche Verfahrungsweife der inneren Miffion, führt
er weiter aus, ja auch Predigt und Seelforge, wo fie los-
gelöft von einer feften Gemeindeordnung, nur individuell
wirken, können den drohenden Auflöfungsprocefs der
evang. Volkskirche nicht aufhalten, nur fördern. Was
noth thut, find fefte fittliche und kirchliche Ordnungen,
durch welche die Kirche fich als eine fittliche Macht im
Volksleben offenbart und dem Einzelnen einen Halt
bietet. Es handelt fich darum, ,dem eingeriffenen Schlendrian
in der Theilnahme am kirchlichen Leben und der
fittlichen Zuchtlofigkeit zu wehren'. ,Das kann auf wirk-
fame Weife nur dadurch gefchehen, dafs fefte Normen
gefchaffen und die Widerftrebenden unter kirchliche Zucht
geftellt, eventuell auf Zeit aus der Gemeinde ausgefchloffen
werden. Das ausführende Organ ift für die Einzelgemeinde
der von der Gemeinde felbft gewählte Gemeindekirchenrath
, welcher anzuleiten ift, die allgemeinen
kirchlichen Ordnungen zur Ausführung zu bringen' (S. 50).
Daneben fteht freilich die Einfchränkung: ,Es läfst fich
ein folcher Bau chriftlicher Volksgemeinfchaft nur auf
dem überfichtlichenTerrain der Landgemeinden errichten;
aus der fluetuirenden Maffc der Stadtbevölkerung werden
immer nur kleine Perfonalgemeinden durch das Netz der
Predigt, der Seelforge und der inneren Miffion zufammen-
gebracht werden' (S. 49). Das heifst m. a. W., dafs in

den grofsen Verkehrs- und Volksmittelpunkten, den
Städten, die angekündigte Auflöfung der Volkskirche und
Sammlung der befferen Elemente in Freigemeinden ihren
ungehemmten Verlauf haben müffe. Ob die Hoffnung
des Verf.'s, dafs, wenn es nur einmal auf dem Lande
gelungen fei, die erfehnte ftramme Gemeindeordnung zu
Stande zu bringen, von dort eine heilende Einwirkung auf
die ftädtifchen Verhältnifse ausgehen werde, fich erfüllen
würde, ift zu bezweifeln: erfahrungsgemäfs ift der Gang
focialer Entwickelungsproceffe immer der umgekehrte,
von den Städten auf das Land. Auch ob in der Mehrzahl
der Landgemeinden, wie jetzt die Dinge flehen, das
Programm des Verf.'s Ausficht auf Verwirklichung hätte,
mufs dahin geftellt bleiben, hlr hat ganz Recht: das
Pleil nicht allein Deutfchlands, fondern der Welt hängt
daran, dafs die deutfeh-evangelifche Volkskirche als
folche in Beftand und Wirksamkeit bleibe, und fie wird
auch bleiben; aber .machen' läfst fich das weder fo, noch
fo. Die Krifis des geiftigen Lebens, worin wir uns befinden
, mufs erft innerlich durchgearbeitet fein; dann
werden auch die erfchreckenden Symptome, die fich in
dem äufseren Kirchenleben zeigen, allmählich fchwinden.
Kirchenregimentliche Mafsregeln oder Bemühungen
chriftlicher Vereinsthätigkeit können den Verlauf erleichtern
, günftige Bedingungen dafür fchaffen, Hindernifse
befeitigen, aber keine Heilung herbeiführen, bevor die
Zeit erfüllet ift.

Darmftadt. K. Köhler.

Denkschrift über die evangelisch-lutherische Gemeinde in Mülhausen
(Ober-Elfafs). Ihre Entftehung, ihre Kämpfe,
ihre Nöten. Die Unionsgefahr in Elfafs-Lothringen.
Strafsburg [Vomhoff], 1888. (24 S. gr. 8.) M.—.30.

Der ftellvertretende Staatsfecretär von Elfafs-Lothringen
theilte (S. 18) dem Directorium des Augsburger Be-
kenntnifses am 21. Nov. 1887 mit, dafs er fich .nicht in
der Lage fehe, ftaatliche Mittel für eine in Mülhaufen
zu bildende Gemeinde der Kirche ,Augsb. Conf.' in
Ausficht zu ftellen, da das im Gefuche behauptete Be-
dürfnifs z. Z. jedenfalls nicht befteht'. Im Gefuche war
daraufBezug genommen, dafs (S. 14) bei der Volkszählung
im Dec. 1885 von den Bewohnern der ehemaligen Reichs-
ftadt Mülhaufen 1088 als Lutheraner, 52 als Evangeli-
fcheAugsb. Conf. und 472 alsEvangelifch-Luthcrifche
eingetragen worden waren. Dagegen hatten fich als ,Re-
formirte' 8064 (fodann als .Zwinglianer' 5, als ,Calviniften'
14), als .Proteftanten' 2572 u. als ,Evangelifche' 2854 eingezeichnet
.

Der Presbyterialrath zu Mülhaufen verwahrte fich bereits
am 27. Juni 1881 (S. 6) gegen eine ,Spaltung' aus
folgenden Gründen: ,Gefchichtlich betrachtet ift die
evang. Confiftorialkirche zu Mülhaufen dem ref. Be-
kenntnifs beigetreten, thatfächlich hat fie fich feit mehr
als 4 Jahrzehnten auf den Standpunkt der pofitiv-evan-
gelifchen Union geftellt, indem fie eine Reihe von Can-
didaten der ,Augsb. Confeffion' (dermalen die Hälfte der
Pfarrer) ,zu erledigten Pfarrftcllen berufen hat. Sämmtliche
Geiftliche des Confiftorialbezirks flehen auf dem Boden
des beiden prot. Confeffionen gemeinfamen Glaubensgrundes
, des feligmachenden Evangeliums von Chrifto.
Der hiefige .evangelifche Katechismus' ift feinem we-
fentlichcn Inhalte nach eine Verlchmelzung des kleinen
Katechismus Luther's und des Heidelberger'. Das evang.
Gefangbuch trägt gleichfalls den Stempel der pofitiv-
evangelifchen Union. Zum Bchufe der liturgifchen Handlungen
und Gebete bedienen wir uns des württem-
bergifchen Kirchenbuchs. Das heil. Abendmahl wird
genau der Einfetzung des Herrn gemäfs verwaltet und
mit feinen eigenen Stiftungsworten ausgctheilt. Unfere
Lofurig ift: ,1m Nothwendigen Einheit, im Zweifelhaften
Freiheit, in Allem Liebe.' (S. 7).