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Ausgabe:

1888

Spalte:

621-623

Autor/Hrsg.:

Schiller, Jul.

Titel/Untertitel:

Probleme aus der christlichen Ethik 1888

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Hfcher Frömmigkeit fehen. Diefer Satz ift aber nur dann
richtig, wenn hinzugefügt wird, dafs diefe Gewifsheit allein
durch die objectiven Mächte des ewigen Gefetzes
und der gefchichtlichen Offenbarung Gottes in Chriftus
begründet wird. — Der Verf. beftreitet Ritfchl's Satz,
dafs die Heilsgewifsheit nicht daran geknüpft werden
dürfe, dafs man den Zeitpunkt und die regelrechten Um-
ftände feiner Wiedergeburt nachweifen könne. Er meint
dagegen, diefer Zeitpunkt werde allerdings immer ins
Bewufstfein fallen, nur dafs die Sache damit nicht als
erledigt anzufehen fei. ,Es bleibt ein Procefs, der immer
wieder erneuert werden mufs'. Und das will lutherifche
Theologie fein! Luther fagt bekanntlich von der Wiedergeburt
: ,diefe Geburt wird nicht gefehen noch gegriffen,
fondern allein geglaubt'. Von der Kraft des im Glauben
entftehenden Gedankens, Gott habe uns, trotz allem, was
wir an uns felbd wahrnehmen, zu neuen Menfchen gemacht
, fcheint der Verf. alfo keine Erfahrung zu haben.
— Am Schluffe des Ganzen enthüllt der Verf. feinen
theologifchcn Standpunkt als den von Daniel Schenkel
. Das Fundament aller Religion ift ihm ,das rappor-
tirende Gewiffen als das fittlich religiöfe Centraiorgan
des Menfchen'. Wir entgegnen dem: das Gewiffen kann
irren, auch das des Herrn Paftors W. Schmidt; aber das
Gefetz Gottes und die Offenbarung Gottes in Chriftus
können wir dem Menfchen, der das erftere noch ver-
ltehen kann, als die Wahrheit expliciren, die ihn frei
macht. Gegenüber unferm Satze, dafs Chriltus allein uns
ZU einem wahrhaftigen Verkehr mit Gott emporhebt, |
fagt der Verf.: ,auf welchem Wege und in welcher Weife
hat dann Chriftus feine Offenbarungen erhalten? und was
bürgt uns für die Zuverläffigkcit feiner Offenbarungen,
wenn doch die ftärkfte fubjective Gewifsheit keine Gewähr
in fich trägt? A'on liquct1. Danach mufs ich dem
Verf. rathen, er möge die Perfon Jefu in ihrer wunderbaren
Thatfächlichkeit nur kennen lernen. Er wird dann
nicht mehr von Offenbarungen reden wollen, die Chriftus
empfangen habe, fondern von Gottes Offenbarung
in Chriftus. Wenn er erft recht von Chriftus ergriffen
ift, wird er auch keinen Anftofs mehr daran nehmen,
dafs nach unferer Meinung die Thatfache diefer Perfon
in der Welt das unerforfchliche Geheimnifs Gottes bleibt
und von keinem Menfchen nach ihrer Möglichkeit erklärt
werden kann. ,Dic ftärkfte fubjective Gewifsheit' giebt
uns allerdings nicht die höchfte Gewähr; fondern der Um-
ftand, dafs wir in dem, was wir glauben, die Wahrheit
verftehen und von ihr Rechenfchaft geben können. Ein
Schüler Ritfchl's hat fchon vor IO Jahren in einem Buche,
deffen Gründlichkeit fonft auch von Gegnern nicht be- I
dritten id, den Nachweis verbucht, wie allein die Wahrheit
unferes Glaubens erfafst und auscinandergefetzt werden
könne. Hätte der Verf. diefes Buch gekannt, fo hätte
er die Anklage, mit welcher er fchliefst, nicht erheben
können. Wir aber fragen fchliefslich, wie es möglich
fei, dafs ein offenbar höchd mangelhaft gebildeter Theo- |
log, deffen Vordellungcn noch fehr der Klärung bedürfen,
bevor er evangelifches Chridenthum verdehen und unbedachten
Widerfpruch gegen dasfelbc vermeiden kann,
in einer grofsen kirchlichen Verfammlung ungetheilten
Beifall ernten und feitens zahlreicher theologifcher und
kirchlicher Organe Unterdützung finden konnte.

Marburg. W. Herrmann.

Schiller, Pfr. Jul., Probleme aus der christlichen Ethik.

Berlin, Reuther, 1888. (VII, n6 S. gr. 8.) M. 2. —

,Nicht für die Oeffentlichkeit waren diefe Blätter ur-
fprünglich bedimmt. In der ländlichen Stille und Ein- j
famkeit find diefe Skizzen auf das Papier geworfen worden,
um dem Verfaffer perfönlich zu einiger Aufklärung über
diefe tiefen, die Menfchheit von alters her bewegenden
Fragen zu verhelfen. Sein jetziger Beruf gedattet ihm
nicht mehr, die letzte Feile anzulegen, zu dreichen, zu

ändern und zu beffern. Er id zufrieden, wenn feine Arbeit
die Brüder im Amte dazu animirt, ihrerfeits den bekannten
Problemen neue Beachtung zu fchenken. Vielleicht
wird auch der theologifchen Jugend, die im Examen
zuweilen in Verlegenheit darüber id, wie fie ethifche
Themata anzufaffen habe, ein kleiner Diend mit diefer
Schrift erwiefen, die, weit entfernt davon, Muderauffätze
bieten zu wollen, jedenfalls für Jedermann verdändlich
id' (S. V—VI). Der in fo anfpruchslofer Weife angedeutete
Zweck diefes ,den deutfehen evangelifchen Geid-
lichen in Ehrfurcht und Liebe' gewidmeten, mit dem
Motto Matth. X, 32 verfehenen Büchleins, id ohne Zweifel
erreicht worden. Sechs Probleme unterwirft der Verfaffer
einer eingehenden Unterfuchung: I. Die Adiaphora
und das Erlaubte (1—21), II. die Askefe (22 — 30), HI. das
Gelübde (31—39), IV. das Gewiffen (40—70), V. die
Collifion der Pflichten (71—90), VI. die Freiheit des
menfehlichen Willens (91 —116). Die Sprache id überall
klar und einfach, frifch und lebendig, ohne jede fchola-
difche Pedanterie. Die Dardellung zeugt von grofser Bt-
lefenheit; unter den theologifchen Ethikern werden Mar-
tenfen, Wuttke, Beck und Luthardt mit befonderer Vorliebe
erwähnt und verwerthet; aber auch Schleiermacher
und Rothe finden, wenn gleich in vielleicht nicht gebührendem
Mafse, Beachtung. Dem Zwecke des Ver-
faffers wäre es wohl entfprechend gewefen, wenn die ethi-
fchen Anfchauungen unferer Reformatoren eine voll-
dändigere und genauere Berückfichtigung erfahren hätten.
Die mafsvolle, befonnene Beurtheilung der fchwierigden
ethifchen Fragen, die Fülle von werthvollen praktifchen
Winken und Anregungen, die billige Würdigung der geg-
nerifchen Anflehten, machen einen wohlthuenden Eindruck
und verrathen einen feinen chridlichen Tact und
eine durch Erfahrung geübte und bereicherte feelforger-
liche Weisheit. — Indeffen dürften wohl nach zwei Seiten
hin wefentliche Ausflellungen erhoben werden. In den
meiden Fällen wird man den Refultaten des Verfaffers feine
Zuflimmung nicht vertagen können; allein in der Stellung
der Fragen giebt fich häufig ein gewiffer Mangel an
Schärfe und Bedimmtheit zu erkennen, und die Begründung
der entwickelten Anflehten greift nicht entfehieden
genug auf klare und fede Principien zurück. Daher
die Unficherheit, welche die Behandlung einzelner Probleme
beherrfcht; daher auch die Unmöglichkeit, die fechs
in lofer Reihenfolge neben einander gedellten Capitel auf
eine einheitliche Grundlage und eine zufammenfaffende
Grundanfchauung zurückzuführen. Die vermifste Einheit
würde wahrfcheinlich der Verfaffer in dem Bedreben nachweifen
wollen, die ethifchen Fragen mit Hülfe pofitiver
Schriftausfagen zu löfen. Hier aber liegt, m. E., ein
zweiter Mangel vor. Die Verwendung der heiligen Schrift
findet ohne irgend welche Methode datt; nirgends wird es
dem Lefer klar, welche Bedeutung und welches Anfehen
dem Neuen Tedamente auf dem Gebiete der chridlichen
Ethik zukommt; nirgends erfährt man, ob irgend welche
Grenzen bei der Verwerthung des biblifchen Stoffes einzuhalten
find; die wichtigden, das chridliche Handeln direct
normirenden Ausfprüche denen auf gleicher Linie mit zufälligen
, durch Zeit und Ort bedingten Ermahnungen und
Vorfchriften; einzelnen, aus dem A. T. gefchöpften Bei-
fpielen wird ein nicht geringerer Werth beigelegt als
neutedamentlichen Ausfagen. Die Rathlofigkeit diefes
Verfahrens rächt fich dadurch, dafs auch folche Anflehten,
die pofitiv aus dem chridlichen Ethos erwachfen find,
ihren organifchen Zufammenhang mit den neutedamentlichen
Vorausfetzungen nur in undeutlicher Weife zu erkennen
geben. — Einzelne Ungenauigkeiten und Irrthümer
kommen in den gefchichtlichen Notizen nicht feiten vor.
Befremdend id die Bezeichnung von Rouffeau als ,Schau-
fpieldichter', welcher das Sittenverderbliche zumal bei
Bühnen kleiner Städte zugedanden habe! (S. 6). (Dem
Verfaffer fchwebt wohl der berühmte, an d'Alembert gc-
fchriebene Brief contre les spectacles vor?) — Von wei-