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Ausgabe:

1888

Spalte:

574-579

Autor/Hrsg.:

Kähler, Martin

Titel/Untertitel:

Die Wissenschaft der christlichen Lehre, von dem evangelischen Grundartikel aus im Abriß dargestellt. 3. Heft: Ethik 1888

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

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Theologifche I.iteraturzeitung. 1888. Nr. 23.

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hat, wenn Luther gelegentlich den Bufskampf, wie er
felbft ihn kannte, als eine allgemeingiltige Erfahrung für
alle Chriften bezeichnet habe. Kennt etwa Frank die
Stellen nicht, in welchen Luther felbft wiederum folche
Erfahrungen als individuell bedingte hinftellt, die Gott
nicht über jeden Chriften verhänge? Wenn Frank alsdann
Ritfchl's Worte dahin interpretirt, der Chrift brauche
überhaupt keine Gewiffensnoth zu kennen, er könne fich
jeder derartigen Anwandlung gegenüber mit der Belehrung
helfen, die Gemeinde, zu der er gehöre, habe
ja die Sündenvergebung bereits empfangen: fo ift dies
eine fo ftarke Ungerechtigkeit, dafs Frank fich derfclben
wahrscheinlich bald felbft fchämen wird. Es ift doch
feltfam. Ich habe in meinem Buche ,der Verkehr des
Chrilten mit Gott' auf der Bahn, die Ritfehl gebrochen
hat, zu zeigen verflicht, wie der Chrift fich immer von
Neuem des Wunders verfichere, dafs Gott ihm wirklich
vergiebt. Andere dagegen, wie Frank und Lipfius, verkündigen
als Ritfchl's Lehre, dafs die Vergebung der
Sünden ,gar nichts Befonderes' fei, fondern von dem
Chriften aus einigen allgemeinen Belehrungen gefolgert
werde. Diefer feltfamc Unterfchied in der Interpretation
Ritfchl's dürfte fich daraus erklären, dafs ich von Ritfehl
etwas zu lernen fuche, wozu jene in ihrem Eifer, ihn zu
bekämpfen, keine Zeit finden. — Auch hier hat Frank
den oft gehörten Einwurf gegen Ritfehl ausgefponnen,
die Gemeinfchaft mit Gott fei für den Chriften nicht blofs
Mittel zu dem Zweck, ihn in die innere Verfaffung der
Überlas christiana zu verfetzen, fondern fie fei Selbftzweck.
Hierbei bemerke ich, dafs es vielleicht thörichte Schüler
Ritfchl's geben mag, welche die hierher gehörigen Sätze
Ritfchl's mifsbrauchen, weil fie diefelben nicht verftanden
haben. Solchen mag jener triviale Einwurf, auf den auch
Lipfius grofsen Werth zu legen fcheint, von Nutzen fein.
Wir dagegen kennen die Wahrheit, die in jenem Einwurf
liegt, recht wohl. Aber wir müffen hinzufügen, dafs wir
wahrhaftige Gemeinfchaft mit Gott nur fo haben können,
dafs wir ihn in feiner lebenfehaffenden Kraft kennen
lernen. Unfcr Gott erhebt uns zu fich in dem wunderbaren
Erlebnifs, dafs er uns innerlich von Noth und
Sünde frei macht und uns damit wahrhaftiges Leben
giebt. Alfo ift es falfch, was Frank fchreibt, zu der ungetrübten
Gemeinfchaft mit Gott, dem höchften Gut, trete
erft folgeweife die Erhebung über die Welt. Eine Con-
templation Gottes, welche ihn nicht als den im Moment
wirkfamen Helfer und Erlöfer anfehaut, mag alles Andere
fein, aber Erlebnifs der Gemeinfchaft mit Gott ift fie
nicht. Der Raum verbietet ein weiteres Eingehen. Aber
ich erbiete mich, bei faft allen einzelnen Punkten zu
zeigen, dafs Erank's Polemik ebenfo nichtig ift, wie bei
jenen, und dafs er die ftärkften Verdrehungen der Meinung
feines Gegners fich mehrfach erlaubt hat. Nur zwei
Dinge mufs ich hier noch berühren. Frank citirt den
folgenden Satz Ritfchl's: ,In der katholifchen Lehre zwar
von der Gcrechtmachung kommen die guten Werke als
der Zweck derfelben in Betracht, niemals aber in der
evangelifchen Lehre von der Gerechtfprechung'. Dazu
fagt Frank: ,Eine ganz exorbitante Behauptung, die allein
genügt, um die hier vorliegende Gefchichtsverdrehung
zu charakterifiren'. Diefer Ausfall auf feinen Gegner wird
für Frank nur dadurch möglich, dafs er feinen Lefern
die Einfchränkung, welche der Satz Ritfchl's in zwei unmittelbar
angefchloffenen Sätzen findet, unterfchlägt.
Weifs Frank das nicht? Ueber mich fchreibt Frank: ,Noch
naiver freilich, man möchte fagen kindlich, ift die Weife,
wie W. Herrmann die Pofition feines Meifters zu ver-
theidigen fucht. Der Liebe, fagt er (Theol. Literaturzeitung
188r, S. 528), welche wir meinen, brauchen wir
nichts hinzuzufügen, um fie in die Sphäre Gottes zu erheben
. Sehr fchön! Vollkommen einverftanden! Wir
fagens nicht laut, flüftern uns aber ins Ohr: göttliche
Liebe ifts, die wir meinen. Das Weitere findet fich'. Wenn
ich nun das wirklich gefagt hätte, was Frank als meine

■ Meinung mittheilt, fo würde ich vielleicht die verächtlichen
Prädicate verdienen, welche Frank mir beilegt.
Frank weifs aber fehr wohl, dafs ich an jener Stelle den
Satz nicht fo fortfetze wie er es thut, fondern vielmehr
fage: Die in Chriftus uns erfchienene Liebe fei die
Liebe, die wir meinen. Durch die Gewalt, welche diefe
in der Gefchichte wirkliche Gröfse auf uns ausübt, würden
wir erft in den Stand gefetzt, die Gedanken der Allmacht,
Allgegenwart als feft begründete Glaubensgedanken zu
faffen und fie jener Liebe als Prädicate beizulegen. Daher
fei es richtiger, nicht diefe unter dem Namen ,das
Abfolute' zufammengefafsten Prädicate ,das Wefen Got-

I tes' zu nennen, wie Frank thut, fondern die in Chriftus
uns erfchienene Liebe. Dafs Frank feinen Lefern gegenüber
dies verfchweigt, um fich in jener Weife über mich
äufsern zu können, thut mir herzlich leid. Ich bedauere
aber auch, dafs Frank das von mir an jener Stelle Ausgeführte
nicht ernftlich in Erwägung gezogen hat. Wenn
er es gethan hätte, fo würde er vielleicht die zweite Beigabe
zu feinem Vortrag nicht gefchrieben haben.

Marburg. W. Herrmann.

Kahler, Prof. Dr. Martin, Die Wissenschaft der christliche"

Lehre, von dem evangelifchen Grundartikel aus im
Abriffe dargeftellt. 3. Hft.: Ethik. Erlangen, Deichert,
1887. (IX—XII u. S. 461-676. gr. 8.) M. 3. 20.

Später wohl, als er urfprünglich beabfichtigt oder
gehofft, hat Kähler das letzte Heft feines Abrilfes der
chriftlichen Lehre erfcheinen laffen. Dasfelbe behandelt
die Ethik. Das erfte Heft (Apologetik) war 1883, das
zweite (Dogmatik) 1884 ausgegeben. Ich habe über diefe
Hefte in der Th. Litztg. 1885, Nr. 2, gehandelt. Fls ift K.
vergönnt worden, was nicht vielen Theologen zu Theil
wird, das Ganze der chriftlichen Lehre nach feiner Auf-
faffung darzuftellen. Man darf ihm herzlich Glück wün-
fchen zu dem erreichten Abfchluffe des Werkes. Es war
gewifs eine Erleichterung der Arbeit für ihn, wenn er
nicht mehr unternahm, als nur einen ,Abrifs' zu geben.
Aber das foll unfern Dank nicht verringern. ,Die mir
vor Augen flehende Aufgabe in einer ausgeführten Entwicklung
zu löfen, das Unternehmen würde leicht ein
Verfuch und Bruchftück bleiben, wie fchon andere zuvor
geblieben find': diefe faft wie eine Entfchuldigung, deren
es doch jedenfalls nicht bedurfte, klingenden Worte der
Vorrede, mit welcher K. feiner Zeit das erfte Heft ent-
liefs, deuten wohl auf perfönliche Verhältnifse als Grund
für die Befchränkung, die er fich auferlegt hat. Es mag
für ihn keine geringe Entfagung gewefen fein, Alles
dem Gewichte einer kurzen thetifchen Darlegung zu über-
laffen und feine Gedanken nicht durch eine ausdrückliche
Auseinanderfetzung mit gegnerifchen Auffaffungen decken
zu können. Er darf immerhin mit einem Sapienti sat!
auf fein Werk hinblicken. Wenn nur der ,sapieutes' unter
den Theologen mehr anzutreffen wären. K.'s Werk fetzt,
um verftanden zu werden, recht viel theologifche Erudition
voraus. Ich rechne zur theologifchen Erudition
in erfter Linie die Fähigkeit, fremde Gedanken in ihrer
eigenen Ausdrucksweife und Problemfaffung zu würdigen.
Möchte es K. beffer ergehen als den Meiften, die es wagen,
eine eigene Sprache zu reden.

Ich habe in meiner Anzeige der beiden erften Hefte
den Punkt angedeutet, wo ich glaube, K.'s Weg verlaffen
zu müffen. Derfelbe liegt ziemlich am Anfange. Aber
unfere Wege begegnen fich wieder oder beginnen doch
nach einer Weile fehr nahe nebeneinander herzugehen.
Die Hauptdifferenz erledigt fich mit der .Apologetik'.
In der ,Dogmatik' war ich in der Lage, den K.'fchen Ausführungen
in vielen der wefentlichften Fragen einfach
zur Seite zu treten. Fls geht mir mit der .Ethik' wieder
ebenfo. Diefelbe ift folgendermafsen veranlagt. Nach-
| dem die beiden erften ,Lehrkreife' von den Voraus-