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Ausgabe:

1888

Spalte:

568-569

Autor/Hrsg.:

Wolf, Gustav

Titel/Untertitel:

Zur Geschichte der deutschen Protestanten 1555-1559 1888

Rezensent:

Friedensburg, Walter

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lateinifche Text edirt ift? Da trägt er denn gelegentlich
eine Vermuthung vor, was wohl im Lateinifchen flehen
möge, anflatt in der lat. Ausgabe nachzufehen! Die
Sckolae citirt er nach Seidemann, andere Sachen nach
der Erl. Ausg., die Richtervorlefung nach Buchwald.
Dafs dies alles jetzt in der Weim. Ausg. beifammcn ift,
erwähnt er nicht einmal. Dafs dort noch eine Reihe
von Inedita aus der älteften Zeit Luther's publicirt ift,
davon nimmt er überhaupt nicht Notiz. Die Richtervorlefung
ift ihm noch immer eine Arbeit von Staupitz,
ebenfo die Predigt für den Propft zu Leitzkau. Dafs
eine Entkräftung feiner für Staupitz geltend gemachten
Gründe dort verfucht ift, darauf wird nicht einmal pole-
mifch Rückficht genommen. Er bleibt einfach dabei, er
fei bisher nicht widerlegt worden; ja, wer will Einfälle
widerlegen! Möchte er nur fagen können, dafs er feine
Behauptung bewiefen habe! Sein Vorwort ift vom
Auguft 1887 datirt, alfo dreiviertel Jahr nach dem Er-
fcheinen von Bd. IV der Weim. Ausgabe. Ich hebe das
nicht darum hervor, weil ich zufällig der Bearbeiter eines
Theiles jener Bände bin, fondern weil ich es beklagen
mufs, dafs die dankenswerthe, mühevolle Arbeit eines
fo bewährten Theologen wie Dieckhoff alsbald bei ihrem
Erfcheinen mit dem Mangel unvollftändiger Benutzung
des vorhandenen Materials behaftet ift. So fehlt bei der
Befprechung der Begriffe Judicium und justitia die werthvolle
Stelle IV, 469; der Glaube dargeftellt als unfer
,cooperari' IV, 601; für den Begriff des excessus IV, 519;
für Luther's Marienlehre IV, 633, feine Stellung zu den
Heiligen IV, 639 ff; über den baptismus flaminisXW, 570;
IV, 501; Chrifti Höllenfahrt, nicht als ein Ertragen der
dolores et terrores mortis secundae, fondern als ein in pa-
radyso esse, IV, 487. Zur Frage, ob man Chrifto auch
Glauben zufchreiben könne, IV, 519; zu der von Dieckhoff
erörterten Frage, was Luther in der Stelle Hebr.
11, 1 darunter verliehe, dafs der Glaube ein argumentum
der unfichtbaren Dinge heifse, ift auf IV, 603 zu ver-
weifen, wo er argumentum mit cxpcrimentum vertaufcht.
Solcher Nachträge liefsen fich noch manche hinzufügen.

Dafs der verehrte Verf. Luther doch noch zu fehr
mit den Augen des Syftematikers betrachtet, dafür
möchte ich auf den Abfchnitt über die Gerechtigkeit
des Menfchen vor Gott verweifen. Hier wird zunächft
nachgewiefen, dafs Luther die Vorftellung einer impu-
tirten Gerechtigkeit bereits damals entwickelt hat: iusti-
tia fidelium est ex sola imputatione — peccator re vera,
instiis vero per reputationem Dei miserentis. Aber nun
flehen doch daneben fo viele andere Ausfagen, in denen
die von Gott im Gläubigen gewirkte fubjective Recht-
befchaffenheit in den Begriff der Gerechtigkeit vor Gott
miteingefchloffen wird. Dieckhoff giebt uns S. 80 flg. eine
intereffante Zufammenflellung derartiger Aeufserungen.
Er fchliefst nun daraus, dafs es zur reinen Krifis
zwifchen dem Evangelifch-Neuen und dem Falfchen, das
dem Auguftinismus noch anhaftet, damals bei Luther
noch nicht gekommen fei. Aber zu diefer reinlichen
Scheidung im Sinne der nachmaligen lutherifchen Dog-
matik ift es bei Luther überhaupt nicht gekommen.
Oder fchreibt nicht Luther noch 1535: fustificatio est
revera regeneratio quaedam in novitatemr {Opp. var. arg.
IV, 382). Er umfehreibt das ,iusti cotistituuutur multi'
Rom. 5 mit .sanetificati sumus' (388); er befchreibt das
utstißcari als ein zwar nondum iustum esse, aber doch
zugleich als ein in ipso motu seu cursu ad iustitiam esse.
Dafs Gott den doch thatfächlich noch fündigen Menfchen
als einen plene et perfeete iustas betrachtet, gefchieht auf
Grund des initium ereaturae suae in nobis, welches Gott
gefällig ift durch Chrifti mittlerifches und heiligendes
Eintreten (391). Das alles lind Gedanken Luther's, die
gewifs von der officiellen Lehrentwicklung erheblich abweichen
. Denn fte beweifen, dafs ihm die Juftification
nicht in foro coeli allein vor fich geht, fondern gleichzeitig
im Menfchen felbft; fie ift ihm nicht nur ein Urtheil

Gottes über den Menfchen, fondern auch eine Action
Gottes im Menfchen, und zwar beides untrennbar zu-
| gleich. Nicht darin befteht das Evangelifch-Neue, dafs
Luther den Gedanken der impidatio einführt, fondern in
der ausfchliefslichen Bafirung des Gnadenbewufstfeins
wie des Kraftgefühls neuen Lebens auf die in Chrifto
den Sündern zugewendete, fündenvergebende, im Glauben
I den Menfchen ergreifende Gnade*). Für Luther's Lehre
in ihrer Geftalt vor 1517 fei noch befonders auf die,
I wenn ich recht fehe, von Dieckhoff übergangene Rede-
| wendung iustificarehominem interiorem und deren Gleich-
i fetz ung mit novurn hominem facere (Weim. Ausg. I, 77)
! verwiefen.

Befonders dankbar wird man die Vergleichungen be«
grüfsen, die Dieckhoff mit den in Betracht kommenden
] mittelalterlichen Schriften vorgenommen; ich nenne bei-
| fpielsweife die Ausführungen über den Begriff der syn-
teresis. Dafs der Verf. nirgends auf die Arbeiten feiner
Vorgänger Bezug nimmt, ift zwar für das Ebcnmafs und
i die fachliche Ruhe der Darfteilung von Vortheil, aber
' erfchwert auch die Beachtung der Punkte, an denen er
unfere Erkenntnifs des Werdens Luther's weiterführen
könnte. Ich fürchte, feine Schrift wird wegen diefes
Ignorirens der Arbeiten Anderer felber nur als Mate-
rialfammlung betrachtet werden.

Kiel. G. Kawerau.

Wolf, Gull., Zur Geschichte der deutschen Protestanten
1555—1559. Nebft einem Anhange von archivalifchen
Beilagen. Berlin, Seehagen, 1888. (XII, 473 S. gr. 8.)
M. 8.—

Verfaffer der vorliegenden, unter den Aufpicien
Maurenbrecher's entftandenen Erftlingsfchrift hat aufscr
der gedruckten Literatur die einfehlägigen Acten der Archive
von Weimar, Dresden und Frankfurt herangezogen.
Damit läfst fich denn freilich etwas Abfchliefsendes nicht
leiden; doch ift dies auch kaum die Abficht des Verf.'s,
der fich mit der Hoffnung zufrieden giebt, ,in Bezug auf
eine Reihe nicht unwefentlicher Details neue Auffchlüffe
und Gcfichtspunkte' gegeben zu haben, ,welche die bisher
bekannten Thatfachen in beffere gegenfeitige Beziehung
zu fetzen im Stande find'. Man kann das im
Allgemeinen gelten laffen; doch wird eingehender nur
die Politik zweier proteftantifchcr Höfe, des Dresdener
und des Heidelberger, verfolgt. Die Arbeit, welche fich
in die vier Hauptabfchnitte: Regensburger Reichstag,
Wormfer Religionsgefpräch, Frankfurter Recefs und
Augsburger Reichstag gliedert, gipfelt darin, den Gegen-
fatz der kurfächfifchen und der kurpfälzifchen Anfchau-
ungen über die Behandlung der PTagen der Einung mit
den Katholiken und der Freiftellung der Evangelifchen zu
beleuchten, und hier find in der That manche werthvolle
Details aus den Acten beigebracht worden, wie
denn Verf. überhaupt mit Fleifs und Sorgfalt an feine
Aufgabe herangetreten ift und fich mit Erfolg bemüht
hat, den verfchiedenen Richtungen und Strömungen der
von ihm behandelten Zeit in voller Unbefangenheit gerecht
zu werden.

Im Anhang ift ein grofser Theil der Actenftücke,
auf denen die Darftellung beruht, abgedruckt worden,
wobei fich in fofern ein Mifsverhältnifs herausftellt, als
der .Anhang' umfangreicher geworden ift als der Text
(244 gegen 214 Seiten). Ein guter Theil der abgedruckten
Acten, welche vielfach immer auf's neue wieder die-
felbcn Fragen von denfelben Gefichtspunkten aus behandeln
, hätte ohne jeden Schaden fortbleiben können;
dadurch wären dann auch die wichtigeren, individueller
gehaltenen Stücke um fo mehr zur Geltung gekommen.

*) Vgl. Erl. Ausg. 48, 7. ,Er nennet fich des Menfchen Sohn . . .
das ift der Artikel von der Judilication'.