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Ausgabe:

1888

Spalte:

36-39

Autor/Hrsg.:

Mehlhorn, Paul

Titel/Untertitel:

Grundriss der protestantischen Religionslehre. 2., umgearb. Aufl 1888

Rezensent:

Reischle, Max

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von Kant oder Luther ausgegangen, follte N. dem Urtheil
Gottes überlaffen. Dafs fein Syftem von dem Centraigedanken
der Reformation ausgeht, zeigt fchon die Ueber-
ficht des Inhalts. Der Beweis N.'s aber, dafs R. das
Merkmal des Vertrauens erfchlichen habe, ift fpecios.
R. fagt (III1, 86. 87} von der den Erfolg der Rechtfertigung
conltituirenden Gegenbewegung des menfchlichen
Willens gegen die Abficht Gottes, die Gemeinfchaft mit
den Menfchen einzugehen, welche eben als die Abficht
der Sündenvergebung bezeichnet worden war: ,diefe ift
nun Glaube, fofern derfelbe von dem Bewufstfein der
Abhängigkeit von Gott geleitet und bereit zur Unterordnung
unter denfelben, in Gott die zweckmäfsig leitende
Macht anerkennt, alfo als Vertrauen'. Da erklärt
nun N.: ,dem Gedankenzufammenhang nach durfte es
nur heifsen: alfo als Gehorfam' und identificirt den letzteren
frifchweg mit dem fittliehen Gehorfam. Der treffliche
Logiker hat nur den Inhalt der göttlichen Abficht
und das Wort ,zweckmäfsig' überfehen. Noch fchöner
ift der Beweis dafür, dafs der Gl. nach R. ein Erkennt-
nifsurtheil ift. N. fagt: R. befchreibt den Glauben als
affectvolle Ueberzeugung. Nun ift aber nach R.'s eigner
Darfteilung der Affect beim theoretifchen Urtheil (dem
R. nach einer eben von N. citirten Stelle den Glauben
entgegenfetzt) nicht nöthig. Affectvolle Ueberzeugung
ift er ferner nur darum, weil R. die (nämlich nach
Nösgen, nicht nach ihm felbft) fremdartige Beziehung
auf die Weltftellung des Gläubigen hineinbringt.
Alfo ift der Glaube nach R. letztlich nur als Erkenntnifs-
urtheil zu begreifen! Quod erat demonstrandum! Herrmann
hat eingehend ausgeführt, dafs der Glaube nicht
Fürwahrhalten einer Lehre, fondern Vertrauen zu Per-
fonen ift, und fährt fort: ,Indem daher Luther einen
Ausdruck für den Glauben fucht . . . findet er auch keinen
andern als den kindlich einfachen: ein herzliches Ver- j
trauen zu Chriftus'. Und nun kommt N. und will durch
zwei Stellen, die von gänzlich anderen Dingen handeln
und nicht die leifefte Andeutung hierüber verrathen, dar-
thun, dafs das ,kindlich einfach' ein Zurückbleiben Lu-
ther's hinter dem wahren Glaubensbegriff bemerklich
machen foll. Das ift frivol. Den Beweis dafür, dafs
nach der R.Tchen Theologie das Offenbarungsmäfsige
an Chriftus allein in dem gefucht wird, was ihn aus-
fchliefslich zum prop/icta cxcmplaris werden läfst, führt
N., indem er einige Stellen aus R., Kaftan, Herrmann
ausfehreibt, in denen vom Vorbild Chrifti entweder gar
nicht geredet oder von demfelben das andere Moment
ausdrücklich unterfchieden wird, dafs erder Grund der
nach dem Mafsftab feines Vorbildes fich richtenden Gemeinfchaft
mit Gott fei, und dann kurzerhand erklärt:
,Das Gemeinfame in dielen im Einzelnen unter fich vari-
irenden Ausführungen ift, dafs' — und nun folgt der
obige Satz. Wenn R. feine Ablehnung der Aufgabe des
Lebens Jefu damit begründet, dafs diefelbe die gläubige
Unterordnung unter die von uns nicht in ihrem
Werden abzuleitende, fondern nur in ihrem abfoluten
Sein anzuerkennende Perfon Chrifti aufhebe, fo ift das
für N. ein fadenfeheiniger Vorwand, der an die Fabel
von den zu hoch hängenden Trauben erinnert. Für den
fittlichen Werth diefer Unterftellung fehlt mir ein parla-
mentarifcher Ausdruck. Unfere Thefe, dafs das, was an
dem evangelifchen Bilde Chrifti über allem Zweifel fleht,
die Treue und Selbftgewifsheit Chrifti in feinem gefchicht-
lichen eigenthümlichen Beruf, den Gehalt feines offenbaren
Perfonlebens ausmacht und ftark genug ift, um in uns
die Gewifsheit der Gnade Gottes zu begründen, identificirt
N. mit der Thefe Kant's, dafs die Lehre Jefu fich
felbft und fomit ihn beglaubige. Dafs eine gefchichtliche
Perfon nichl sowohl eine Lehre beglaubigt, als vielmehr
neues Perfonleben fchöpferifch hervorbringt, und dafs
eine durch fich evidente Lehre eine Perfon beglaubigt,
ift für N. einerlei. Gegen folche Kräfte kämpfen freilich
auch Stärkere vergebens.

Das ift Nösgen, der Ausleger. Der Dogmatiker
Nösgen ift durch den obigen Bericht zur Genüge charac-
terifirt.

Dafs unfere Gegner im Kampfe gegen uns, wie
Luther fagt, fchier blind und toll werden, erhöht ja natürlich
unfere Zuverficht; aber die Freude hierüber wird
doch durch den Schmerz getrübt, dafs ein Theologe wie
Luthardt folche Exceffe mit feinem Namen legitimirt und
dadurch unfere Kirche unermefslich fchädigt.

Giefsen. J. Gottfchick.

Nachwort.

Die Correctur diefer Anzeige war bereits erledigt, als mir zu meinem
Erftaunen im X. Heft der Z. f. k. W. u. k. L. S. 527 — 539 noch ein
IV. Artikel Nösgen's zu Geficht kam. Zu meinem Eiftaunen; denn ich
war der Meinung, N. habe durch die 3 elften ftattlichen Artikel fich und
die Lefer der Z. f. k. W. u. k. L. in die angenehme Illufion, dafs bei
Ritfchl's Theologie die Glaubensgewifsheit ein leerer Wahn fei, hinreichend
eingewiegt. Doch N. hat noch das Bedürfnifs gefühlt, auch an der
Ritfchl'fchen Lehre von der Art, wie die Offenbarung den Glauben wirkt,
feine Entdeckung durchzuführen. Es geht natürlich im alten Stil weiter.
Trotzdem die fchärlfte Unterfcheidung des höchften Gutes und des fittlichen
Ideals einen Grundgedanken von Kaftan's Auffaffung des Chriften-
thums bildet, vermag es N. jedesmal, wo er in feiner Kritik Kaftan's auf
den Terminus ,höchftes Gut' flöfst, denfelben feinen Lefern durch den
j parenthetifchen Zufatz ,fittliches Ideal' zu erläutern. An einen meinem
Artikel ,Wort Gottes' in der R. E. entnommenen Satz, der ausführt, dafs
| der ,Grund eines Lebens, welches perfönliche Gewifsheit der Gnade
Gottes und der in ihr enthaltenen Güter ift, nur auf einer verftändlichen
Selbftbekundung des göttlichen Gnadenwillens an das Bewufstfein ruhe'
| und dafs fomit nicht das opus operatum des Sacraments, fondern das
Wort — veeale oder visibile — hierfür das geeignete Mittel fei, kurz an
i einen Satz, der jedem andern als eine einfache Erläuterung einer refor-
I matorifchen Thefe erfcheinen würde, knüpft N. nicht nur die Behauptung,
in den Worten .Grund' bis ,Güter' liege es ausgefprochen, dafs ich
doch nur an die Gewifsheit denke, zum Zweck des eignen Lebens den
fittlichen Endzweck Gottes gemacht zu haben und zu verfolgen, fondern
wagt es dann, mir noch den Vorwurf zu machen, dafs ich in Anlehnung
an den kirchlichen Sprachgebrauch und ohne die leifefte
Andeutung meines wefentlich anderen Verftändnifses diefes Terminus
von Bekundung des göttlichen Gnadenwillens rede. Vorher fand Nösgen
ausge fproche n, wovon das Gegentheil da ftand und in demfelben
Athem wirft er mir in Bezug auf denfelben Gegenftand vor, ohne die
leifefte An de u tung meines anderen Verftändnifses den kirchlichen Terminus
gebraucht zu haben. Das ift wirklich etwas bunt!

Die ganze Sache läuft fchliefslich auf eine Verteidigung von N.'s
Beitrag zum ,Kurzgefafsten Kommentar' hinaus. Durch den Pulverdampf
einer Kanonade, die eine Armee vernichtet hat, erblickt man plötzlich
auf der Zinne von N.'s Auslegung der Synoptiker die Kahne der Glaubensgewifsheit
fiegreich wehen. Die ,tieffte Triebfeder zu den Verdächtigungen
feiner Wiffenfchaftlichkeit', fagt N., fei die Gewifsheit, mit der er ,den
gefammten Inhalt der Evangelien und aller neuteftamentlichen Schriften
erfalfe'. Diefer Schlufs ift neben dem Titel das einzig Gefchickte an den
ganzen Auffätzen. Aber er ift recht gefchickt, denn bei diefem Arrangement
brauchte ja N. auf die zur Charakterifirung feiner Wiffenfchaftlichkeit
ihm aufgeftochenen Kleinigkeiten nicht einzugehen.

Giefsen. J. Gottfchick.

Mehlhorn, Prof. Lic. Dr. Paul, Grundriss der protestantischen
Religionslehre. 2. umgearb. Aufl. Leipzig,
Barth, 1887. (VI, 55 S. gr. 8.) cart. M. 1.—

Wenn Verf. in der Vorrede zur 1. Aufl. (vgl. Theol.
Litztg. 1884, Col. 65 ff) bemerkt hatte, dafs er, ein dankbarer
Schüler von Biedermann, Pfleiderer, Lipfius u. a.,
fich doch auch von der Theologie Ritfchl's vieles angeeignet
habe, fo ift feine Bereitwilligkeit von anderen
zu lernen (leider eine feltene Tugend!), auch der 2. Aufl.
1 feines Büchleins zu gute gekommen. Diesmal hat er
insbefondere die Rathfchläge Gottfchick's (Ztfchr. für
prakt. Theol. 1885. p. 181) fich zu Nutzen gemacht,
am meiden in dem erflen einleitenden Theil. Derfelbe
war früher in vier Abfchnitte zerfallen: das Wefen der
Religion, die Exiftenz Gottes, die Offenbarung, Ueber-
blick über die Religionsgefchichte; es waren alfo früher
die Frage nach dem empirifchen Thatbeftand der Religionen
und des Chriftenthums und die FVage nach der
Wahrheit der chriftlichen Religion in einander gefchoben.
Jetzt haben wir dafür zwei Abfchnitte: l) Religion und Religionen
und 2) Die Wahrheit der chriftlichen Religion.