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Ausgabe:

1888

Spalte:

501-503

Autor/Hrsg.:

Sell, Carl

Titel/Untertitel:

Aus der Geschichte des Christenthums 1888

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Seite 1, Seite 2

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Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 20.

tome, auf einem griechifchen Texte, welcher viel mehr
mit MSP als mit RO übereinftimmt. An einzelnen
Stellen hat fie allein das richtige erhalten.

In Folge feiner Hochfehätzung vonRO fchliefst fich
Niefe vorwiegend an den Text diefer beiden Handfchrif-
ten an. Da der gedruckte Vulgärtext auf der Claffe
MSP beruht, find die Abweichungen von diefem fehr
zahlreich. Der Anfchlufs an RO gefchieht jedoch keineswegs
in einfeitiger Weife. Denn Niefe erkennt unbedingt
an, dafs in fehr zahlreichen Fällen MSP das richtige
gegen RO erhalten haben. Es find eben zwei neben
einander flehende Text-Claffen, welche fich gegenfeitig
ergänzen. Der höhere Werth der einen kann immer nur
ein relativer fein; und es darf darüber die andere nicht
vernachläffigt werden. Da Niefe dies felbfl betont, fo
wäre es vielleicht feinen eigenen Vorausfetzungen ent-
fprechender gewefen, die Bevorzugung von RO noch
etwas mehr einzudämmen. Ref. hat freilich noch nicht
hinreichend ausgedehnte Beobachtungen gemacht, um
fich ein ficheres Urtheil erlauben zu dürfen. Aber es
will ihm fcheinen, als ob der Werth von RO doch etwas
überfchätzt fei, und an manchen Stellen mit Unrecht
andere Zeugen hinter diefe fehr jungen Handfchriften
zurückgeftellt würden. Um nur ein ganz eklatantes Bei-
fpiel zu erwähnen, fo kann Jofephus Antt. VIII, 4, I unmöglich
gefchrieben haben (wie Niefe nach RO giebt):
eßiofitp firjvi .... VTib (.itv t<3v enr/iogion' ^4&igtt, vnb
de Tibv Maxednvwv Nneoßegttuio) Xeyofiivcp. Der Athyr
ift ein ägyptifcher, aber niemals von den Juden gebrauchter
Monatsname. Ohne Zweifel hat hier der alte
Lateiner mit feinem thesri (Tifchri) das Richtige (M hat
Voigt, SP Vrgt). Bei dem Marken Schwanken des Textes
wird man freilich in vielen Fällen nicht mit Sicherheit
fagen können, welche Lesart den Vorzug verdiene; das
Urtheil alfo immer ein mehr oder weniger fubjectives
bleiben. Eben darum hat fich der Verf. durch die reichhaltige
Vorführung des urkundlichen Materiales denwärm-
Men Dank aller Benützer des Jofephus erworben. Es
ka nn nun Jeder unfehwer nach eigenem Ermeffen fich
ein Urtheil bilden. Das Bedenken wegen der Marken
Bevorzugung von RO betrifft ohnehin nur die erMe
Hälfte der Archäologie, da die handfehriftliche Ueber-
lieferung für die zweite Hälfte der Archäologie und für
die übrigen Werke des Jofephus wieder eine ganz
andere ift.

Schliefslich fei noch erwähnt, dafs der Text der
beiden erften Bände auch in einer billigen Handausgabe
ohne kritifchen Apparat erfchienen iM unter dem Titel:

Flavii Joseplä opera recognovit B. Niefe, vol. I—II, 1888.

Giefsen. E. Schür er.

Seil, Superint. Dr. Carl, Aus der Geschichte des Christenthums
. Sechs Vorlefungen, im Februar und März zu
DarmMadt gehalten. DarmMadt, Waitz, 1888. (III,
163 S. gr. 8.) M. 2.—

Der Verfaffer nennt in der Vorrede diefe Vorlefungen
einen ganz befcheidenen Verfuch, die Gebildeten
für die Gefchichte der religiöfen Fragen dadurch zu in-
tereffiren, dafs man fie in weltgefchichtlichem Zufammen-
hange zeige. In Wahrheit iM nicht der Verfuch be-
fcheiden, fondern der Autor; denn ich wüfste nicht, dafs
jemals unter uns ein SchriftMeller die verfchiedenen Bedingungen
für das Gelingen eines folchen Verfuches
in fo hohem Mafse befeffen hätte, wie der Verfaffer diefer
Vorträge. Eine ausgezeichnete Kenntnifs der Kirchen-
gefchichte, umfaffendlte Bildung, ein freier, aufgefchlof-
fener Sinn, geübt, das Individuelle fcharf zu erfaffen
und das Allgemeine im Einzelnen zu fehen, eine lebhafte,
aber Mets gezügelte Phantafie und künMlerifche GeMal-
tungskraft find hier mit dem glücklichMen Temperament
und einer freudigen Stimmung aufs beMe verbunden.

Nimmt man hinzu, dafs der Verfaffer fich überall in der
Gefchichte heimifch zu machen weifs, ohne fie roman-
tifch zu verklären, dafs er ein überzeugter ChriM iM, der
dem Siege der Wahrheit vertraut, ohne fich auf InMi-
tutionen und Menfchen zu verlaffen, dafs er fich nicht
' bange machen läfst weder durch die moderne Theologie
| noch durch ihre Gegner, vielmehr auf die Kraft des
| Evangeliums und ernfter raMlofer Arbeit baut, und dafs
er die Gabe befitzt, feine Zuhörer in diefem Sinn zu
bilden, indem er fie belehrt und feffelt, fo iM damit
wohl genug gefagt, aber nicht zu viel. Ich halte diefe
Vorlefungen für lehrreicher und empfehlenswerther —
vor Allem auch für die Studirenden — als die trefflichen
Vorlefungen und Auffätze über Kirchengefchichte, die
wir fonM befitzen. Hafe bleibt freilich in der Detailmalerei
und in der KunM, die Anekdote zum Lichteffect
zu erheben, unerreicht; aber mit ihm wird fo leicht Niemand
rivalifiren wollen, mag ihm auch wie unferem Verfaffer
eine glückliche äMhetifche Anlage und Bildung zu
Gebote Mehen. Das ErfreulichMe aber an diefen Vorträgen
iM, dafs fie unferen Kleinmuth, als wolle nichts
vorwärts gehen und fei alles Gute vermummt oder zer-
fplittert, verfcheuchen. Solche Vorträge, wie die Sell'-
fchen, hätten vor 30 Jahren von Niemandem gehalten
werden können. Sie fuhren uns ohne aufdringliche Fingerzeige
vor, was in dem letzten Menfchenalter auf dem
Gebiete der Kirchengefchichte gearbeitet worden iM,'
zeigen, dafs diefe Arbeit nicht nur Kärrnerarbeit gewefen,
und belehren uns darüber, dafs fich doch trotz aller Gegenbewegung
eine einheitliche neue Betrachtung der
Dinge durchfetzt.

Die fechs Vorlefungen durchmeffen die Kirchengefchichte
in ihrer ganzen Ausdehnung, aber nicht pedan-
tifch. Der Verfaffer meinte mit Recht, wenn feine Zuhörer
auf den Höhen heimifch würden, dürfte er ihnen
einMweilen die Niederungen erlaffen. Wie es unten aus-
gefehen hat, kann der VerMändige ohnehin ahnen. Das
urfprüngliche ChriMenthum, die alte katholifche Kirche,
das Mittelalter, die Reformation, die Gegenreformation,
das ChriMenthum im letzten Jahrhundert — das find
feine fechs Themata. Da Pietismus und Rationalismus
in der Einleitung zum fechMen Vortrag befprochen find,
fo vermifst man nichts Wefentliches. Im Grunde giebt
der Verfaffer eine höchM geiMvolle Theorie der Kirchengefchichte
; aber auch hier iM er von aller Pedanterie
und von blutlofen Abstracttonen frei. FT erzählt wirklich
Gefchichte — das iM feine beneidenswerthe KunM.
Wo ich ihn am beMen zu controliren vermag, hat er
eine ausgezeichnete DarMellung geliefert — in den beiden
erMen Vorlefungen, und ich meine, wir haben uns gegenfeitig
zu danken. Man iM feiten in der Lage, das Facit
aus der eigenen Arbeit mit folchem Scharfblick und
folcher KunM gezogen zu fehen, dafs es zum erfreu-
lichMen Gefchenk wird. Controvers bleibt Vieles in der
Beurtheilung des 19. Jahrhunderts. Die innerkirchlichen
Gegenfätze hätten m E. eine fchärfere Faffung noth-
wendig gemacht. Die Frage der Theologie iM die vom
Verhältnifs des Glaubens zum Wiffen, fagt der Verfaffer.
Aber die erMe Frage der Theologie fcheint mir doch
: die nach der Grundlage des Glaubens und feiner Ge-
wifsheit zu fein. Um diefe Frage kämpfen wir innerhalb
des ProteMantismus, und diefen Kampf führen wir
für die ganze ChriMenheit. Sie iM die Frage nach dem
Wefen des Glaubens felber, und fie bleibt genau diefelbe,
mögen wir in einer Welt der Wunder leben oder des
Gefetzes.

Einzelnes zu corrigiren bieten diefe auch im Kleinen
genauen Vorträge kaum irgendwo einen Anlafs. Schwerlich
waren die ChriMen bereits ein Menfchenalter nach
dem Tode ChriMi über das römifche Reich in feiner
ganzen Ausdehnung zerMreut (S. 14); der freiwillige
Communismus der Gemeinde von Jerufalem, durch den
fie verarmt fein foll, iM fragwürdig (S. 15); ,rationaliMifche