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Ausgabe:

1888

Spalte:

482-484

Autor/Hrsg.:

Claassen, Johs.

Titel/Untertitel:

Reinheit - Einheit! 1888

Rezensent:

Köhler, Karl

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Theologifchc Literaturzeitung. 1888. Nr. 19.

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exaltirten Pietismus und IIierarchismus fremder, fein ge- I
bildeter und fanftmüthiger Mann, der, als er einmal in
einer Verfammlung Werner unterbrach und gegen feine
Lehre proteftirte, nur ,für die Wahrheit eifern' wollte, |
wie Werner felbft nachher in einem Briefe fagt, und das
Gewiffens halber thun zu muffen glaubte. Erfreulich ift
ja, wie es der Verfaffer felbft hervorhebt und belegt,
dafs in Werner's letzter Lebensperiode fein gefpanntes
Verhältnifs gegenüber jenen Kreifen einer fehr freundlichen
Annäherung Platz machte, die fich bei einzelnen j
(z. B. dem Miffionsinfpector Prätorius) zu warmer Freund-
fchaft fteigerte, die aber allerdings die Sachlage darin
nicht veränderte, dafs Werner mit feinen focial-reli-
giöfen Ideen und feinen von diefen getragenen Anftalten
in Württemberg in fcharfer Abgrenzung von den
Werken innerer Miffion daftand und flehen blieb, und —
abgefehen von feinem engeren, in den Hausgenoffcn des
Brudcrhaufes organifirten Anhängerkreis — mehr Unter-
ftützung in den humanen und liberalen Kreifen fand, I
als in den fpeeififeh kirchlich und pietiftifch gerichteten, j
Mit die gröfsten Opfer haben für feine Sache aufser-
württembergifche FYeundc gebracht (in Frankfurt, Rhein- i
land, Schweiz).

Auf jene focial-religiöfen Ideen Werner's näher einzugehen
, ift in einer Recenfion nicht der Ort. Im Vordergrund
fleht dabei fein Streben, Hand in Hand mit geiftlicher
die materielle Noth zu heben, denMenfchen vollkommene j
Wohlfahrt für Leib und Seele zu bringen, und zwar ein- I
zig durch die Kräfte felbftverleugnender Liebe, und fein j
Gedanke, dafs in dem johanneifchen Liebesorganismus,
der jenes Streben zur Verwirklichung bringen foll und
der im Bruderhaus anheben follte, die vorhandenen kirch- j
liehen, ftaatlichen, focialen Ordnungen allmählich aufgehen
werden. Darin befleht für ihn auch im Grunde die Auf- |
richtung des Reiches Gottes und das Kommen Chrifti.
Diefc Ideen Werner's finden in dem Wurfter'fchen Buch
durch die vielen eigenen Ausfprüche Werner's eine voll-
ftändige Darfteilung und durch die Gefchichte feiner An- 1
Halten eine lebendige Illuftration. Jedoch enthält fich
der Verfaffer einer lozufagen fyftematifchen Darlegung i
von Werner's Grundsätzen und ebenfo einer Kritik der-
felben. Das mag manchem Lcfer als ein Mangel er-
fcheinen ; andererfeits ift es bei dem verfchiedenartigen |
Lefcrkreis, den der Verfaffer im Auge hatte und für
deffen Einen Theil das Buch gleichfam ein Erbauungsbuch
in höhcrem Stil bilden wird, wohl begreiflich. Der
Berichterltatter glaubt, dafs vielen Lefern der Eindruck
von Werner fich ergeben wird, we er ihn (vor Erfchei-
nen des Wurfter'fchen Buches) in feinem Vortrag /Wichern
und Werner' (Stuttgart, Liebich, 1888) angedeutet hat:
dafs in jenen Ideen mit ihrer Kühnheit und ihrem edlen
fanguinifchen Optimismus zwar auf der Einen Seite das |
befonders Grofsartige und Sympathifche feines Werkes, I
auch im Vergleich zu den Schöpfungen der Inneren Mif- |
fion, wurzelt, dafs aber auch in ihnen etwas Phantaftifches
und Unnüchternes liegt, ein Ueberfehen und Wegfchieben
der vorhandenen Factoren, in letzter Linie eine etwas
pelagianifche Unterfchätzung der Sünde — ein Anklang |
an mittelalterlich-fectenhafte und an wiedertäuferifche
Ideale und Irrthümer. Den Beweis liefert die Gefchichte
und befonders die ,Krifis' der Werner'fchen Anftalten
felbft; die Thatfachc, dafs er feinen praktifch wichtigften 1
Grundfatz des chriftlichen Communismus, den der vollen j
perfönlichen Hingabe der Gefunden in den Dienft der
Schwachen und des Ganzen, doch nur beim engften
Kreis der Hausgenoffcn durchführen konnte, und im Betrieb
feiner Induftrie, befonders der PMbrikinduftrie, die
ihm der vollkommenfte Träger feiner Ideen werden follte,
auf das herrfchende wirthfehaftliche Gefetz der Lohnarbeit
zurückgreifen mufste; endlich der gegenwärtige
Stand des Werner'fchen Werks, der nach dem Plingang
des belebenden Geiftes manches Unfichere zeigt, und
insbefonderc eine Klärung des Verhältnifses zur Kirche

und den übrigen Anftalten Innerer Miffion dringend fordert
. Ob diefe Klärung in Geftalt eines engeren An-
fchluffes fich vollziehen wird, wie wir hoffen, fleht dahin
. Hier Rheinen im Kreis der Anhänger Werner's
felbft Differenzen obzuwalten.

Doch genug von Werner's Ideen. Was auch an
ihnen unvollkommen und undurchführbar fei, die That
feines Lebens — bei ihm war Lieben und Leben iden-
tifch — bleibt grofs, herrlich, befchämend, und diefe
That tritt in dem Buche Wurfter's plaftifch vor uns hin;
darum ift es eigentlich, befonders für Seelforger, ein feel-
forgerliches Buch, das uns unfere Verfäumnifse aufdeckt,
Aufgaben ftellt und Kraftquellen zeigt. Aus Werner's
Mund dringt das Wort tief in Herz und Gewiffen, das
dem Buch als Motto voranfteht: ,was nicht zur That
wird, hat keinen Werth'.

Die Ausftattung des Buches (Papier aus der Fabrik
des Bruderhaufes, Druck, Einband) ift vorzüglich; der
Preis im Verhältnifs dazu billig; ein fchönes Bild Werner's
giebt dem Buche einen befonderen Schmuck.

Möge es denn feinen Weg in viele Bibliotheken von
Pfarrern und Volksfreunden finden — neben Oldenberg's
Wichern, zu dem es ein intereffantes Scitenftuck bildet;
und mögen uns über andere Koryphäen chriftlicher
Liebesarbeit ähnliche treffliche Biographien geboten
werden; man lernt aus ihnen mehr, als aus vielen Jahresberichten
und Feftreden.

Stuttgart. Friedrich Braun.

Ciaassen, Johs., Reinheit — Einheit! oder die drei Grundgellalten
der Kirche Chrifti, ihre Entartung und ihre
Heilung. Mit Anhang: 77 Sätze von der Kirche. Stuttgart
, J. F. Steinkopf, 1888. (192 S. gr. 8.) M. 2.—

Es giebt, entfprechend dem Grundrifs des alttefta-
mentlichen Heiligthums, drei Stufen oder P"ormen der
Kirche Chrifti auf Erden, deren Vorbilder und Vertreter
die drei Apoftel Petrus, Paulus und Johannes find. Die
erfte, der Vorhof, ift ,dic vorzugsweife anftaltliche objec-
tive -Stufe oder Seite der Kirche' — die Petruskirche.
,Diefer ganze Vorhof follte nur Mittel und Durchgang
fein für das innere, fubjective Pleiligthum der Seelen,
das Heiligthum der Gnade, die Gnadengcmeinfchaft feiner
(Chrifti) durch wahre Bufse und hingebenden Glauben
zur Freiheit in ihm hindurchgedrungenen Gnadenkinder'
— die Pauluskirche. ,Wenige, noch wenigere find auserwählt
zu der bräutlichen, myftifchen Vereinigung mit
Chriftus im Allerheiligften. Wenige, fehr wenige gelangen
aus dem Stande der zugerechneten Gerechtigkeit oder
Gnadenbeiwohnung des Sohnes durch wahre Wiedergeburt
in den Stand der wefentlichen Gerechtigkeit oder
geiftleiblichen Liebesinwohnung im heil. Geift — die un-
(tchtbare Kirche in diefem tiefften Verftand oder die
Kirche nach Johannes'. (S. 174—176.) Im Verlauf der
irdifchen Gefchichte der Kirche mufste es gefchehen,
dafs jene drei Stufen und F"ormen nicht nur in einander,
fondern auch nach und neben einander auftraten, ohne
doch auch hier einander feindlich auszufchliefsen, ebenfo
wenig aber fich trübe durch einander zu mifchen' (S. 174).
Die ,fatanifche Verunreinigung' jedoch, welche auch in
die Kirche eindrang, hat verfchuldet, dafs die gottgewollte
Einheit derfelben zerriffen wurde und die in ihrem Wefen
urfprünglich angelegten verfchiedenen Formen in aus-
fchliefsenden, ja feindlichen Gcgcnfatz zu einander traten,
zunächft die beiden erften. Sie erfcheinen zur Zeit in
der katholifchen und der evangelifchen Kirche. Jede von
diefen hat ihre relative Berechtigung als Kirche des Petrus
und des Paulus, aber jede weift auch eigenthümliche
F'ormen der Entartung auf. Die kathol. Kirche leidet
an 2X3 ,Erbfchäden' (drei innere: Selbftweisheit, Selbft-
herrlichkeit, Selbftherrfcherlichkeit, drei äufserc: Vcrftan-
desformalismus in der Glaubenslehre, Phantafie-Aefthe-