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Ausgabe:

1888 Nr. 19

Spalte:

472-473

Autor/Hrsg.:

Thieme, Karl

Titel/Untertitel:

Glaube u. Wissen bei Lotze 1888

Rezensent:

Sachsse, Eugen

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Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 19.

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heit gefunden. Man merkt es den jetzt nach 20 Jahren
veröffentlichten Erinnerungen des Verfaffers an, dafs er
mit Liebe beobachtet und das Beobachtete in Treue feft-
zuhalten gewufst hat. Die eigenen Eindrücke und Erfahrungen
find mannigfach durch nachträgliche Studien
ergänzt und dem Lefer wird fo ein Bild gezeichnet,
welches ebenfo durch feine Ausführung im Einzelnen
wie durch ftilvolle Abrundung des Ganzen erfreut und
anzieht.

Die drei erften Abfchnitte — Meffina und die Oft-
küfte; Palermo; Altgriechifche Stätten — berichten in
zwanglofer Form über mannigfache Wanderungen auf
der Infel. Die Herrlichkeit der Natur, die reiche ge-
fchichtliche Vergangenheit und die auf engen Raum zu-
fammengedrängte grofse Mannigfaltigkeit der sicilifchen
Kunftfchätze treten dabei in lebendigfter Weife hervor.
Unwillkürlich ift man verflicht, fich Goethe's zu erinnern.
Aber wir find dem Verfaffer dankbar, dafs er doch mit
anderen Augen gefehen hat als der grofse Dichter. Sein
eigentliches Intereffe ift den Menfchen zugewandt, welche
die Infel heute bewohnen. Zieht fich diefes fchon durch
die erften Abfchnitte in manchen Andeutungen über
Volksart und -Sitte hindurch, fo tritt es vollends deutlich
in den folgenden hervor: 4. Das ficilianifche Volk;
5. Das religiöfe Leben. 7. Weihnachten in Sicilien. 8. Char-
freitag und Offerfeft in Sicilien. 9. Heiligen fefte.

Sicilien ift claffifcher Boden nicht nur für Gefchichte
und Kunft, fondern in gleichem Mafse auch für die
Kenntnifs der römifchen Kirche. Was vom Chriftenthum
übrig bleibt, wo Rom ausfchliefslich und unangefochten
herrfcht — (,die Bewegung des 16. Jh. war an Sicilien fpur-
los vorübergegangen. Wir hören von keinem einzigen
Sicilianer, der wegen lutherifcher und calviniftifcher Härene
verfolgt wäre' [S. 181J) —, kann man aus dem Buche
erfahren. Es ift der buntefte Polytheismus mit all'
feinen Confequenzen, der uns entgegentritt. Hier fpie-
gelt fich der Particularismus der alten Griechen in der
Concurrenz der Schutzheiligen einzelner Städte und fo-
gar Stadttheile. Leidenfchaftliche Kämpfe werden von
den Anhängern verfchiedener Heiliger ausgefochten (ergötzlich
wird darüber aus einer Novelle Verga's fiuerra
di Santi' berichtet). Hier wechfelt den Heiligen gegenüber
Liebe mit Hafs, inbrünftiges Flehen um ihre Gaben
mit wildem Fluchen und Schelten über die vorenthaltenen
(S. 144. 153. 165. 271. 323). Hier find religiöfe
Fefte zu eigentlichen Volksfeiern mit Märkten, üppigen
Gelagen, Schaufpielen u. f. w. herabgefunken. Ich meine
doch, dafs der Verfaffer über die Weihnachtsfeier zu
günftig urtheilt, wenn er bei einem Vergleich mit deut-
fcher Sitte fchliefslich findet: ,es find nur verfchiedene
Sprachen, die denfelben Gedanken ausdrücken: die Freude
des Menfchenherzens an der grofsen Gottesgabe, die
Freude an dem, in welchem Alles erfüllt ift' (S. 228).
Wenn er felbft in den Sitten oder Unfitten, welche die
verfchiedenen mimifchen, lyrifchen und dramatifchenDar-
ftellungcn umfpinnen, die alten Saturnalien wiederfindet,
während die Predigt felbft Weihnachten und Oftern von
dem fchweigt, was Gott in Chrifto gethan (S. 221. 262),
fo ift eine Erinnerung an Luther's Weihnachtslieder doch
ficher nur irreführend (S. 208). Vielmehr, wie er felbft
hervorhebt, dafs ,vieleicht' die ficilianifche Charfreitags-
und Ofterfeier auf die Eleufinien zurückzuführen fei
(S. 250), fo ift für diefe finnlichen Darftellungen des Heiligen
überhaupt nicht zu vergeffen, wie das tragifche und
komifche Schaufpiel der Griechen aus den Dionyfien und
anderen Götterfeften hervorgegangen ift; erinnert doch
auch die luftige Figur, die in den Weihnachtsdramen
regelmäfsig auftritt, auf's Lebhaftefte an die Stelle, welche
die Comödie beim Götterfeft einnahm, und die Freiheit
der faft blasphemifchen Ironie, die dabei walten durfte
(vgl. nur beifpielsweife den koflbaren Dialog in Ariftoph.
Vögeln 1515 ff.). Es kann doch nicht zweifelhaft fein,
dafs diefe Darftellungen im heutigen Sicilien fo gut wie

im alten Griechenland fchliefslich nur zur Befriedigung
der Schauluft dienen können. Nicht ift das Sinnliche
hier zum Vehikel chriftlicher Gedanken geworden, fondern
umgekehrt ift das Chriftenthum in den Dienft der
Sinnlichkeit geftellt. Noch ein anderer Satz giebt zu
einer ähnlichen Bemerkung Anlafs. Nach S. 153 ,findet
fich doch in dem eigentlichen Volk noch echte Frömmigkeit
'. Als Beweis wird nur auf eine junge Frau hin-
gewiefen, die vor dem Bilde des Gekreuzigten kniet,
,ganz aufgelöft in Schmerz und Wonne, unter Thränen
Worte inbrünftiger Liebe und Hingebung an den Barmherzigen
richtend'. Das ift für chriftliche Frömmigkeit
doch ein fehr magerer Beweis. Und wenn diefe Frömmigkeit
S. 159 als wirklicher Glaube bezeichnet, aber
hinzugefügt wird, dafs ,dem Heiligencultus und damit
der Religion des ficilianifchen Volkes zu fehr das fitt-
liche Moment fehle', fo ift durch diefen Nachfatz wiederum
für den chriftlichen Glauben der Vorderfatz als ungültig
erwiefen. Es wird fich ja auch in Sicilien Gold
unter der Schlacke finden. Aber was auf S. 109 ff. und
fonft über den Stand der Sittlichkeit berichtet wird, läfst
von einem Einflufs des Chriftenthums in derThat wenig
merken.

Aber ich möchte über folche Einzelheiten nicht
weiter rechten, vielmehr einer anderen Bemerkung Raum

| geben. Der Verfaffer hat in feinem ganzen Buch und
fchliefslich zufammenfaffend im 10. Abfchnitt — ,Das

1 alte Sicilien im neuen' — eine Fülle von Einzelbeobachtungen
gefammelt, aus denen fich das Urtheil belegen
läfst, wie wenig die katholifche Kirche bis auf den heutigen
Tag in chriftlichem Sinne umgeftaltend auf diefcs
Volksleben eingewirkt hat. Wenn trotzdem ein Ton
freundlicher Milde im Urtheil das ganze Buch durchzieht,
fo rührt das von dem Wohlwollen her, mit dem der Verfaffer
am ficilianifchen Volk überall die mannigfachen
Beweife von Gemüth und reicher Begabung (f. den letzten
, 11. Abfchn.: ,Sicilianifche Volkspoefie') hervorzukehren
beftrebt gewefen ift. Den Lefer aber muthet
gerade diefes Wohlwollen wie das härtefte Urtheil über
die Kirche an, welche ein fo begabtes Volk auf mög-
lichft niederer Culturftufe zu erhalten fich angelegen fein
läfst. Gerade in diefer Beziehung möchte ich das Buch
denen empfehlen, welche in litcrarifchem Kampf mit
Katholiken ftehen. Denn mir fcheint, es find Anzeichen
vorhanden, als folle ein andersartiger, ein harter und
auch übertreibender Ton in der Hitze des Streits unferer
evangelifchen Polemik, zu ihrem eigenen Schaden, nicht
erfpart bleiben.

Seit 1861 beffehen Waldcnfergemeinden in Sicilien.
Der Verfaffer berichtet über fie im 6. Abfchnitt: ,Die
evangelifche Bewegung'. Aber man hätte von diefem
Lichtpunkt gern noch ausführlicher fich erzählen laffen.
Der verfaffer hätte ohne Schaden die frühere Gefchichte
der Waldcnfer, die Sicilien unmittelbar nicht angeht,
kürzer behandeln können, wenn er dafür mehr Einzelheiten
über die jetzigen evangelifchen Gemeinden und
ihre Glieder geboten hätte.

S. 82 lieft man: ,1m Unterfchied von den römifchen
Katakomben find die von Syrakus wohl fchon vor-
chriftlichen Urfprungs'. Darauf folgt auf S. 85 ff. eine
Schilderung der Katakomben als ,der Begräbnifsplätze der
Chriften'. Druckfehler: S. 66 Z. 8 von unten 1. minder
ft. wieder. S. 76 Z. 11 v. ob. 1. Hafen ft. Ofen (?).

Rumpenheim. S. Eck.

Thieme, Dr. Karl, Glaube u. Wissen bei Lotze. Leipzig,
Dörffling & Franke, 1888. (IV, 48 S. gr. 8.) M. 1. —

Diefe verdienftvolle Arbeit will zunächft nur fein das
hiftorifcheReferat über die religionsphilofophifchenGrund-
anfehauungen eines bedeutenden Philofophen; fodann aber
identificirt fich der Referent völlig mit feinem Gegenftand