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Ausgabe:

1888 Nr. 18

Spalte:

447-448

Autor/Hrsg.:

Bertrand, Ernest

Titel/Untertitel:

Essai critique sur l‘authenticite des épîtres pastorales 1888

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 18.

448

gefchrieben, hat die Sache nicht gerade leichtgenommen; |
er zeigt eine ungleich gröfsere Belefenheit und wirkliche '
Vertrautheit mit dem heutigen Stand der Frage und der
betreffenden Literatur, als z.B. der Graudenzer Garnifons- J
pfarrer Dr. Wahle in dem gleichzeitig erfchienenen, j
öden und confufen Commentar mit feinem fo vielen
Raum wegnehmenden, gleichwohl fo gut wie durchweg
lediglich aus den Vorgängern entnommenen und ungerichtet
aufgehäuften, exegetifchen Material. Es ift
immerhin wenigftens als ein Fortfehritt der Methode zu
verzeichnen, dafs uns beiderorts die Gefchichte vom 1
Apoftel Johannes und wie er das Evangelium gefchrieben,
nicht mehr am Anfang^ fondern am Schluffe der Ein- '
leitung, nachdem die innere Kritik fchon zu einem ge-
wiffen Abfchluls gediehen ift, erzählt wird. Aber be- I
herrfcht ift auch diefes Werk durchgängig von apolo-
getifchen Gefichtspunkten, und tiefliegendere Schwierigkeiten
find dem Verfaffer nicht ins Bewufstfein getreten.
Seiner Meinung nach hat übrigens der Apoftel nur für
einen engeren Kreis von Jüngern gefchrieben; erft fpäter
wurde das Ev. mit dem Zufatze des letzten Capitels zum
Gemeinbefitz der kleinafiatifchen Chriftenheit gemacht und
ift in diefer Geftalt fchon in der erften Hälfte des 2. !
Jahrhunderts in der Kirche bekannt und anerkannt.

Strafsburg i. E. H. Holtzmann.

Bertrand, Ernest, Essai critique sur l'authenticite des
epitres pastorales. Paris, Fifchbacher, 1888. (165 S.
gr. 8.) Fr. 3. —

Jedweder Beitrag zur Löfung der Aufgabe, die
evangelifche Theologenfchaft Frankreichs mit dem Stande
unterer kritifchen Controverfen vertraut zu machen, ift
freudig zu begrüfsen. Infofern heifsen wir auch diefes
Buch willkommen. Was darin von Initanzen der litera-
rifchen und hiftorifchen Kritik, natürlich um Widerlegung
feitens der überlegenen Dialektik des Verfaffers zu empfangen
, gelegentlich mitgetheilt wird, ift immerhin genug,
um in einem wiffenfehaftlich diseiplinirten Kopfe, wenn
feinem Befitzer vorliegende Schrift in die Hände fallen
follte, eine Ahnung von dem wirklichen Sachverhalt ZU
erzeugen. Die Rhethorik, von welcher eine Menge von
laut gegen dieUeberlieferung zeugenden Data hier zunächlt
verdeckt erfcheint, wird Niemand, der die Art und Weife
kennt, wie theologifche Intereffen fich in wiffenfehaft- I
liehe Bedenken zu verkleiden pflegen, verhindern, der
Sache auf den Grund zu fehen. Unfer Verfaffer wenigftens j
beweift im ganzen Verlauf feines ,kritifchen Verfuches' ;
nichts, als dafs, was wir längft wufsten, auf jede Rede
eine Gegenrede möglich ift. Auf Alles, was gefagt worden
ift, auch auf das Schwerwiegendfte, läfst fleh irgend
etwas dawider fagen, zu jeder Bemerkung, auch zur
treffendften, läfst fleh eine Gegenbemerkung machen.
Auf dem Standpunkte diefer Apologetik ift Alles abgemacht
, fobald eine ,Antwort' gefunden ift. Hatte z. B.
Reufs darauf aufmerkfam gemacht, dafs der Mangel an
Localfarbe in 1. Tim. fchlecht zu des Apoftels intimfter
Vertrautheit mit epheflnifchen Zuftänden und Per-
fönlichkeiten ftimmt, fo darf man ja nur ,mit uns annehmen
, dafs den Anweifungen des Apoftels ein allgemeiner
Charakter zukomme und fie auf eine ganze Gruppe
von Gemeinden anwendbar waren, und der Einwurf von
Reufs fällt in fich fich felbft zufammen' (S. 28). Hätte, —
fo wird weiter bemerkt (S. 29) — der Apoftel die eine oder
andere ihm bekannte Perfönlichkeit als für Uebernahmeder
PTinctionen eines Gemeindebeamten geeignet bezeichnet,
fo würde überdies die Kritik nicht ermangelt haben, zu
bemerken, eine derartige Bevormundung der Gemeinde
fei keineswegs in des Apoftels Art. — Aber fpricht denn
wirklich unfere heutige Kritik etwa Stellen wie 1 Cor.
16, 15. 16. Rom. 16, t, 2 dem Apoftel ab: Ich felbft
hatte es in meinem Buche über ,die Paftoralbriefe" auffällig
befunden, dafs der Apoftel in längeren Briefen
dem Timotheus und dem Titus fage, was er ihnen fo-
wohl nach 1 Tim. I, 3. Tit 1, 5 gerade zuvor mündlich
gefagt hatte, als auch gleich wieder mündlich fagen
konnte, fofern er fie nach 1 Tim. 3, 14. Tit. 3, 12 gleich
wieder zu fehen bekommen foll. ,Wir antworten, dafs
der Apoftel ebendafelbft Hindernifse vorausfieht, die ihn
vielleicht abhalten werden, fofort nach Ephefus zurückzukehren
' (S. 26). Aber darauf habe ich S. 62. 324
ja auch fchon im Voraus .geantwortet'. Ich hatte S.
250 die 1 Tim. 4, 13 erwähnte und dem Timotheus zur
Hebung empfohlene dvüyvaoig mit der Befchreibung des
Gottesdienftes bei Juftin Ap. I, 67 in Vergleich gebracht.
,Wir antworten Holtzmann, dafs im zweiten Jahrhundert,
wo nach feiner Anficht die Paftoralbriefe entftanden fein
follen, die Vorlefungen des A. T.'s in den gemeinfamen
Andachten durch einen den Diakonen und Aelteften durchaus
untergeordneten Gemeindebeamten gefchah; ein
Fälfcher würde den Timotheus, falls die diefem zuge-
wiefene Stellung den werdenden Epifkopat ankündigen
follte, nicht als Träger einer Function dargeftellt haben,
welche zu jener Zeit einen durchaus fubalternen Charakter
trug' (S. 92). Darauf ift nur zu fagen, dafs der Verfaffer
im Jahre 1888 nicht hätte über den Lectorat
fchreiben dürfen, ohne A. Harnack's Schrift über ,die
Quellen der f. g. Apoftolifchen Kirchenordnung nebft
einer Unterfuchung über den Urfprung des Lektorats
und der anderen niederen Weihen' von 1886 zu kennen.
Hier nämlich ift wahrfcheinlich gemacht, dafs der Lector
in die Zeiten der charismatifchen Gemeindcorganifation
hinaufreicht (Apoc. I, 3), wefshalb er in der fyrifchen Di-
daskalia noch die Stellung eines Propheten hat und für
ihn in dem alten Weihegebet Const. ap. 8, 22 das nrnviia
ayiov oder 7iQO(prixiv.6v erfleht wird. Erft in Folge der
Umwandlung der Bifchöfe und Presbyter in einen Priefter-
ftand erfcheint der Lector mit feinem rein mechanifch
gewordenen Amt auf die Stufe der niederen Kirchendiener
herabgedrückt; fo in Rom etwa gerade 100 Jahre nach
Juftin. Aber auch fonft fehlt viel, dafs der Verfaffer in der
Lage wäre, fich mit Erfolg an einer wiffenfehaftlichen Con-
troverfe betheiligen zu können, welche nach allen Seiten
einen freien Blick und genaueres Wiffen um die wirklichen
Sorgen der heutigen Kritik erfordert. Welch eine
Gelegenheit — meint er z. B. S. 50 — hätte fich doch
der Verfaffer der Apoftelgefchichte, fofern er den Tod
des Paulus nicht mit in feine Darfteilung aufgenommen,
entgehen laffen, feinen Zweck zu erreichen, wenn der-
felbe wirklich, wie die Kritik meint, darin beftanden hätte,
jenem die Sympathien der Judenchriften zu verfchaffen.
Das hätte vor 20 Jahren noch mehr Sinn gehabt, als
heute angefichts der neuen Phafe, in welche die Kritik
der Apoftelgefchichte feit De Wette's Commentar zur
Apoftelgefchichte, bearbeitet 1870 von Overbeck, S.
XXVIII f. 484 f. bis herab auf O. Pfleiderer's Urchriften-
thum 1887, S. 544 f. S97 f. 611 getreten ift. Wenn der
Verfaffer auch nur die angeführten Stellen über den
Zweck der Apoftelgefchichte überhaupt und fpeciell
über das Fehlen eines Berichtes vom Tode des Paulus
vergleicht, fo wird er nicht blofs finden, dafs jene Bemerkung
einftweilen faft gegenftandslos geworden ift,
fondern vielleicht auch die weitere Entdeckung machen,
dafs er wie auf diefem fo auch noch auf vielen anderen
Punkten umlernen, beziehungsweife neu anfangen mufs
zu lernen. Was ich fonft zu fagen hätte, berührt fich
mit der trefflichen Beleuchtung, welche die Licht- und
Schattenfeiten diefes Werkes durch A. Sabatier in den
Annales de bibl. thiol. S. 65 f. gefunden haben. Den
dort aufgeführten Verftöfsen wäre noch die S. 124 zweimal
begegnende Syntiche beizufügen.

Strafsburg, i. E. \_ Holtzmann.