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Ausgabe:

1888 Nr. 16

Spalte:

400-403

Autor/Hrsg.:

Montet, Edouard (Ed.)

Titel/Untertitel:

La noble leçon. Texte original d‘après le manuscrit de Cambridge avec les variants des manuscrits de Genève et le Dublin 1888

Rezensent:

Mueller, Karl

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399 Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 16. 400

und Verzweiflung, Furcht, Muth und Zorn entfpringen)
werden die Hindernifse der wirklichen Erlangung des
Begehrten bekämpft. Leidenfchaften (passiones) werden
die beiderfeitigen Affecte genannt theils, weil der Ausgangspunkt
derfelben nicht eigentlich im Subject, fondern
in der Aufsenwelt liegt, namentlich aber, weil durch fle
jedesmal auch der Leib irgendwie in Erregung verfetzt
wird. Dies alles betrifft das niedere Begehrungsvermögen
. Wie nun aber (c. 3) von der finnlichen Wahrnehmung
das Denken, fo unterfcheidet fleh von dem niederen Begehrungsvermögen
als das höhere das Wollen. Erfteres
wird erregt durch einzelne Luft erweckende concrete
Zwecke und Güter, letzteres durch einen allgemeinen
höchften Zweck; es ift gerichtet auf das unbedingte Gut,
die Glückfeligkeit, und nach ihrem Verhältnifs zu diefem
beurtheilt es alle Einzelzwecke. Das finnliche Begehrungsvermögen
ift eng verbunden mit der Materie, richtet fleh
nach leiblichen Begierden und wirkt auf den Leib; der
Wille dagegen ift frei von den Banden der Materie und
fetzt weder einen beftimmten körperlichen Zuftand voraus
, noch fchliefst er an fleh eine Einwirkung auf den Körper
ein. Damit hängt es zufammen, dafs das niedere
Begehrungsvermögen infolge der Ueberreizung abge-
ftumpft wird; dies ift bei dem höheren nicht der Fall,
welches trotz feiner Richtung auf das fchlechthin Gute
auch für relativ Gutes als Mittel zum höchften Gute oder
zur himmlifchen Seligkeit, zum Schauen Gottes, empfänglich
bleibt. Noch charakteriftifcher (c. 4) ift für den Willen
die Freiheit, welche er befitzt, während das finnliche
Begehren der Nothwendigkeit unterliegt. Mit der
Freiheit aber verhält es fleh folgendermafsen: fle befteht
einerfeits in der Fähigkeit, eine Handlung abzulehnen
{libertas exercitii vel contradictionis), andererfeits in der
Fähigkeit, zwifchen verfchiedenen Gütern zu wählen {Hb.
speeificationis). Ihre Wurzel liegt in der Vernunft, von
deren praktifchem Urtheil der Wille abhängt. Diefes Ur-
theil aber, vermöge deffen alle in Frage kommenden
Güter auf das höchfte Gut (die ftets erftrebte Seligkeit)
bezogen und an ihm gemeffen werden, fleht in unferer
Gewalt, einmal äufserlich {externe), infofern als die Vernunft
ihre eigenen (vorläufigen, irrthümlichen) Urtheile
beurtheilen und beherrfchen kann, fodann innerlich oder
inhaltlich {interne), infofern als fle in concreto die dem
höchften Gute entfprechenden Strebungen ebenfogut un-
terlaffen oder fuspendiren wie vollziehen kann. Eine ge-
wiffe Nothwendigkeit wird freilich dem Willen allezeit
anhaften: das nothwendige Streben nach dem von der
Vernunft erkannten höchften Gute im Allgemeinen. Durch
diefe Nothwendigkeit wird jedoch die Freiheit nicht
gehemmt. Befchränkt wird diefelbe nur einerfeits infofern
als es vorkommen kann, dafs die Vernunft nicht
Zeit findet, vor dem Eintreten der Handlung ihre Ueber-
legungen anzuflehen und die Handlung dann von der
Gewohnheit abhängt; andererfeits infofern als Gott nicht
nur Ziel, fondern auch erfle bewirkende Urfache des
Wollens ift, indem er die Willenskraft urfprünglich verleiht
, fle im Allgemeinen anregt und fie applicirt; durch
Gefchaffenes wird aber der Wille nicht eingeengt, während
das finnliche Begehren an fich von viribus creatis
abhängig ift und dem, was ihm im Gebiete derfelben Ge-
nufs verheilst, nicht widerflehen kann. Aber freilich (c. 5)
infolge der Nachbarfchaft und der Hinüberwirkung der
Vernunft, deren fich im Menfchen das finnliche Begeh-
rungsvefmögen erfreut, kann die Einbildungskraft und
die Einzeldenkkraft {ratio particularis, cogitativä) es dahin
bringen, dafs auch das an fich finnliche Begehren
fich auf geiftliche Güter richtet. Damit hängt es zufammen
, dafs auch viele fogen. Affecte oder Gefühle,
auch edlere, dem finnlichen Begehrungsvermögen von
Thomas zugewiefen werden können, welcher übrigens
manche Gefühle vielmehr auf den Willen zurückführt,
deffen Regungen den einzelnen zunächft finnlichen Leidenfchaften
ohnehin entfprechen. Auf ein befonderes

Grundvermögen find aber die Gefühle nicht zurückzuführen
. Namentlich könnte Chriftus nicht Liebe (alfo ein
Gefühl) fordern, wenn diefe nicht Sache des Willens
wäre. An fich flehen übrigens die dem Willen angehörenden
Affecte höher, als die finnlichen, nur find die
letzteren im erften Moment ftärker, als jene. Die Herrfchaft
(c. 6) kann aber und foll dem Willen gehören.
Diefelbe kann jedoch keine defpotifche fein, fondern fie
mufs eine verfaffungsmäfsige fein {dominium politicum),
und das finnliche Begehrungsvermögen wirkt feinerfeits
auch auf den Willen ein. Die gänzliche Unterwerfung
des erfteren ift überhaupt im natürlichen Zuftande nicht
erreichbar, vielmehr ein (fogar erft im Himmel der Vollendung
fähiges) Gnadengefchenk. Inzwifchen kann, indem
das finnliche Begehren der Entfcheidung des Willens
fich anfchliefst, es deffen Energie verrathen oder
auch fleigern. Geht es aber auf etwas los, was die Vernunft
noch nicht geprüft hat, fo kann es innerhalb des-
felben zu einer wenigftens läfslichen Sünde kommen,
obwohl das eigentliche Princip der Sünde allezeit nur
der Wille fein kann. Eine Leidenfchaft, die, obwohl
einig mit demfelben, dem Willen vorauseilt, mindert
deffen Verdienftlichkeit; folgt fie ihm nach, fo fteigert
fie feine Verdienftlichkeit. Man foll daher zwar nicht
aus Paffion, aber mit Palfion handeln, und dafs auch
die finnliche Seite des Menfchen an der Heiligung theil-
nehmen kann und foll, zeigt das Beifpiel Chrifti (deffen
heiliger Zorn, heilige Thränen u. f. w.) und die Praxis
der Kirche, welche durch ihre Cärimonien auch die Sinne
zu heiligen Regungen hinreifst.

Das ohne Zweifel intereffante, wenn auch im We-
fentlichen dem Arifloteles entnommene pfychologifche
Syftem des Thomas, welches übrigens durch diefe Repro-
duetion des Dr. Mausbach nebenbei auch einige Nach-
befferung, Ergänzung und Abrundung erfahren haben
dürfte, fucht nun der letztere gegenüber allen abweichenden
Syftemen auch der neueren Zeit zu vertheidigen.
Doch denkt er fich die Vertheidigung etwas zu leicht.
Die Momente der Unmittelbarkeit, Unbe wufstheit und
Unwillkürlichkeit, die auch dem höheren Gefühlsleben
anhaften, vermag er bei feinen Prämiffen nicht zu erklären
. Das von Chrifti Liebesgebot hergenommene Argument
fchlägt nicht durch, weil der Ausdruck Liebe im
N. T. ftrenggenommen etwas Bildliches hat. Der gelegentlich
(S. 57, Note) gegen Luther gerichtete Angriff
aber ift ein Lufthieb. Mindeftens hat Luther nicht ,das
finnliche Begehrungsvermögen als die reichfte Quelle
aller Lafter, ja als das Wefen der Erbfünde felbft denun-
cirt, welches nicht von Gott der menfchlichen Natur
habe eingepflanzt werden können, fondern von der Sünde
herftamme'. Denn Luther hat die Lehre Melanchthon's
gebilligt, der zufolge nicht minder als der appetitus sen-
sitivus die oberen Seelenvermögen (Wille und Intellect)
Sitz der Erbfünde find und keineswegs die von Gott
dem Menfchen anerfchaffenen finnlichen Triebe als
folche mit zu den Erfcheinungen der Erbfünde gerechnet
werden, fondern lediglich die allerdings auch in ihnen
eingetretene Entartung {äia^ia).

Kiel. F. Nitzfeh.

La noble lecon. Texte original d'apres le manuscrit de
Cambridge avec les variantes des manuscrits de
Geneve et de Dublin suivi d'une traduetion francaise
et de traduetions en Vaudois moderne, public par
EdouardMontet, Dr. theol., professeur ä l'universite
de Geneve. Avec fac-simile. Paris, Fifchbacher, 1888.
(VII, 95 S. gr. 4.)

Die N. L. hat unter den waldenfifchen Tractaten
eine befondere Berühmtheit erlangt, offenbar nicht als
literarifche Leiftung — denn ihr Gedankengehalt wie ihre
poetifche Form find m. E. fehr dürftig — fondern nur