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Ausgabe:

1888 Nr. 15

Spalte:

382

Autor/Hrsg.:

Ritschl, Albrecht

Titel/Untertitel:

Theologie und Metaphysik. Zur Verständigung und Abwehr. 2. Aufl 1888

Rezensent:

Gottschick, Johannes

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Seite 1

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381 Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 15. 382

bergifchen Oberamtsftadt Balingen begleitete. Aufser
dem durch die Mutter genährten, durch ernfte Lehrer in
Kirche und Schule gepflegten Sinn für das Religiöfe treten
an dem Knaben als charakteriftifche Züge hervor: gewiffen-
hafte Pünktlichkeit, Strenge in Einhaltung der Ordnung
und Zeiteintheilung, alfo jene Treue im Vorliegenden,
die er fpäter feinen Schülern als Grundforderung auf
das Gewiffen gelegt hat; fowie ein dem Schaffen und
Walten der ewigen Gotteskraft im Naturleben empfänglich
aufgefchloffenes Gemüth, wie er es noch ins hohe
Alter fleh bewahrt hat. Wir begleiten B. fodann in das
niedere Seminar zu Urach, wo insbefondere der fchon genannte
Köftlin beflimmenden Einflufs auf ihn ausgeübt
und ihn .auf das Eine Nothwendige und auf die göttliche
Quelle der Wahrheit' hingewiefen hat, wie Beck 1855 in
ergreifender Weife an des Lehrers offenem Grab bezeugt
hat. Auf der Univcrfltät Tübingen hat B. vorwiegend
nur die plülosoplüca gehört, die dem theologifchen Studium
zu widmenden Scmcfter dann in Balingen zugebracht.
Nach ausgezeichnet beflandenem Examen bezog er die
,hohe oder niedere Schule' des Pfarramts zu Waldthann.
Hier, in einer feit Jahr und Tag verwahrloflen Gemeinde
lernte er ,dem Unmittelbaren und Naturwahren nachzugehen
' und zwar .nicht durch blofses Predigen, fondern
durch dazugefügte tägliche Arbeit im Kleinen, in Schul-
häufern, auf Feld und Weg, Alles in Weisheit und Mafs
und nicht in Vielgefchäftigkeit'. Von Waldthann führte
ihn fein Weg nach Mergentheim, wo er das Doppelamt
eines Diafpora-Pfarrers und eines Lehrers am Lyceum
zu verfehen hatte und fleh mit den feineren Schichten
der Gefellfchaft, ihren Bedurfnifsen, Vorurtheilen, An-
fprüchen vertraut gemacht hat. Von der Fertigkeit und
Treue, mit welcher er hier felbft dem herzogl. Hof gegenüber
des Amts gewartet hat, geben die Cafualreden (in
der 2. Sammig. der chriftl. Reden) Zeugnifs. 1836 folgte
dann Beck dem an ihn ergangenen Ruf auf die Lehrkanzel
, die er als ein praktifch gefchulter und gereifter
Mann betrat. Die Wirklamkeit Beck's in Bafel, und von
1843 an in Tübingen, irt weithin bekannt. Dennoch wird
der Lefer für das viele Neue, das die Biographie namentlich
auch über Beck's Stellung zu den Mitgliedern der
Tübinger Facultät bietet, dankbar fein. Beck bezeichnete
fchon in Bafel das theologifche Lehramt als ,ein chrift-
liches Gemeindeamt, geftellt unter die Regel und Verklärung
des Evangeliums, um feinen Diener verfammelnd
zwar nicht eine befondere Kirchgemeinde, wohl aber
Repräfentanten gleichfam vieler Chriftengemeinden,
welche von ihnen einft den Lebensgcift des Evangeliums
empfangen follen, ftatt des eitlen Lebenshauchs der Zeitlichkeit
'. — Wohlthuend find die Blicke in Beck's Häuslichkeit
. Mit allen P'afern wurzelt er in der heimifchen
Erde, im engen Daheim. Schon den jungen Seminarirten
in Urach ergriff ,fehnfüchtiges Heimweh, wenn er in dem
feinem Fenfter gegenüberliegenden Haufe die Familie
eines Handwerkers in ihrer Wohnrtube beim Lichtfchein
traulich beifammenfitzen fah'. Rührend find die fchrift-
lichen Scheidegrüfse, die der beforgte Vater jedem Kinde,
wenn es das väterliche Haus verliefs, mitgab und in denen
die ganze Treue und Liebe des — für gewöhnlich von
Beruf, Anlauf und Arbeit allzu ftark in Anfpruch genommenen
— Vaters in ergreifender Weife hervorbricht.
— Man fcheidet mit tiefer Befriedigung von dem pietätvoll
gezeichneten Bilde: es ift dasjenige eines Zeugen.
Er kannte feine Schranke wohl. ,Wo meine Individualität
ihre Grenzen hat, da waltet und fchafift eine andere'.
Seine politifche Stellung, wie er fie insbefondre 1866 einnahm
, war die Frucht des Naturbodens, auf dem er grofs
geworden. Mit feinem ,Syftem' hatte diefelbe im Grunde
nichts zu thun. Vielmehr fagt er einmal ausdrucklich
über die Stellung der Geirtlichen zur Politik: .Nicht politifche
Thätigkeit nach irgend einer Seite hin irt ihre Aufgabe
; das Reich Gottes in feiner Unbeflecktheit zu verjüngen
, ift das Eine, was Noth thut; und diefem Reich

nicht Gewalt anthun zu laffen, weder von unten noch
oben, fondern fein Senfkorn in die chaotifche Maffe von
politifchen Ideen hineinzuwerfen, ift Amt der Diener
Chrirti'.

Friedberg. H. A. Kört Ii n.

Ritsehl, Albr., Theologie und Metaphysik. Zur Verftändi-
gung und Abwehr. 2. Aufl. Bonn, Marcus, 1887.
(68 S. gr. 8.) M. 1. 20.

Die 2. Aufl. ift ein, von einigen beiläufigen Veränderungen
und Zufätzen abgefehen, unveränderter Abdruck
der i. Aufl. Unter diefen Zufätzen ift befonders eine
Kaftan gewidmete Anmerkung zu erwähnen, die darauf
hinweift, dafs das ganze chriftliche Leben gerade auch
in feiner Beziehung auf die Welt ein mit Chrifto in Gott
verborgenes Leben ift. Ferner ein Zufatz S. 51, der die
Mifsdeutung, als folle die Betonung der genauen Erinne-
! rung an den gefchichtlichen Chriftus als des Mittels des
j perfönlichen Verhältnifees zu ihm die Nachwirkung eines
1 vergangenen Ereignifses an die Stelle der gegenwärtigen
Wirkung des Erhöhten fetzen, durch den Hinweis abwehrt
, dafs es eben die gefchichtliche Kunde von Chriftus
ift, durch welche der Inhalt feftgeftellt wird, den das
Perfonleben des Erhöhten hat. Der Verf. fpricht fleh im
Vorwort über die Gründe aus, aus denen er fleh veran-
lafst gefehen hat, diefe Schrift ohne Berückflchtigung der
Beftreitungen, die fie erfahren hat, wieder herauszugeben.
Wenn man diefe Polemik kennt, fo wird man feine Un-
luft, fleh auf fie einzulaffen, verftehen. Zur Einführung
in feine Gefammtanfchauung von einem der mannigfachen,
hierzu geeigneten Gefichtspunkte aus, wird die Schrift
auch weiter in diefer Geftalt fich tauglich bewähren. Durch
eine Umarbeitung hätte fie jedenfalls auch ihr eigen-
thümliches einheitliches Gepräge eingebüfst.

Giefsen. J. Gottfchick.

Luther, Oberpaft. F., Die Theologie Ritsehl s. Vortag, gehalten
1887 auf der Dorpater Januar-Conferenz. [Aus:
.Mittheilungen und Nachrichten f. d. evang. Kirche
in Rufsland'.l Reval, |Kluge], 1887. (56 S. gr. 8.)
M. 1.—

Man würde dem Verf. Unrecht thun, wenn man ihn
nur nach den erften 49 Seiten feiner Brochüre beurthei-
len wollte. Die Darfteilung und Beurtheilung der Gedanken
Ritfchl's, welche er dort liefert, zeichnet fich ja
dadurch aus, dafs er das Repertoire der Gegner, das
nachgerade etwa abgenutzt zu werden beginnt, mit einigen
frappanten Einfällen bereichert. Dafs nach R. der
Zweck der Rechtfertigung die Erlöfung von der Ab-
| hängkeit von Gott, dafs die Feffel, welche nach R. durch
den rechtfertigenden Glauben gefprengt werden folle, der
I freie Gehorfam gegen Gottes Walten in der Naturwelt
! und durch diefelbe fei, dafs R.'s Gott die Beftimmung
: habe, das Reich Gottes zum eigentlichen Gott zu erheben,
das ift doch einmal etwas Neues neben den gewohnten
Anklagen auf Moralismus, Romanismus, Pofitivismus,
Rationalismus u. f. w. Aber an fich würden dergleichen
Verfuche, einander zu überfchreien, wie fie der Partei-
geift natürlicherweife im Gefolge hat, kein befonderes
Intereffe erwecken. Jedoch der Schlufs der Brochüre
zeigt, dafs diefe Extravaganzen in Wahrheit krampfhafte
Zuckungen find, in welchen fich ein durch den Eindruck
; der Gedanken R.'s auf den Verf. hervorgerufener Zuftand
innerer Erfchütterung äufsert. Indem er die Frage aufwirft
, wie fich dasRäthfel löfe, dafs eine fo haarfträubende
Auffaffung des Chriftenthums wie die, welche er als R.'s
Theologie darftellt, nicht nur in der negativ gerichteten
theologifchen Wiffenfchaft mafsgebend geworden fei
1 (NB. das ift doch, und zwar glücklicherweife für uns,
1 eine ftarke Uebertreibung), fondern auch da bewufst oder