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Ausgabe:

1888 Nr. 14

Spalte:

360-363

Autor/Hrsg.:

Rade , Paul Martin

Titel/Untertitel:

Doktor Martin Luthers Leben, Thaten und Meinungen, auf Grund reichlicher Mitteilungen aus seinen Briefen und Schriften dem Volke erzählt. 3. Bd 1888

Rezensent:

Kawerau, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 14.

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ihn nicht irre gemacht. Er hat feine Sache kräftig und
mit lebhaftem Erfolg verfochten und tritt jetzt mit dem
erften Band einer vollftändigen Gefchichtederitalienifchen
Waldenfer hervor. Er zeigt darin das aufrichtige Streben,
überall die gefchichtliche Wahrheit zu erreichen und die
Entwicklungspunkte zu finden. Er hat fich die Mühe
und die erheblichen Korten nicht verdriefsen laffen, fich
von überallher die gedruckten, auch einige handfchrift-
liche Quellen fowie die Literatur zu verfchaffen und hat
insbefondere die letztere ziemlich vollrtändig zufammen-
gebracht. Ja, er hat mehrfach Werke zu benützen ge-
wufst, die bei uns wohl feiten anzutreffen find bezw.
bisher ganz unbenutzt geblieben waren.

Ich möchte aber fchon hier einen Wunfeh für den
zweiten Band anbringen. Die Anführungen der einzelnen
Quellenftellen oder der Werke find häufig recht ungenau
, nicht nur fehlen fehr oft die Seitenzahlen oder
fonftige Angaben, die das Suchen erleichtern, fondern
es find auch mehrmals die Büchertitel fo ungenau und
unklar angeführt, dafs man auch bei einiger Kenntnifs
der Literatur nicht recht weifs, was gemeint ift, wo man
fuchen foll. Dies wird befonders empfindlich, wenn es
fich um nichtdeutfehe und in der deutfehen Literatur
wenig oder nicht bekannte Werke handelt.

Was nun die Arbeit felbrt betrifft, fo kann ich zu
meinem Bedauern nicht fagen, dafs ich grofsen Nutzen
davon gehabt hätte. Abgefehen von der grofsen Breite,
einer wenig glücklichen Anordnung des Stoffs, der
Neigung abzufchweifen und der öfters auftretenden,
etwas abenteuerlichen Art, erzählende Berichte oder
namentlich kritifche Erörterung in Zwiegefpräche aufzu-
löfen, welche im erfteren Fall die handelnden Perfonen,
im zweiten der Verfaffer mit feinen vorgeftellten Gegnern
führt, abgefehen von diefen Bedenken über die Form
beliehen fchwerere Zweifel über die Forfchung, ihre
Methode und einen Theil ihrer Ergebnifse, bezw. die
Vorausfetzungen, von denen fie ausgeht.

Ich denke dabei zunächft an die leichtgläubige Verwendung
von Quellen, die nicht blofs um Jahrhunderte
zu fpät find, fondern auch in Bezug auf Zuverläffigkeit
ihrer Angaben und Fruchtbarkeit der eigenen Erdichtung
im übelften Geruch flehen, wie Mufton, Legers und
des Fälfchers Perrin, oder wie S. 140 etwas auf mündliche
Verficherungen eines Sieur Gallon de Bez angenommen
wird, der etwas in einer übrigens recht jungen
Hf. gelefen haben will, in welcher es weder Comba felbrt
noch andere gefunden haben, oder wie ein anderes
Mal (S. 128) eine Angabe Rorengo's über Dinge des
14. Jhs. daraufhin angenommen wird, dafs diefer fie
aus dem Munde von Gilles (17. Jh.) haben will, der durch
feine Familienüberlieferungen wohl am bellen unterrichtet
gewefen fei! Es ift dies aber um fo verhängnifsvoller,
als Comba gerade für diejenigen Abfchnitte, auf welchen
fein befonderes Intereffe ruht, die angebliche Einwanderung
und Ausbreitung der Waldenfer in den piemontefifchen
Thälern und die Colonifation Calabriens, die fie
von hier aus unternommen haben follen, oder den Be-
ftand und die Einrichtung der Barbenfchule, lediglich
auf folche durch und durch unbrauchbare Quellen des
17. Jhs. aufbaut. Diefe Abfchnitte find daher von Anfang
bis zu Ende haltlos.

Es hängt das freilich mit Anderem zufammen.
Comba hat fich in der Darftellung der Zuftände innerhalb
der Secte (Cap. 6 S. 292 ff.) grofsentheils an meine
Unterfuchungen angefchloffen, die während der Drucklegung
erfchienen waren. Seine Anfchauung von diefen
Dingen war aber vorher offenbar eine vollrtändig andere,
derjenigen Herzog's entfprechend. Und fo hat er den
Bann derfelben trotz alles guten Willens nicht zu durchbrechen
vermocht. In Cap. 6 find ihm die Waldenfer
die wandernden apoftolifchen Prediger, die von Ort zu
Ort ziehen und ihre Gläubigen geiftlich verforgen; in
Cap. 4 dagegen find fie die gefchloffenen Laienfchaaren,

die, aus ihren früheren Sitzen im Delfinat vertrieben, die
Alpenthäler auffuchen und fich mit der dortigen Bevölkerung
verfchmelzen. Hätte er die Auffaffung von
Cap. 6 folgerichtig durchgedacht, fo wäre ihm ohne Zweifel
diefe ohnedies nur durch gänzlich unglaubwürdige Quellen
bezeugte Anfchauung als eine unbedingte Unmöglichkeit
erfchienen. Er hätte dann erkennen müffen, dafs die
piemontefifchen und favoyifchen Thäler keineswegs ,das
Nett' darrtellen, welches fich der Vogel, das Waldenfer-
thum zu bauen ftrebte, und dafs auch von einer coloni-
fatorifchen Auswanderung nach Calabrien fchwerlich die
Rede fein kann, fondern dafs lediglich in jenen Hoch-
thälern, ebenfo wie in dem Gebirgsland von Calabrien
die Arbeit der waldenfifchen wie der katharifchen Send-
linge länger zu halten und breiteren Fufs zu faffen vermochte
als in der Ebene. Die Thäler bilden fo wenig
einen Mittelpunkt der waldenfifchen Bewegung, dafs fie
vielmehr in den früheren Jahrhunderten völlig verfchwin-
den gegenüber der fo aufserordentlich grofsen Ausdehnung
des waldenfifchen Arbeitsfelds. Erft wie diefes
allmählich zertrümmert, treten die Thäler hervor als letzter
Reil und jetzt allerdings fefter Punkt.

Dazu kommt, dafs das Waldenferthum der piemontefifchen
Thäler offenbar gar nicht mit dem Delfinat und
der Stammgenoffenfchaft zufammenhängt, fondern mit
den Lombarden. Ich bin darauf fchon früher aufmerk-
fam geworden durch Beobachtungen über Zufammen-
hänge zwifchen den echten waldenfifchen Tractaten mit
den lombardifchen Ueberlieferungen, habe aber zu wenig
fichere Anhaltspunkte gehabt. Indeffen ein Blick in die
Inquifitionsprotocolle des 15. Jhs. genügt, um die Zugehörigkeit
der Piemontefen zu den Italienern ficher zu
Hellen. Auch H. Haupt ift gleichzeitig auf diefelbe
Thatfache aufmerkfam geworden und ift derfelben in
einer demnächft zu erwartenden Arbeit genauer nachgegangen
. Dadurch entliehen felbftverftändlich ganz
neue Fragen. Insbefondere wird von hier aus auch das
Verhältnifs diefer piemontefifchen zu den auf der anderen
Seite der Alpen gelegenen Waldenfern näher erforfcht
werden müffen, da aus den Verhören feftfteht, dafs diefe
piemontefifchen Waldenfer weit nach Prankreich hinein
Miffion getrieben haben. Man wird alfo erft die Frage
beantworten müffen, wieweit die alte Stammgenoffenfchaft
im 15. Jh. fich überhaupt noch erhalten hat.

Auf andere Punkte, die ich auszufetzen hätte, will
ich hier nicht weiter eingehen. Möge der zweite Band,
der wohl auch der Verbindung mit den Böhmen noch
näher nachgehen wird, auf dem weiten P'eld, das hier
noch zu bebauen ift, mit Fabel und Dichtung entfchloffen
aufräumen und die Aufgaben erfüllen, die hier feiner
warten.

Giefsen. Karl Müller.

Rade, Lic. Martin (Paul Martin), Doktor Martin Luthers
Leben, Thaten und Meinungen, auf Grund reichlicher
Mitteilungen aus feinen Briefen und Schriften dem
Volke erzählt. 3- Bd- Neufalza i/S., Oefer, 1887.
(IV, 770 S. gr. 8.) M. 4.50; geb. M. 6.—

Der Verf., der die anfangs beobachtete Verhüllung
feines Namens dem dritten Bande gegenüber aufgegeben
hat und uns fomit geftattet, nunmehr direct den Pierausgeber
der ,chriftlichen Welt' hier zur Vollendung feiner
grofsen Lutherbiographie zu beglückwünfehen, hat im
letzten Bande offenbar das fchwierigfte Theil feiner
grofsen Aufgabe zu löfen gehabt. Es galt ja, die Jahre
1525—1546 volksthümlich darzuftellen, die Jahre, in denen
Luther die Führerrolle mehr und mehr den evangelifchen
Eürften abtreten mufs, und in denen feine Heldengeftalt
uns oft zufammenzufchrumpfen fcheint zu der des Streittheologen
. Hier galt es befondere Ueberlegungen in Bezug
auf die Stoffauswahl, hier aber auch befonders Ge-