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Ausgabe:

1888

Spalte:

314-315

Autor/Hrsg.:

Rutenberg, E.

Titel/Untertitel:

Jesus von Nazareth 1888

Rezensent:

Hartung, Bruno

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Theologifche I.iteraturzeitung. 1S88. Nr. 12.

läge hat-. Ref. braucht nur denfeiben Gedanken in et- j
was andere Form zu kleiden, um die grofsen Vorzüge J
des Werkes von Baur zu kennzeichnen. Auch in den j
Krcifen Herbart-Ziller'fcher Pädagogen ftrenger Obfer- j
vanz beginnt die Erkenntnifs fich Bahn zu brechen, dafs j
die von jenen vertretene Pfychologie als Grundlage der
Pädagogik doch wefentlicher Modificationen bedürfe, um
der Individualität des Zöglings nicht weniger als der
Macht der gefchichtlich gegebenen Potenzen gerecht zu
werden. Diefen beiden Pactoren wird Baur's Erzichungs-
lehre in vollem Mafse gerecht, und es ift eine wahre Erquickung
, ftatt des oft doch recht eintönigen Geklappers
unbeweisbarer pfychologifcher dogmatifcher Formeln
und ihrer nicht feiten gezwungenen, wenn auch glücklicherweife
meifl inconfcquenten Handhabung dies frifche
lebensvolle Erzeugnifs des Leipziger Profeffors zu lefen.

Ob nun nicht vielleicht in der Vermeidung pfychologifcher
Grundlegung allzu viel gethan, ob nicht der
Individualität des Zöglings ein allzu grofser Spielraum
eingeräumt fei, ift eine andere Frage. Immerhin verdient
die^Hervorhebung und Geltendmachung der von Gott
gegebenen urfprünglichen Individualität und die Forderung
ihrer Wahrung und Ausbildung ungleich wärmere Sympathien
als jene Vernachläffigung, durch welche doch
fchliefslich der Schulmeifter mit feiner Methode alles aus
allen machen zu können fich einbilden mufs. Allein
die Unverbrüchlichkeit und Unantaftbarkeit allgemeiner
Gefetze und fefter Lebensordnungen, unter welche jede
Individualität, fic mag fein wie fie will, unbedingt fich
zu beugen hat, dürfte dennoch in erfter Linie flehen,
und die Erziehung dürfte ihren vollen Zweck erreichen, j
wenn fie bei der Handhabung jener Gefetze die Entfaltung
der Individualität nur nicht pofitiv hindert oder
unm öglich macht. Im andern Falle wird eine Zerfplitte-
rung des Erziehungsgefchäftes mit allerlei ,eigenthüm-
Heben' Refultaten die nothwendige Folge fein und
nebenbei auch das pfychologifche Studium jedes einzelnen
Schülers fo vorwiegend unbeweisbare Pflicht
des Lehrers werden, dafs unter den zahlreichen Meiftern
diefes Standes nur wenige fich über das Mafs ftümperhafter
Lehrlinge würden erheben können. Das Gemeinfchafts-
bewufstfein darfauch im praktifchen Leben niemals durch 1
das Bewufstfein individueller Befonderheit alterirt werden.
Wir bezweifeln nicht, dafs der Herr Verf. in diefen Sätzen
mit uns völlig übereinftimmt. auch nicht, dafs diefe Gedanken
in feinem Werke zum Ausdruck kommen, allein
das Bemühen, die Rechte der Individualität zu wahren, |
giebt dem Ganzen doch das Gepräge einer etwas ein-
feitigen Vertheidigung der Individualität, welche dem
vorwiegenden Werth allgemeiner ethifcher Ordnungen
und Verfahrungsweifen nicht völlig Genüge thut.

Der Herr Verf. ift ein Schüler Schleiermacher's.
Mit grofser Pietät und begeifterter wie begeifternder Liebe
wird die Erziehungslehre Schl.'s behandelt. Der philo-
fophifche Eklekticismus, welcher Schl.'s pädagogifche
Anfchauungen charakterifirt, ift auch in Baur's Werk
übergegangen, und die Eigenthümlichkeit des Meifters,
gern in etwas unbeftimmten Ausdrücken von ,Gefetz des |
Geiftes-, .allgemein menfehlichen Gefetzen', .höheren Ge- 1
fetzen' und dergl. zu reden, ohne concret zu fagen, was
er eigentlich darunter verlieht, ift auch eine Eigenthümlichkeit
desBaur'fchen Werkes. AufserSchleiermacher
finden wir eine reiche Fülle von Citaten aus zahlreichen |
Schnftftellern; dafs namentlich auch die genaueKenntnifs
Goethe's und Schiller's, die dem Herrn Verf. zu Gebote
fleht, verwerthet ift, foll ihm ausdrücklich gedankt fein. J
Uebrigens find aus der pädagogifchen Literatur faft aus- j
fchliefslich ältere Werke, wie Schwarz-Curtman, Nie- j
meyer, Fr. Cramer, Karl von Raumer u. a. citirt, — eins
der Zeugnifse, dafs wir im Grofsen und Ganzen ein älteres
Buch in neuer Ausgabe vor uns haben. Unter bedeutenden
Druckfehlern ift uns S. 16 a'/ew^erotj^aig ftatt
. uytioiitTQijog aufgefallen.

Dafs der Herr Verf. den Plan des Werkes in der
neuen Auflage nicht geändert hat, ill gewifs zu billigen;
ohne völlige Neufchaffurig würde eine Aenderung auch
wohl nicht zu ermöglichen gewefen fein. — Es ift unfer
leibhafter Wunfeh, dafs das feit faft einem halben Jahrhundert
bewährte Buch auch in der neuen Auflage einen
gefegneten Lauf haben möge.

Marburg. A che Iis.

Prentiss. Prof. Dr. George L., Elisabeth Prentiss. Ver-
fafferin von .Himmelan'. Ihr Leben und ihre Briefe.
In theilweife verkürzter und freier Uebertragung von
Marie Morgenftern. Bafel, Schneider, 1888. (VI,
278 S. gr. 8. Mit Stahlft-Portr.) M. 4.80; geb. M. 6.—

Der Gefichtspunkt, unter welchem vorliegende Biographie
zu einer Befprechung in der Theol. Lit.-Zeitung
geeignet erfcheint, kann nur die Aufmerkfamkeit auf die
den Briefen zu Grunde liegende theologifche Anfchauung
der Briefftellerin fein. Und da ift es ein Lob für die in
dem Buch gefchildcrte Frau, dafs die im Ganzen fchlichte.
gefunde und innige Frömmigkeit derfelben fich mit theo-
logifchen Problemen kaum befafst. Nur an einigen Stellen
der Briefe tritt eine fpeeififeh amerikanifche Art des
Chriftenthums hervor: diefe befteht darin, dafs der Erweis
des Glaubens und der Liebe zu Chrifto als ein befon-
deres Gefchhft angefehen wird, welches aufserhalb der
uns von Gott gegebenen Berufspflicht gethan werden
mufs. Wie Frau Prentifs fich ernftlich darüber aufregt,
dafs eine Freundin in einem Buch für Chriftenkinder einen
Nachdruck auf die Pflicht unbedingter Wahrheitsliebe
legen will, weil fich das ja von felbft verftehe, fo finnt
fie darauf, ihre Liebe zum Herrn in etwas Befonderem.
damit fie allen als folche erkennbar fei, zu erweifen. Das
find ungefunde Züge der Frömmigkeit, deren Ausbildung
in den Kreifen unterer Frauen und Jungfrauen wir nicht
wünfehen möchten.

Das grofse Intereffe, welches das Buch der Frau
Prentifs .Himmelan' [Sttpping Hcavcnward) erweckt
hat, wird auch diefer Lebensbeschreibung zu gute kommen
, obgleich der Umfang derfelben in Anbetracht des
Inhalts viel zu grofs ift. Es ift ja überhaupt nicht zu
empfehlen, dafs ein Ehemann, welcher feine liebe Frau
verehrt, auch ihre Biographie schreibt; jene unzähligen
kleinen Dinge, welche im häuslichen Leben ihren unschätzbaren
Werth haben, verlieren an Werth, wenn fie
öffentlich mit vielen Worten gepriefen werden; fie follten
bei chriftlich gefilmten Fronen felbftverftändlich fein und
dürfen daher nicht bewundert weiden. Die Briefe,
welche in übergrofser Zahl mitgetheilt find, bewegen fich
in einem keineswegs weiten und tiefen Gedankenkreife;
es ift ftets wieder dasfelbe, nur in verfchiedener Beleuchtung
, was uns vorgeführt wird. Aber eine liebenswürdige
, bei allem entschiedenen Ernft heitere Natur fpricht
fich darin aus, und wer viel Zeit an angenehme, nicht
anftrengende Leetüre zu verwenden hat, wird das Buch
nicht ohne Nutzen lefen. Die Ueberfetzung ift vorzüglich
gut.

Marburg. A che Iis.

Rutenberg, E., Jesus von Nazareth. Ein Epos. Bielefeld.
Velhagen & Klafing, 1888. (III, 368 S. gr. 8., geb.
M. 4.—

Die Bedenken, Jefum zum Gegenstand einer epischen
Dichtung zu machen, liegen ebenfo nahe wie das Verlangen
, fich diefes unvergleichlichen Stoffes zu bemächtigen
und die Geftalt Jefu auch mit den fchönften Gew finden
der Dichtung zu schmücken. Und das vorliegende
Gedicht in feinen einfachen und doch fchwungvollen
Jamben erreicht diefe Ablicht, wie kaum ein anderes