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Ausgabe:

1888

Spalte:

312

Autor/Hrsg.:

Hesse, Rob.

Titel/Untertitel:

Zwölf Predigten 1888

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Seite 1

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3ii

312

müfste es ihm felbft als eine Frivolität erfcheinen, zum
minderten, wie er H.'s Gedanken S. 94 ff. zu traveftiren
fich geftattet. Wenn Pfarrer Kr. nichts davon aus eigenem
Lutherftudium weifs und es Herrmann und anderen "Theologen
nicht glaubt, dafs Luther's urfprüngliche An-
fchauung über die Weife, wie die Reue, die Niemanden
gereuet, gewirkt werde, diejenige ift, die H. mit und nach
Ritfehl vertritt, fo mag er es uns nicht verübeln, dafs
wir wenigftens eine ernftere Gedankenarbeit über die
Probleme, über die er uns zur Rede (teilt, verlangen, ehe
wir ihn als einen Gegner, den wir unter die ,Wiffenden'
rechnen, anfehen. In feiner Krregung (teilt er S. 97 gar
einen Contraft, wie folgt, her: ,Prof. Herrmann urtheilt:
„Eine der pofitiven Hinwendung zu Gott und zum Guten
voraufgehende Reue ift weit entfernt von dem Selbft-
gericht, welchem der Menfch gerade dann verfällt, wenn
er das Gute will"; wir fagen dagegen: Ein das Streben
nach dem Guten begleitendes Selbftgericht ift weit entfernt
von der Tiefe und Kraft der Reue, welche vom j
heiligen Geilte gewirkt, das Menfchenherz zu dem Ausruf
nöthigt: „An dir allein habe ich gefündigt und Uebel
vor dir gethan, auf dafs du Recht behalten, in deinen
Worten" (Pfalm 51, 6). Nur diefe verdient den Namen
der göttlichen Traurigkeit, aus deren tiefen Waffern der
Arm der göttlichen Gnade rettend herausführt'. Alfo
Pfarrer Kr. verfteht es wirklich nicht, dafs man im
ernften Streben, von der Sünde zu laffen d. h. wirklich
das Gute zu thun, von Tag zu Tag um fo tiefer lernt,
alte und neue Sünde vor Gott zu beklagen? Ich glaube
nicht, dafs er das nicht verfteht — aber es befagt Alles
mit Bezug auf die Stimmung, in der er fich mit Herrmann
auseinanderfetzt, dafs er eine folche Tirade hin-
fchreiben kann! Etwas Anderes aus feinen Befchwerde-
punkten. Hat Pfarrer Kr. wirklich nie bemerkt, dafs
man im Glauben an Gottes Liebe es gerade nur wagt
zu glauben, dafs man ein neuer Menfch geworden fei? i
Niemand als der Chrift weifs, was es heifst, göttlich
leben zu follen. Wo lieht oder ,erfährt' denn ein Chrift
bei fich felbft, dafs, was er Gutes thut, wirklich aus
Gottes Geift flammt d. h. fo gut ift, dafs er fagen könnte,
es fei von göttlich makel- und tadellofer Art? Klagt
nicht jeder Chrift, dafs auch das Befte an ihm wie ein
befchmutztes Gewand ift? Mufs der Chrift es nicht blofs
und einfach ,glauben', dafs er wirklich ,wiedergeboren'
ift, dafs trotz Allem und Allem er nicht mehr der Menfch
der Sünde ift, der unrettbar verürickt ift von der Welt?
Es ift dasfelbe agitatorifche, Aufregung beabfichtigende
Gerede, welches Kr. über Herrmann's Lehre von der
Wiedergeburt als einem ,Glaubensgedanken' führt, als
was er vorher über H.'s Lehre von Bufse und Glaube
zu Papier gebracht hat. Und was follen folche niedrige
Späfse über das, was H. nur als ,Glaubensgedanken' bezeichnet
fehen will, wie Kr. einen auf S. 127 zum Beften
giebt? Derfelbe ift ja ganz auf der Höhe der Geift=
reichigkeit vieler Dicta von J. P. Lange über die Ritfchl-
fche Theologie, wie Kr. fie noch einmal drucken läfst,
nachdem ihr Autor dahingegangen ift. Was man einem
alten Mann nachfehen konnte und was wir nach feinem
Tode vollends gerne auf fich beruhen laffen würden, um
auch an ihm zu ehren, was an ihm geehrt werden kann,
das laffen wir uns von einem Anderen noch lange nicht
bieten! Auf diefen Ton mufs Pfarrer Kr. ein für alle
Mal verzichten, wenn er von uns einer Antwort gewürdigt
werden will.

Vielleicht begegnen wir Herrn Pfarrer Kr. auch einmal
in befferer Verfaffung. Auf agitatorifche Pamphlete
wird Keiner von uns eingehen. Wenn er es fich abgewinnen
kann, einmal sine ira, wenn auch cum studio, über die
,Ritfchl'fchc Theologie' zu handeln, fo werden wir ihm
gerne Rede und Antwort flehen. Ein Punkt, den er
berührt, ift der Art — ich gebe das rundum zu —, dafs
wir darüber noch Manches beffer als bisher fagen
müffen, wenn wir in unferer theologifchen Art richtig

follen gewürdigt werden, ich meine unfere Behandlung
derheiligen Schrift. Hätte Pfarrer Kr. fich ein Recht
darauf zu wahren gewufst, dafs wir auf feine gegenwärtige
Schrift hin in eine Discuffion einträten, fo würde ich
diefen Punkt beleuchtet haben. Vorläufig fei gefagt, dafs
wir auch hier fehr guten Muthes find, aber von Jedermann
auch gerne zu lernen bereit find; denn die heilige
Schrift lernen auch wir nicht aus.

Giefsen. F. Kattenbufch.

Hesse, weil. Paft. Rob., Zwölf Predigten. Mit Portrait in
Lichtdr. St. Petersburg, Eggers & Co., 1888. (99 S. 8.)
M. 2. —

Es wird uns leider nicht mitgetheilt, wer der Herausgeber
diefer Predigten ift, auch nicht, ob der Verf.,
weiland Paftor in St. Petersburg, geftorben oder emeri-
tirt ift, ob er felbft diefe Sammlung angeordnet, oder
ob diefelbe aus feinem Nachlaffe herausgegeben ift. Nicht
leere Neugierde läfst uns den Mangel jedes Vorwortes bedauern
; die Predigten felbft flöfsen ein tiefes Intereffe
für die Perfon des Predigers ein. Jedenfalls ift's ein
hochbegabter Mann, mit eigenartiger, herzbewegender
Kraft der Rede ausgeftattet, und die vorliegenden Er-
zeugnifse feiner Amtsthätigkeit gehören ohne Frage zu
den edelften Erzeugnifsen, welche die homiletifche Literatur
unferer Tage hervorgebracht hat. Die Kraft der-
felben liegt nicht vorzugsweife in der Pharm; in einfacher
fchöner Sprache ftellen fie fich freilich dar, aber es ift
augenfeheinlich nicht befondere Sorgfalt darauf verwendet
, und in dem kunftmäfsigen Aufbau der Rede ift hie
und da mitunter nicht Unwefentliches zu vermiffen. Aber
diefe formellen Mängel treten völlig zurück vor dem
Inhalt. Es ift wahr, dafs fämmtliche 12 Predigten einen
gewiffen Gedankenkreis nicht verlaffen, den Kreis, welcher
ehedem in der Blüthezeit des alten Pietismus aus-
fchliefslich cultivirt wurde: Bekehrung, Wiedergeburt,
Gebet. Allein die Luft, den Verf. zu regiftriren und ihm
einen Parteinamen oder auch nur Richtungsnamen anzuhängen
, erftirbt unter dem Eindruck feiner Worte. Der
ganze Mann, mit dem Einfetzen feiner ganzen frommen
Seele, mit dem tiefften Ernfte, der auf ein perfönliches
Chriftenthum dringt und dem der Herr Chriftus alles ift,
wirbt in jeder Predigt um das Herz des Lefers, und
kein befferes Motto möchte Ref. der Sammlung geben,
als den auf den Verf. anzuwendenden Text der erften Predigt
: Joh. 3,29 und 30.

Die fchöne edle Gabe foll hiermit auf das wärmfte
empfohlen fein.

Marburg. Achelis.

Baur, Geh. Kirchenr. Prof. Dr. Guft., Grundzüge der Erziehungslehre
. 4. verb. u. verm. Aufl. Giefsen, Ricker,
1887. (XIX, 417 S. gr. 8.) M. 6. —; geb. M. 7. 20.

Seit dem Jahre 1843, in welchem das vorliegende
Werk zum erften Male erfchien, hat fich in der Pädagogik
und deren Literatur eine grofse Wandlung vollzogen
. Der erfte Satz des Vorwortes zur vierten Auflage
bezeichnet treffend, um was es fich handelt. ,Schon der
im eilten Satze diefes Buches ausgefprochene Gedanke,
dafs es gerathener fei, bei der Darfteilung der Erziehungslehre
,von erfahrungsmäfsig vorliegenden und in der
Probe der Gefchichte beftätigten Wahrheiten auszugehen',
als von den Lehrfätzen eines beftimmten philofophifchen
Syftems, mufs darauf gefafst fein, dem Verwerfungsur-
theil jener Pädagogik zu verfallen, welche fich gegenwärtig
in beneidenswerther Selbftfchätzung die wiffen-
fchaftliche nennt, und deren jugendliche Adepten den
Muth finden, die Erziehungslehre eines Mannes wie
Schleiermacher als unwiffenfehaftlich zu bezeichnen,
weil fie nicht die Herbart'fche Pfychologie zur Grund-