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Ausgabe:

1888 Nr. 9

Spalte:

239-241

Autor/Hrsg.:

Majunke, Paul

Titel/Untertitel:

Geschichte des „Culturkampfes“ in Preussen-Deutschland 1888

Rezensent:

Köhler, Karl

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239

Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 9.

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liehe Aufgaben für diefe Welt? Diefe Frage wird von
dem Verf. für das zweite und dritte Jahrhundert im
Grofsen und Ganzen verneint; wenn er aber den Grund
diefer ganz zutreffenden Beobachtung vorwiegend in der
Parufie-Erwartung findet, fo ift diefe Erklärung durch ein
zwar auch berückfichtigtes, aber nicht energifch genug
hervorgehobenes Moment zu ergänzen: die gegenwärtige
Welt ift nämlich das Herrfchaftsgebiet der widergöttlichen
Mächte, und der Gläubige kann daher in Bezug auf eine
folche Welt keine poütiven Aufgaben haben. Hieraus
erwächft dem Hiftoriker die Verpflichtung zu unterfuchen,
in welchem Sinne und Mafs ein folcher Gedanke fchon
in der neuteftamentlichen Ethik vorhanden und wirkfam ift.
Dafs derfelbe bereits in der paulinifchen und der johanne-
ifchen Theologie vorliegt, wird kein Unbefangener leugnen
können, und es kann fich nur um die Frage handeln,
inwieweit andere Strömungen eine folche Anfchauung
zurückdrängen und neutralifiren oder vielleicht auch
wiederum fördern und heben. Doch auch hier concen-
trirt fich wieder das Hauptintereffe auf die religiöfe Stellung
und das praktifche Verhalten Jefu: diefes Verhalten
bezeichnet der Verf. als eine im Gegenfatz zur asketifchen
Weltverneinung durchaus pofitive Weltbeherrfchung, —
eine Antwort, welche, fo viel ich fehe, dem Bilde, dem
Lebenswerke und dem religiöfen Zeugnifs Jefu in der
That entfpricht, obgleich die durch S. gegebene Begründung
diefer Antwort nur theilweife überzeugend oder
zutreffend fein dürfte. Oder follte wirklich die einfeitige I
Betonung des unfichtbaren und rein geiftigen Charakters
des Gottesreiches und das Aufgeben des Wiederkunftsgedankens
das Räthfel der Haltung Jefu löfen? Wird dadurch
der Dualismus nicht in erheblicher Weife ver-
fchärft? Ift nicht vielmehr der concrete Realismus, welcher
auch vielen Ausfprüchen Jefu zu Grunde liegt, dazu an-
gethan, die Hineinbildung des Gottesreichs in die irdifchen
Verhältnifse, Weltgüter und Lebensaufgaben beffer zu
begründen, als die moderne Verflüchtigung feiner Reden
und Gedanken? Wird nicht durch die ausdrückliche und
ftete Vergegenwärtigung der Forderung, dals das Reich
Gottes fich auf Erden zu verwirklichen hat, die ,ethifch-
culturelle' Fruchtbarkeit der Grundanfchauung Jefu erft
in ihr volles Licht geftellt? — Ueber viele einzelne
Aeufserungen, über die Characteriftik einiger Kirchenväter
, namentlich aber über die Stellung zu wichtigen
neuteftamentlichen Schriften oder Begriffen würde Ref.
gerne mit dem Verf. fich näher auseinanderfetzen; doch I
der Diffenfus mag hier zurücktreten vor dem Ausdruck
des Dankes für die hier uns dargebotene Unterfuchung
über eine noch lange nicht erfchöpfte, gefchweige denn
gelöfte Frage, deren grundlegende Bedeutung der Redner
in klaren und kräftigen Worten beleuchtet hat: ,Es ift
eine verbreitete und begreifliche, aber irrige Anficht, dafs
die inneren Schwierigkeiten und Gefahren für das Chriften-
thum von heute vorzugsweife auf dem Gebiet des Dog-
ma's zu fuchen feien. — Verlöre unfere Theologie das
klare Bewufstfein von dem Wefen der von ihr zu ver-
ftehenden Lebensanficht und von dem vernünftigen
und gefchichtlichen Rechte derfelben — fo ftände fie
als wiffenfehaftliche Disciplin trotz aller exegetifchen und
kirchengefchichtlichen Mühwaltung ebenfo haltlos da,
wie im praktifchen Weltgetriebe diejenige chriftliche Ge-
meinfehaft daftände, deren Mitglieder unbefchadet ihrer
Kirchlichkeit fich daran gewöhnt hätten, ihr tägliches !
wirkliches Leben ohne Rückficht auf das Chriftenthum
zu ordnen'.

Strafsburg iE. P. Lobftein.

Majunke, Paul, Geschichte des Kulturkampfes' in Preussen-
Deutschland. 2.-9. (Schlufs-) Lfg. Paderborn, F.
Schöningh, 1886. (X u. S. 65—572. gr. 8.) ä M. —. 75.

Die erfte Lieferung des genannten, nun fertig vor- j
liegenden Buches ift in Nr. 18, 1886 angezeigt worden. |

Das Urtheil, welches dort nach dem erften Anblick aus-
gefprochen wurde, findet fich beim Durchlefen des Ganzen
beftätigt. Das Buch ift mit Gefchick gefchrieben, leicht
und angenehm lesbar, man erkennt überall den federgewandten
Journaliften. Hämifche Seitenblicke und -Hiebe
geben gelegentlich der Darfteilung eine angenehme Würze,
während fich diefelbe anderwärts zur Höhe des Legen-
denftiles erhebt. Als thätiger Mitfpieler bei den gefchil-
derten Vorgängen verfügt der Verf. über eine ausgedehnte
Kenntnifs von Perfonen und Verhältnifsen und
weifs allerhand .pikanten' Kleinkram aus der jeweiligen
Tageschronik zu erzählen, welcher bisher noch weniger
oder nicht bekannt war, deffen Richtigkeit übrigens
fchwer zu controliren ift. Im Uebrigen findet man nichts,
was über den jedesmaligen journaliftifchen Gefichtskreis
hinaus läge. Enthüllungen von Erheblichkeit darf man
in dem Buche nicht fuchen, auch nicht in Bezug auf
Dinge, welche dem Verf. wohl genauer bekannt fein
dürften als anderen Menfchenkindern, die nicht hinter
die römifchen Couliffen zu fehen in der Lage waren.
Dafs er über die Verhältnifse der auswärtigen Politik,
welche auf das Verhalten des Reichskanzlers erfichtlich
von grofser Einwirkung gewefen find, nichts zu berichten
weifs, ift ihm weniger hoch anzurechnen, die Quellen
darüber find noch nicht erfchloffen. Am meiften würde
fich enttäufcht finden, wer in dem Buch wirkliche Ge-
fchichte fuchen wollte. Man hat es mit einer Partei-
fchrift im vollften und fchlechteften Sinne zu thun. Von
den tieferen Gründen, welche zu dem Zufammenftofs
zwifchen dem deutfehen Staate und der römifchen Kirche
führen mufsten und vorausfichtlich noch zu weiteren
Zufammenftöfsen führen werden, wie von den Zielen,
welche bei dem Vorgehen von erfterer Seite urfprüng-
lich beftimmend waren, hat der Verf. keine Ahnung.
Was darüber vorkommt, ift Entftellung und gegen den
Verdacht böswilliger Entftellung nur durch die, allerdings
nahe liegende Vermuthung eines gänzlichen Mangels an
Verftändnifsfähigkeit zu fchützen. Am ftärkften zeigt fich
diefer Mangel, wo der Verf. auf proteftantifche Dinge
zu reden kommt, was zum Glück nicht häufig der Fall
ift. Nachweife für kühne Behauptungen fcheint er nicht
immer für erforderlich zu halten. Nach S. 88 müfste
der Gefandte v. Arnim bereits 1870 in Befitz von geheimen
Inftructionen gewefen fein, aus welchen ihm der
fchon damals feftftchende Entwurf Bismarck's zum dem-
nächftigen Vernichtungskampf gegen die katholifche
Kirche in feinen Einzelheiten bekannt war: gefehen hat
fie Niemand. Nach S. 94 ,fehlen zwar leider pofitive Be-
weisftücke für das nunmehrige Verhalten des Kanzlers',
aber ,es ift nicht anzunehmen, dafs' u. f. w., und nach S. 108
.liegt es auf der Hand', dafs bei der Anwefenheit der Kai-
ferdeputation in Verfailles zwifchen den mafsgebenden
Abgeordneten und Bismarck Abmachungen über den geplanten
Culturkampf getroffen wurden. Alles war fchon
längft im Voraus abgekartet, das Concil und die Unfehlbarkeitserklärung
gaben nur den Vorwand zur Eröffnung
der Feindfeligkeiten. Gerechtigkeit oder auch
nur Billigkeit für die Gegner ift diefer Art von Tendenz-
fchriftltellerei nicht eigen: überall werden bei denfelben
fchlechte und nur fchlechtc Beweggründe gefucht und
gefunden. Ueber unbequeme Thatfachen weifs man mit
Gefchick, wenn auch nicht immer mit Glück hinwegzukommen
, fragwürdige Erfcheinungen wie der Wunder-
quellencultus werden mit unbefangenem Stillfchweigen
übergangen. Die Blöfsen des Gegners verfteht man beftens
zu benutzen, und dafs folche fich reichlich darbieten,
dafür hat die preufsifche Regierung, theilweife auch das
Ungefchick der Officiöfen geforgt. Der Mythus von dem
Friedenspapfte Leo XIII. wird mit verdientem Hohn be-
goffen; die Aeufserung vonTfchackert: .Schmählicher, als
der Jefuitenfchüler Leo XIII. es gethan, hat noch Niemand
die evangelifche Kirche verleumdet', erfährt Zuftimmung,
felbftverftändlich nicht im Sinne eines Tadels: von feinem