Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1888 Nr. 9

Spalte:

235-236

Titel/Untertitel:

Holsten, Ist die Theologie Wissenschaft? 1888

Rezensent:

Lobstein, Paul

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

235

Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 9.

236

Gott ihm irgend Etwas geoffenbart habe, dies auf keine
andere Weife, als entweder im Traum oder kraft prophe-
tifcher Vifion gefchehen fei. Nicht unmöglich ift, dafs
diefe Stelle des angeführten Werkes für Hardt die Ver-
anlaffung geworden ift, fich mit der Sache zu befchäftigen
und jenen Auffatz zu fchreiben, von dem wir oben ge-
fehen haben, dafs er Leibniz die Anregung zur Ab-
faffung feiner Histoire de Bileam gegeben hat. Keinesfalls
aber hat Hardt in feinem Briefe an Leibniz diefen
Sachverhalt berührt. Augenfcheinlich ift der Philofoph
der Anficht gewefen, dafs der Gedanke an ein Traumge-
ficht Bileam's auf einer ,Meditation' Hardt's beruhe, und
hat von einem früheren Vorkommen desfelben keine
Ahnung gehabt.

Faffen wir alles Gefagte in ein kurzes Wort zu-
fammen, fo haben wir erkannt: die Histoire de Bileam,
ein Auffatz von geringem Umfang, ift als fprechendes
Zeugnifs von dem reichen und tiefen Geifte ihres Ver-
faffers äufserft willkommen zu heifsen.

Marburg. Ernft Ranke.

Holsten, Ist die Theologie Wissenschaft? [Rectoratsrede
1887] Heidelberg.

,Ift die Theologie Wiffenfchaft?' Dafs diefe, von dem
z. Prorector der Univerfität Heidelberg, Prof. Höhten,
in feiner akademifchen Rede angeregte und behandelte
Frage durchaus zeitgemäfs ift, bedarf keines befonderen
Nachweifes, denn das Vernichtungsurtheil, welches viele
Gebildete unferer Zeit über die Religion ausfprechen,
trifft direct die Theologie und ftellt diefelbe nothwendig
unter denfelben Verdammungsfpruch. Die geftellte Frage

tung der religiöfen Gemeinde tritt hier gänzlich zurück:
die Theologie ift ,eine höhere Biologie, welche die grofsen
Gefetze des geiftigen Einzellebens im Leben des unendlichen
Geiftes wiffenfchaftlich zu erkennen und zu begründen
fucht'. Man wird zugeben müffen, dafs diefe
Auffaffung fich nothwendig aus den Prämiffen H.'s ergiebt,
fo dafs eine Auseinanderfetzung mit ihm zunächfl über
letztere ftattfinden müfste. Ohne in eine folche Discuffion
einzutreten, bei welcher der angeführte Vortrag vom J.
1886 nothwendig den Hauptgegenftand der Unterfuchung
bilden würde, möchte ich nur noch hervorheben, dafs
vorliegende akademifche Rede in formeller Hinficht als
eine glänzende Leiftung bezeichnet werden mufs. Mögen
auch hin und wieder einige Stellen oder Ausdrücke etwas
gefucht erfcheinen, fo ift die plaftifche Geftaltungskraft,
welche fich in der Darftellung kundgiebt, fowie die vollendete
Abrundung des Ganzen, wahrhaft bewunderungswürdig
. Die Virtuofität, mit welcher der Redner den
,Schatten feiner Gedanken mit dem Lebensblute der
Anfchauung tränkt', die Illuftration feiner religionsphilo-
fophifchen Grundfätze aus dem Gebiete der Dichtkunft
und der Gefchichte, wird einen wahrhaft äfthetifchen Ge-
nufs auch dem Leier gewähren, welcher einen von den
Pofitionen des Verfaffers principiell verfchiedenen Standpunkt
vertritt.

Strafsburg iE. P. Lobftein.

Brückner, Stadtpfr. Wilh., Die Stellung des gegenwärtigen
Glaubensbewusstseins zu den biblischen Wundern. [Deutfche
Zeit- u. Streit-Fragen, N. F. 2. Jahrg. 8. Hft.j Ham-

zeVlegr^ burS' J' R Richter' l887- (4° S- Sr- 80 M- *■ ~

fchaft? Was ift Religion? — Wiffenfchaft im Sinne Die moderne, auf Grund der durch Spinoza einge-

der Gegenwart ift ,auf dem Grunde thätfächlicher Er- 1 leiteten philofophifchen Speculation und der in unüber-

fahrung die Umformung der Welt des Seins in eine Welt
des Bewufstfeins, entfprechend der Welt des Seins'.
Religion ift Erlebnifs, Erfahrung eines Seins, denn fie
ift geboren aus der Vermählung des Lebensgefühls und

fehbarem Fortfchritt begriffenen naturwiffenfchaftlichen
Forfchung gebildete Wcltanfchauung fteht in principiellem
Widerfpruch mit dem biblifchen Wunderbegriff, welcher
fowohl die Abfolutheit Gottes als die Unverbrüchlichfeiner
Erfahrung mit dem Lebenstriebe nach dem Ge- j keit der Naturgefetze aufhebt. Auch die modernen
nuffe vollendeten Lebens. Diefe Idee der Religion ver- ' Theorien eines J. P. Lange, eines Rothe, eines Beyfchlag,
wirklichte fich in drei Hauptformen, den Naturreligionen, j welche die altorthodoxe Auffaffung abfchwächen oder
den Culturreligionen, der Geiftesreligion. Aus diefen drei | zum Theil die natürlichen Erklärungen des Rationalismus
Formen hebt der Redner die entfcheidenden Momente '• erneuern, haben es nicht vermocht, die Möglichkeit und
heraus, welche zur Beftätigung und Illuftration feiner I die Nothwendigkeit des Wunders zu retten. Um das
Definition dienen follen. Die Folgerung, welche fich aus | Dafein der Wunder in der Bibel zu erklären, genügt es,
diefer Unterfuchung für die angeregte Frage ergiebt, ift j an die durch die Religionsphilofophie und die biblifche
einfach und klar. Ift das religiöfe Lebensverhältnifs Er- Kritik bezeugten Thatfachen zu erinnern: aus jenen er-
fahrung des Menfchen und der Menfchheit, fo ift die : giebt fich, dafs die Wunder in dem Wefen der Religion
Wiffenfchaft der Religion, wie alle anderen, Erfahrungs- ; begründet find, fofern das religiöfe Leben beides ift,
wiffenfchaft. Wefen, Gebiet und Aufgabe der Theologie I Gefühl der Abhängigkeit von Gott und Sehnfucht nach
beftimmen fich dem Gegenftande entfprechend, den fie Befreiung von den Feffeln der Naturwelt; die biblifche
denkend zu verarbeiten hat; fomit hat die Theologie das 1 Kritik, welche uns über die Entftchungsverhältnifse der
Recht zu der Forderung, wenigftens auf einer deutfchen ] heiligen Schriften aufklärt, mufs dazu führen, den früher
Univerfität als ein organifches Glied am Leibe der Wiffen- feilgehaltenen Zufammenhang zwifchen der Wunderthat-
fchaften anerkannt zu werden. ,Nichts anderes ift die 1 fache und der Wundererzählung aufzulöfen. Die bibli-
Theologie, als auf Grund der Erfahrungen des Lebens- fchen Wunder find in erfter Reihe Gebilde der gläubigen
gefühls von feiner unendlichen Lebensmacht, wie die j Gemeinde, welche in den Wundererzählungen die Ereig-
gefchichtliche Religion fie verkündet, die wiffenfchaftliche nifse der Vergangenheit verherrlichen; aufserdem find fie
Antwort auf jene Frage, die als eine ewige aus dem nicht feiten von den biblifchen Schriftftellern gewollt und
Wefen des lebendigen Menfchen entfprungen, durch alle beabfichtigt, um in ihnen religiöfe Gedanken zur anfchau-
Religionen und durch jedes Menfchengemüth in verfchie- i liehen Darfteilung zu bringen. Dafs es viele Orthodoxen
dener Form und doch in gleichem Sinne geht, auf die j giebt, welche in der Auflöfung des herkömmlichen Wun-

Frage des Lebenstriebes, des urfprünglichften, des allge-
meinften, des allgewaltigften: Meifter, was foll ich thun,
dafs ich das ewige Leben gewinne?' — So fchliefst die
Rede, deren Grundgedanken der Verfaffer in feinem Vortrag
,Ueber Urfprung und Wefen der Religion' 1886
weiter ausgeführt und eingehender begründet hatte. Neu
ift hier die übrigens kurz erörterte Folgerung, welche
der Redner als Antwort auf die von ihm geftellte Frage

derglaubens die Zerftörung des ganzen Chriftenthums
erblicken, begreift fich aus der gefchichtlichen Entwicke-
lung der chriftlichen Theologie vollkommen; jenes Glau-
bensbewufstfein aber, welchem das ganze Chriftenthum
als göttliches Drama erfchien, das in einzelnen Wundern
vor den Augen der ftaunenden Menfchheit fich abfpielt,
hat fich zwar aus im Neuen Teftament fich findenden
Gedanken gehaltet, es deckt fich aber nicht mit den

zieht. Die durch Schleiermacher poftulirte praktifche j Grundlagen derfelben. Auch ift jene in einzelnen Wun-
Abzweckung der Theologie auf die Erbauung und Lei- 1 dem fich vollziehende Weltanfchauung durch die richtige