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Ausgabe:

1888 Nr. 8

Spalte:

202-206

Autor/Hrsg.:

Bois, Henri

Titel/Untertitel:

De la certude chrétienne 1888

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 8.

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trägt, der man es anfühlt, dafs fie nicht mühfeliger oder
pedantifcher Buchftäblerei abgerungen ift, fondern einer
Schriftforfchung entflammt, die inmitten des lebendigen
Stromes der Offenbarung flehend aus dem Ganzen heraus
und mit dem Blick aufs Ganze das Einzelne beur-
theilt, erfafst und zurechtftellt, fo ftreng fie, gemäfs dem
von Bengel feilgehaltenen Schriftprincip, fich an den
biblifchen Ausdruck und Gedanken bindet; es ift endlich
der gefunde, nüchterne Blick, mit welchem Bengel von
feinem feiten Standort aus alles beobachtet und abmifst,
was in den Bereich des pafloralen Lebens, überhaupt
des praktifchen Chriftenthums feiner Zeit fällt, und die
fchlichte Demuth, wie fie fich in feiner persönlichen
Selbftbeurtheilung ausprägt. Wenn er dem Ruf auf die
theologifche Lehrkanzel der Univerfitat Giefsen ausweicht
, damit es nicht heifse, ,was hindert diefer einen
Belfern'? und es vorzieht,,im Schatten' feiner unbedeutenden
Stellung' zu bleiben, als einer, ,der fein Brod
nicht gar vergeblich iffet', fo gefchah das nicht nach dem
,Grundfatz, dafs man zu keinem neuen Amte, auch zu
dem man geeignet wäre, fich anbieten dürfe'*), fondern
in der richtigen Beurtheilung feiner Gabe, die ihn auf
das Wirken von Perfon zu Perfon im gefchloffenen,
engeren Kreis anwies, auf das Schriftftudium in ganz
befhmmter, begrenzter Richtung befchränkte, ihn ängll-
lich zurückweichen liefs vor der Nöthigung zu fyftema-
tifch-theologifcher Zufammenfaffung, welche die biblifchen
Begriffe mit dem Ganzen des Wiffens in Beziehung zu
fetzen hat. ,Schriftmafsige Gedanken find ganz etwas j
anderes, als akademifche Ideen; von jenen läfst man
fich auf Akademien durch menfehliche Begriffe abführen.
Davor bewahrt Uebung im Wort Gottes. Deshalb ziehe
ich meine obscure Stelle einem akademifchen Lehrlluhl
vor' (S. 15). Wenn er alfo auch in jenem Falle, ,da er
fich felbll nicht traute', vor der Entfcheidung die Meinung
der Eltern und vertrauter Freunde einholte darüber, wohin
nach ihrer Meinung ihn Gottes Wille weife, fo war
doch für ihn perfönlich der beftimmende Grund für die
Ablehnung die Erkenntnifs, dafs feine Lebensaufgabe eine
engere fei, als das akademifche Lehramt. In der aus
feiner Auffaffung der heiligen Schrift als eines Syftems
der Wahrheit entfpringenden, mit Bewustfein und Ueber-
zeugung geübten Befchränkung auf den Kreis der direct
und nach formalem Princip aus der Schrift gefchöpften
Gedanken, Anfchauungen und Lehren, in dem völligen
Verzicht auf den Verfuch, über die Peripherie des von
der Schriftwahrheit in diefem formellen Sinn beleuchteten
Anfchauungs- und Lehrkreifes hinauszugehen und
Beziehung zum aufserbiblifchen Willen zu fuchen, liegt
ja die Schranke von Bengel's theologifchem Denken,
wie feiner ganzen Welt- und Lebensauffaffung. So ficher
und klar er von dem Standort, den er im Centrum der
Schriftwahrheit nimmt, alle Punkte der Peripherie beleuchtet
, fo beftimmt lehnt er die Entfcheidung ab über
das, was jenfeits der Peripherie liegt. So beurtheilt er
die Dinge der Welt, die menfehlichen Lebens- und Be-
rufsverhältnifse mit gefundem und weitem Blick in ihrer <
Bedeutung für das Reich Gottes und in ihrer mittelbaren
und unmittelbaren Beziehung auf den perfönlichen Heils-
ftand, auf die individuelle Heilserziehung; aber das Ver- i
lländnifs für die felbftändige Bedeutung des Kosmos als
des Gebiets und Objectes für das Chriftenthum, für deffen
Auswirkung und Bethätigung, kurz die Auffaffung des
Chriftenthums als des Salzes der Erde, als der fchon
hier reichsbildenden Macht nimmt in feinem Gedanken-
kreife nicht diefelbe Bedeutung ein, wie die Auffaffung
des Chriftenthums als der perfonbildenden Kraft. Der j
Reichsgedanke, fo mächtig er in Bengel's Anfchauung 1
fich geltend macht, ift noch nicht mit den menfehlichen
Ordnungen und Lebensbeziehungen in lebendige pofitive
Beziehung gefetzt und zu einfeitig auf das Jenfeits und die

•) Ritfeh] a. a. O. III. 2. S. 63.

Zukunft bezogen. — So möchten wir die Thefe des
Verf.'s dahin ergänzen: dafs, was Bengel giebt, lauteres,
originales Chriftenthum ift, aber nicht das Ganze des-
fclben; während wir von Üetinger auch nach dem hier
vorliegenden gedrängten Bilde bei aller Verehrung für
den genialen Theofophen fagen müffen: nicht alles, was
er vorträgt, ift biblifche und, ftrenggefafst, chriftliche
Wahrheit: der Eintrag fremdartiger Gedanken rückt doch
manchen chriftlichen Lebensgedanken in eine falfche Beleuchtung
. Geben wir alfo hier zu, dafs er das lebendige,
evangelifche Chriftenthum in urfprünglicher d. h. origineller
und kraftvoller Weife vertritt, fo können wir von
ihm doch nicht im felben Mafse, wie von Bengel fagen,
dafs es überall ,das lautere, fchriftgemäfse Chriftenthum'
fei, das er vertrete, fo viel davon in feinen Schriften enthalten
ift und fo lebendig auch er durch fein Leben
Zeugnifs davon giebt, dafs er von Chriftus ergriffen ift.
Gerade in Leben und Charakter vermiffen wir doch etwas
von der allfeitigen chriftlichen Durchbildung und
von dem edlen Gleichmafs, das Bengel auszeichnet, wie
er auch der Schrift gegenüber nicht jene zartfinnige,
heilige Zurückhaltung immer bewiefen hat, die Bengel
als einen Schriftgelehrten im Sinne von Matth. 13, 52
charakterifirt.

Friedberg. H. A. Költlin.

Bois, Henri, De la certitude chretienne. Essai sur la theo-
logie de Frank. Paris, Fischbacher, 1887. (345 S.
gr. 8.) Fr. 5.—

Die Zahl der Verfuche, welche die franzöfifchen
Leier in die Kenntnifs der Methoden und der Ergebnifse
deutfeher Theologie einweihen wollen, mehrt fich in erfreulicher
Weife. Sowohl die in Montauban und Laufanne
regelmäfsig erfcheinenden theologifchen Revüen und
Jahrbücher, als die unter Profeffor Lichtenberger's
Leitung in Paris veröffentlichte Encyclopedie des Schnees
religieuses, haben fchon zahlreiche und zum Theil
werthvolle Beiträge zur allgemeinen Verbreitung deutfeher
Theologie geliefert. Aber auch fonft find manche Abhandlungen
, vor allem Univerfitätsprogramme und Differ-
tationen, durchaus beachtenswerth. Gegenwärtig richtet
fich in Frankreich und in der franzöfifchen Schweiz das
Intereffe in erfter Linie auf Wellhaufen's Forfchungen
und Ritfchl's Theologie. Aber auch andere Theologen
der unmittelbaren Gegenwart find Gegenftand eingehenden
und eifrigen Studiums geworden: Biedermann*s
Grundgedanken, Pfleidcrer's Religionsphilofophie, die
Dogmatik und die erklärenden Beiträge von Lipfius,
einzelne Schriften von Kaftan, Herrmann u. a. find dem
franzöfifchen Publicum mit Gefchick und Erfolg zugänglich
gemacht worden. Dafs es dabei nicht an Mifs-
verftändnifsen und Entftellungen gefehlt hat, ift nicht
zu verwundern; vielmehr dürfte man eher darüber
fiaunen, dafs die Verfehen wohl geringer und feltener
find als die, welchen man diesfeits der Vogefen häufig
genug, vor allem in den Kirchenzeitungen, begegnet. —
Unter den gegenwärtigen Dogmatikern Deutfchlands hat
aber Keiner eine fo ausführliche Darftellung und Würdigung
erfahren wie Frank; feinen drei Syftemen widmet
Lic. theol. Bois, Sohn des Herausgebers der Revue
tlieologique von Montauban, eine ilattliche, 345 Seiten
ftarke Unterfuchung. Man könnte zwar darüber Breiten,
ob die Bevorzugung gerade diefes Theologen im richtigen
Verhältnifs zum gegenwärtigen Stande der deutfehen
Theologie fleht; immerhin können wir feinem franzöli-
fchtn Dolmttfcher bereitwilligft zugeben, dafs unter den
confeffionellen oder confeffionell fein wollenden Theologen
der Jetztzeit Frank zweifellos die erfte Stelle behauptet
.

Unfere Schrift zerfällt in zwei Theile, einen refe-
rirenden (S. 19—168: Exposition) und einen beurtheilen-