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Ausgabe:

1888 Nr. 8

Spalte:

199-202

Autor/Hrsg.:

Wächter, Oskar

Titel/Untertitel:

Bengel und Oetinger. Leben und Aussprüche zwei altwürttembergischer Theologen 1888

Rezensent:

Köstlin, Heinrich Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 8.

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Diefe waren — wir wollen ihn hier eine Weile in directer
Rede fprechen laffen — von dem platonifchen Begriff
des vollkommenen Staates erfüllt, und fahen denfelben in
den Schilderungen der Propheten vom Reich des Meffias
befchrieben; noch mehr, fie fanden ihn darin überboten.
Dabei entging ihnen nicht, dafs die Realifirung diefes
Reichs nicht ohne Gewalt der Waffen durchgeführt werden
könne. Widrigkeiten werden fich denfelben ent-
gegenftellen. Schmerzen des Meffias werden kommen:
Kriege und Kämpfe mit mächtigen Widerfachern werden
eintreten. Der Mächtigfte ift der Antichriff. Von ihm
handelt der Jude Abarbanel in feinem Commentar zum
Buch Daniel. ,So ift das Dogma vom Antichriff fchon
vor unferm Herrn Jefus Chriffus vorhanden gewefen'.
Mit deffen Erfcheinung trat ein Umfchlag ein. Er
ward von den Juden verachtet und an das Kreuz ge-
fchlagen. Ifrael war fein Feind, der Feind des wahren
Meffias, der Antichriff. Wie es Jefum gehafst und ge-
tödtet hatte, fo verfolgte es die Seinigen. Von dem Verhalten
der juden gegen Jefus berichten die Evangelien;
von der Verfolgung der Gemeinde Chrifti die Apoftelge-
fchichte und die Briefe der Apoftel. Befonders fpricht
fich darüber derjenige Apoftel Jefu aus, der einft die Ge- j
meinde Chrifti verfolgt hatte, Paulus, und zwar am be-
ftimmteften in der Stelle II Theff. 2, 1—12. Wenn hier
von dem ,Menfchen der Sünde', ,der fich in den Tempel
Gottes fetzt pp.' die Rede ift, fo meint Paulus damit
die ungläubigen Juden. Dafs er ftatt des Plurals den
Singular gebraucht, erklärt fich durch den Sprachgebrauch.
Auch wir können fagen: ,der Franzofe bekriegt den
Deutfchen' und meinen damit, dafs die Franzofen wider
uns zu Felde ziehen. Der .Menfch der Sünde' bedeutet
die lündvollen Juden. Dafs fich derfelbe in den Tempel
Gottes fetzt, will fagen: Der rechte Cultus vollzieht fich
in unferem Tempel. Was die Strafe Gottes noch aufhält,
das ift die Gegenwirkung gegen die Juden, die in der
Predigt und den Briefen des Apoftels felbft liegt; nur
aus Befcheidenheit nennt er feinen Namen nicht.

Ebenfo redet, fagt Hardt weiter, Johannes (I, 2, 18) j
vom Antichriff: und meint damit die ungläubigen Juden.
Wenn er ausfpricht, dafs die letzte Stunde gekommen
fei, fo deutet er damit auf die Zerftörung des jüdifchen :
Volkes hin, und wenn er hinzufügt, dafs es fchon mehrere
Antichrifti gebe, fo verfteht er darunter folche Juden,
welche, nachdem fie Chriften geworden waren, zum juden-
thum zurückgekehrt find. Aehnlich hat fchon Chriftus
den Juden gegenüber im Evangelium 8, 44 gefagt, dafs
die Ungläubigen Kinder des Teufels feien. Schliefslich
ift, fagt er, der einzige Zweck der Apokalypfe, eine Vor-
ftellung von dem Hafs der Juden gegen Chriftus und feine
Kirche, fowie von der gerechten Strafe zu geben, welche
durch die Zerftörung Jerufalems und des jüdifchen Staats-
wefens über fie komme.

Man fieht: hier redet, zum Theil in fchwungvollen
Worten, zum Theil in Ausdrücken, die dem gemeinen
Menfchenverftande entnommen find, ein zwar vom
Glauben an Chriftus erfüllter und mit Gaben der Gelehr-
famkeit ausgerüfteter, aber doch einfeitig gebildeter Geift,
welcher im Eifer des Haffes gegen das ungläubige Judenthum
die klarften Hindeutungen der heiligen Schrift auf
das Vorhandenfein noch eines andern Widerfpruchs gegen
den Erlöfer, namentlich die Ankündigung des göttlichen
Gerichts über die Siebenhügelftadt und das Römifche
Kaiferthum (Apoc. 17,9—Ii) zu überfehen im Stande war.

Marburg. Ranke.

Wächter, Dr. Ösk., Bengel und Oetinger. Leben und Aus-
fprüche zwei altwürttembergifcher Theologen. Gütersloh
, Bertelsmann, 1886. (VIII, 236 S. gr. 8.) M. 4. —;
geb. M. 4. 80.

Nicht an die Kreife der Theologen von Fach wendet
fich diefe Doppel-Biographie, fondern an Alle, deren

Denken, Glauben und Streben auf die höchften Ziele gerichtet
ift, die Zeit haben für die höchften Anliegen, und
das Bedürfnifs empfinden, durch die geiftige Berührung
mit folchen geifterfüllten Perfönlichkeiten, aus denen ,die
Hoheit und Einfalt der Patriarchen, heiliger Ernft der
Propheten, die Innigkeit der Apoftel und vollendete Ge-
ftaltung neuteftamentlichen Lebens' leuchtet, das eigene
innere Leben zu ftärken. Wie ihm aus den eigenen Worten
diefer Männer, aus denen ihm ,neues Leben, neue
Kraft und Freudigkeit, der Pulsfchlag ewiger Jugend' in
die Seele drang, deren Geiftesbild fich erzeugte, fo will
der Verfaffer auch in dem vorliegenden Buche diefe beiden
Männer felbft reden laffen, ihre eigenen Worte wiedergeben
mit den ,fie gleichfam protocollirenden zuver-
läffigen Aufzeichnungen ihrer Zeitgenoffen'. Die Materialien
zu dem Lebensabrifs von Bengel fchöpft der Verf.
vorwiegend aus feiner früheren, im Jahre 1865 erfchiene-
nen Schrift: Johann Albrecht Bengel. Lebensabrifs, Charakter
, Briefe und Ausfprüche etc. Nach handfchriftlichen
Mittheilungen dargeftellt'. Joh. Chr. Fr. Burk's ,Bengel's
Leben und Wirken meift nach handfchriftlichen Materialien
'. 2. Aufl. 1832 finden wir nirgends angezogen. Für
das Lebensbild üetinger's ift hauptfächlich aufser deffen
Selbftbiographie (,Des württembergifchen Prälaten Friedrich
Chriftoph Oetinger's Selbftbiographie, herausgegeben
von Dr. Julius Hamberger. Mit einem Vorwort von G.
H. v. Schubert, Stuttgart 1845), das Werk von Karl Chr
Eberh. Ehmann: Friedrich Chriftoph Oetinger's Leben
und Briefe, als urkundlicher Commentar zu deffen Schriften
. Stuttgart 1859 und C. A. Auberlen, Die Theofophie
Oetinger's, Tübingen 1847 benützt. Der Verf. giebt nun
auf Grund des reichen Materials und wefentlich mit den
eigenen Worten und Ausführungen der beiden Männer
die ihm ,beide in urfprünglicher, kraftvoller Weife das
lautere, fchriftgemäfse, lebendige evangelifche Chriften-
thum vertreten', der eine ,ein ruhig hinfliefsender Strom'
der andere ,ein weitäftiger, fruchttragender Baum', ein
gedrängtes Bild von der Lebens- und Geiftesverfaffung
der beiden württembergifchen Theologen, fowie von ihrer
theologifchen Stellung und Weltanfchauung, foweit dies auf
fo engem Raum möglich ift, durch die eigene Darftellung
das Bild nur fparfam umfäumend, die Gruppen ordnend, die
Einzelzüge verbindend. Die warme Sympathie des Verf.'s,
die wohl faft durchgängige Uebereinftimmung mit der
Denkweife der beiden Theologen und ihrer Auffaffung vom
Chriftenthum fchlägt durch die ganze Darftellung und
man fühlt es derfelben überall an, dafs die Männer, deren
Bild er in fich aufgenommen hat und entwirft, ihm in
gewiffem Sinne Propheten geworden find, an denen er
felbft fich emporgerichtet und fein religiöfes Denken gebildet
und geftärkt hat. Dies ift wohl begreiflich, zumal
dem Manne gegenüber, dem das Wort ,Ewigkeit' von
der Stirne leuchtete, dem auch die ftreng objective Beur-
theilung feiner Theologie das Zeugnifs giebt, dafs er ,als
religiös-fittlicher Charakter in feiner Art mufterhaft' ift,
,ein Charakter von der reinften und aufrichtigften Art,
mit umfaffendem Ueberblick über alle Beziehungen des
religiöfen und fittlichen Lebens, felbftändig und mafsvoll
im Urtheil, von ausgeprägter Weisheit in der Behandlung
aller möglichen Lebensverhältnifse' (Ritfehl, Gefch.
d. Piet. III. 2. S. 83), von dem in der That gilt, foweit
das von unvollkommenen Menfchen gefagt werden kann,
dafs er ,das ift, was er fagt', und zwar ,ift in der edelften,
anziehendften, herzgewinnendften Weife, fern von jeder
Affectation und Eitelkeit', gegenüber von Joh. Albr.
Bengel. Was an ihm immer und immer wieder insbe-
fondere den praktifchen Theologen fo mächtig anzieht
und feffelt, das ift die Ganzheit und Gefchloffenheit, die
Durchbildung und Reife der chriftlichen Perfönlichkeit,
die uns in Bengel entgegentritt; es ift ferner die ge-
wiffenhafte Treue, mit welcher er aus der ,Brunnenftube'
des neuen Teftamentes fchöpft und aus dem Schatze
feiner Schriftgelehrfamkeit markige Ausbeute hervor-