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Ausgabe:

1888

Spalte:

185-187

Autor/Hrsg.:

Luthardt, Ernst

Titel/Untertitel:

Die antike Ethik in ihrer geschichtlichen Entwicklung 1888

Rezensent:

Schmidt, Leopold

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Theologische Literaturzeitung.

Herausgegeben von D. Ad. Harnack, Prof. zu Marburg,und D. E. Schürer, Prof. zu Giefsen.

Erfcheint Preis
alle 14 Tage. Leipzig. J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung. jährlich 16 Mark.

N° 8. 21. April 1888. 13. Jahrgang.

Luthardt, Die antike Ethik in ihrer gefchicht- Bois, De la certitude chrdtienne, Essai sur la

liehen Entwicklung (Leop. Schmidt). Brambach, Gottfried Wilhelm Leibniz, Ver- , theologie de Frank (Lobftein).

rtdtuiv. '0 flfrruj. 'AvtcpvqOSlS, ty)'QU<fa, '. faffer der Histoire de Bileam, Erfter Artikel Schubart, Novalis' Leben, Dichten und Den-

ayjutiwaeig (Phil. Meyer). (Ranke). ken (Löber).

Seyfarth, Louis de la Borge und feine Stellung Wächter, liengel und Oetinger (Köftlin). Matthias, Die Heilung des Oreft in Goethes

im Occafionalismus (F. A. Müller). j Iphigenie (Löber).

Luthardt, Dr. Chr. Kruft, Die antike Ethik in ihrer ge- I jüngeren Geftalt dasjenige, das er am einfichtigften be-
schichtlichen Entwicklung, als Einleitung in die Gefchichte j handelt. Freilich vermiffen wir auch hier theils eine Be-
der *MM- Moral dargefte.!, Le,p;ig, Ddrffling » | ^^'Z^Zj^JT^f^o^
Franke, 1887. (VIII, 187 S. gr. 8.) M. o.— mittelten wichtigen Thatfache, dafs der Gedanke der ca-

Da das Werk des berühmten Theologen fich als ritas generis humani nicht ftoifchen. fondern peripateti-
eine Einleitung in die Gefchichte der chriftlichen Moral > fchen Urfprungs ift, theils eine klare Antwort auf die

giebt, fo fteht feine Behandlung naturgemäfs unter dem
Einfluffe der Vorftellung, die er fich von dem Unter-
fchiede der antiken Ethik von der chriftlichen gebildet
hat und die von ihm am vollftändigften im dritten Bande
der Apologie des Chriftenthums S. 13—20 ausgefprochen
ift. Dafs die Moral des Alterthums lediglich eine Moral
des bürgerlichen Lebens ift, deren Vorfchriften zwar unFrage
, ob der ftoifche Weife als ein Ideal oder als eine
Realität angefehen werden mufs — denn die Andeutung
Luthardt's S. 112 läfst den Ausdruck kv jtQoxojty bei
Diog. La. 7,91 aufser Acht —; allein im Ganzen find die
hierauf bezüglichen Partien die beften des Buches. Sie
zeichnen fich durch forgfältige Abwägung der Licht- und
Schattenfeiten wohlthuend aus, und die fcharfe Hervor-

ter den Schutz der Religion gehellt find, aber keine re- kehrung der Unterfchiede zwifchen der chriftlichen und

ligiöfe Quelle haben, dafs in Folge deffen die alle reli-
giöfen Motive principiell ausfchliefsende Ethik des Ari-
ftoteles nur die confequente Durchführung des antiken
Moralprincips ift, dies ift die Grundauffaflung des Hrn.
Verf.'s, die auch in dem vorliegenden Buche Ausdruck
findet. Allein fie ift eine höchft einfeitige. Wohl hat

der ftoifchen Moral mufs gegenüber der nicht feltenen
Tendenz, diefelben zu verwifchen, als recht verdienftlich
bezeichnet werden.

Geht man davon aus, dafs der eigentliche Zweck
des Hrn. Verf.'s ein vergleichender ift, fo wird das Ge-
fammturtheil dahin ausfallen müffen, dafs feine Verglei-

das griechifche Volk unter den Beftimmungsgründen des chung der Moral der alten Philofophen mit der idealen
Handelns dem Urtheile der Mitmenfchen einen viel zu chriftlichen im Wefentlichen das Richtige trifft, dafs ihm
hohen Werth beigelegt, einen Werth, deffen Bedenkliches aber die Löfung der fchwierigen Aufgabe, das Verhält-

niemand klarer erkannt hat als Piaton; aber es heifst
gegen eine grofse Seite feiner Lebensentwickelung die
Augen verfchliefsen, wenn man behauptet, dafs die Begriffe
der Eingebung von oben und des Befolgens der
göttlichen Stimme ihm unbekannt gewefen feien. Die
Antigone der Dichtung und der Sokrates der Gefchichte,
deren Handeln unter dem Gebote fteht Gott mehr zu
gehorchen als den Menfchen, find von einer Auffaffung
geleitet, die hinreichend verbreitet war und deren Ursprung
in der durch die delphifche Priefterfchaft bewirkten
Vertiefung der religiöfen Ideen gefucht werden mufs;
denn diefe nährte die Vorftellung von der hohen Reinheit
des von ihr verehrten Gottes und dem läuternden
Einfluffe der Annäherung an ihn, und in nahem Zufam-
menhange mit diefer (fanden die von den Pythagoreern
aufgehellten Lebensregeln, dem Gotte zu folgen und
nach Gottähnlichkeit zu ftreben. Eine Folge der erwähnten
Einfeitigkeit ift die gleichfam centrale Stellung,
die L. innerhalb der antiken Ethik dem ariftotelifchen
Syfteme anweift und für die er fich (S. 56) auf den Vorgang
des Thomas von Aquino und Melanchthon's beruft,
indeffen kann diefer Grund für eine gefchichtliche Betrachtung
doch unmöglich ausfchlaggebend fein. Ueber-
haupt tritt in feiner Behandlung die philofophifche Ethik
viel zu fehr in den Vordergrund und die Volksmoral,
namentlich die griechifche, gegen fie zurück; auch wird,
je mehr er fich zu den fpäteren Jahrhunderten wendet,
feine Darftellung um fo verftändnifsvoller und fein Ur-
theil um fo billiger. Unter den philofophifchen Moral-
fyftemen ift das ftoifche in feiner älteren wie in feiner

nifs zwifchen diefer und der Moral des Alterthums überhaupt
feft zu beftimmen, keineswegs gelungen ift. Dazu
trägt zunächft der durchweg fühlbare Mangel an richtiger
Würdigung der griechifchen Volksmoral bei, den
wir nur an wenigen Beifpiclen erläutern wollen. So
fpricht der Hr. Verf. wiederholt (S. 44. 50. 51) von dem
ariftokratifchen, die materielle Arbeit verachtenden Zuge
der antiken Philofophenmoral, läfst aber unerwähnt, wie
hoch fie hierin von den Anfchauungen der attifchen Demokratie
überragt wurde, nach denen, den Worten des
Perikles bei Thukydides zufolge, nicht das Eingeftänd-
nifs der Armuth, wohl aber das Unterlaffen des Beftre-
bens, ihr durch Thätigkcit zu entfliehen, für fchimpflich
galt. Ebenfo wird er der griechifchen Auffaffung der
Ehe in keiner Weife gerecht; denn dafs einer Nation,
deren Literatur in allen Perioden an warmen Beleuchtungen
des ehelichen Lebens reich ift und Geftalten, wie
die der Penelope, der Andromache, der Alkeftis aufweift,
wegen ihrer relativen Duldfamkeit gegen männliche Untreue
nachgefagt wird, die Ehe fei für fie kein an fich
fittliches Verhältnifs gewefen (S. 20), ift wahrlich eine
ftarke Behauptung, und das Auffällige derfelben fteigert
fich noch, wenn man lieft, wie der ganz in den Fufs-
tapfen griechifcher Vorgänger wandelnde Stoiker Mufo-
nius zum Beweife für die ftreng fittliche Auffaffung der
Ehe bei den Römern angeführt wird (S. 129). Ebenfo
wenig würdigt Luthardt die ideale Seite des Sklavenver-
hältnifses (S. 22), indem er es unterläfst, bei ihm zwifchen
Recht und Moral zu unterfcheiden, und um der
Verwerflichkeit des Rechtsinftituts willen den Ernft ver-

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