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Ausgabe:

1887

Spalte:

135-136

Autor/Hrsg.:

Lamers, G. H.

Titel/Untertitel:

Begrif en methode van de Zedekunde beschouwd als deel der wijsgeerige theologie 1887

Rezensent:

Jülicher, Adolf

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135

ITieologlfche Literaturzeitung. 1887. Nr. 6.

ftreut. Nur ein Beifpiel ftatt vieler. Wenn er, nachdem
er ein briefliches Urtheil Hey's über Clemens Perthes
angeführt hat, fortfährt: ,Ganz fo fand den Profeffor
Clemens Perthes der Verfaffer diefes Buches, als er über
25 Jahre fpäter ihn an feinem Familientifche in Bonn
fah und dann mit ihm in der Herberge zur Heimath,
der erften von ihm gefchaffenen, — am Sterbebett des
Hausvaters J. H. Groth, des Schleswig-Holfteiners und
Kampfgenoffen ftand', fo fragt doch der Lefer ganz unwillkürlich
: was hat denn das mit Hey's Leben zu thun?
Bei dem reichhaltigen Material, das hier verarbeitet ift,
bei dem grofsen Intereffe, das namentlich die zahlreichen
bisher ungedruckten Gedichte Hey's, die hier zum erften
Mal veröffentlicht werden, erregen müffen, ift es doppelt
zu bedauern, dafs der Verfaffer, der doch offenbar ein
gründlicher Kenner unferer Literatur ift, nicht ernftlicher
das Wort beherzigt hat: ,In der Befchränkung zeigt fich
erft der Meifter'.

Nuffe. H. Lindenberg.

Lamers, Dr. G. H., Begrif en methode van de Zedekunde

befchouwd als deel der wijsgeerige theologie. Utrecht,
Breijer, 1886. (50 S. gr. 8.)

Als 2. Heft des 5. Jahrgangs der Neuen Beiträge auf
dem Gebiet der Theologie und Philofophie von J. Gramer
und G. H. Lamers, Profefforen zu Utrecht, ift diefe gut
gefchriebene, auch durch eine in Deutfchland feltenere
Nobleffe in Beftreitung und Anerkennung des von entfchie-
denen Gegnern Geleifteten ausgezeichnete Abhandlung
erfchienen. Der Verf. fetzt mit dem Nachweis an, dafs
es die chriftliche Kirche, weder die alte, noch die katho-
lifche des Mittelalters, noch die der Reformation zu einer
felbftändigen Behandlung des Sittlichen gebracht; die
Fundamente, auf denen die Ethik als Wiffenfchaft erbaut
ift, feien auch nicht etwa von den reformirten Theologen
des 17. und 18. Jahrhunderts mit ihren praktifchen Theologien
, fondern aufserhalb der Kirche gelegt, und von
dem Rationalismus für die Kirche adoptirt worden. Die
neuere Theologie habe grofsentheils den falfchen Intel-
lectualismus des vergangenen Jahrhunderts abgefchüttelt,
damit aber auch berechtigte Denkformen preisgegeben,
und ftecke in den Banden der Dogmatik. Nämlich infofern
als dogmatifche termini unbefehen zur Umfchreibung
fittlicher Zuftände verwendet werden, zum Beifpiel Wiedergeburt
einfach gleich Erneuerung des fittlichen Lebens
oder Heil foviel wie summum bonum.

Als Namen der betreffenden theologifchen Disciplin,
deren ideale Geftaltung freilich mit ungeheueren Schwierigkeiten
zu kämpfen haben wird, will L. fich lieber Ethik
als Moral gefallen laffen, obgleich er richtig bemerkt,
dafs Ariftoteles, der Vater des Namens Ethik, keineswegs
die Vorftellungen damit verbinde, die dem Worte gern
zugefchrieben würden; er felbft bleibt bei dem nieder-
ländifchen Namen: Sittenkunde. Wolle man ,Ethik' beibehalten
, fo müffe man vertraut fein mit der furchtbaren
Sprachverwirrung, welche neuerdings um diefes Wort her
fich gebildet hat, und es nicht anders als im Sinne von
Sittenkunde gebrauchen. Insbefondere an R. Rothe,
Chantepie de la Sauffaye und Ph. R. Hugenholtz demon-
ftrirt er die verhängnifsvolle Vieldeutigkeit diefes Wortes,
das dem einen die gefammte Religionswiffenfchaft, dem
andern fogar die Lehre von dem perfönlichen Geiftes-
leben des Menfchen im Allgemeinen umfafst, als ftünde
dem Ethifchen nur noch das Phyfifche gegenüber. Er
betrachtet die Ethik als den einen der beiden gleichberechtigten
Theile der philofophifchen Theologie, doch
nicht wie Daubanton als Lehre von den effectus neben
der Dogmatik als Lehre von den causae, fondern als
Philofophie der Sittlichkeit neben der Philofophie der
Religion. Beide ftellen nicht blofs die pfychologifchen
Erfcheinungen als folche feft, (ondern fuchen die onto-
logifchen Gründe zu unterfcheiden, daher fie das Gebiet

der Metaphyfik betreten müffen, wennfchon das Meta-
phyfifche in der chriftlichen Theologie, weil in Chrifto
perfönlich concentrirt, immer phänomenologifch umkleidet
auftritt. Gerade fo feft wie den philofophifchen (meta-
phyfifchen) Charakter der ,Sittenkunde' hält L. ihren
theologifchen oder beffer chriftlichen. Ohne den Glauben
find die ontologifchen Fragen nicht lösbar, bei ihr fo
wenig wie bei der Dogmatik, mit welcher fie in dauernd
inniger Verbindung fteht. ,Die chriftliche Sittenkunde
ift die Philofophie des fittlichen Lebens, aufgefafst nach
chriftlichen Grundfätzen und Principien'. Ihr eine philo-
fophifche Sittenkunde gegenüberzuftellen, ift nicht thunlich
, da anders als auf chriftlichem Boden eine fruchtbare
Philofophie der Sittlichkeit gar nicht geliefert werden
kann. Der Chrift ift doch auch nur ein Menfch, das
Leben nach der Bekehrung bleibt in Continuität mit dem
vor der Bekehrung liegenden, alfo kann man nicht prin-
cipiell Ethik im Allgemeinen und chriftliche Ethik unterfcheiden
. Dafs folche Trennung beiden Getrennten zum
Schaden gereichen würde, fetzt L. gut auseinander, auch
zum Schlufs kommt er auf diefen Punkt zurück. — Die
Methode der Ethik müffe die empirifch-fpeculative fein,
das Metaphyfifche nicht als Anhängfei, fondern die Darlegung
des gefchichtlichen Stoffes überall durchziehend.
Die Sittenkunde hat das fittliche Leben formal und
1 material zu betrachten; diefe Zweitheilung fei ganz unumgänglich
. Formal gehört Viererlei dazu, um das Prä-
dicat des Sittlichen zu ergeben. 1) Die Selbftbeftimmung
des handelnden Subjects, 2) das Pflichtgefühl, 3) die Continuität
in feinem Streben, 4) die Einheit des Ziels im
1 gefammten fittlichen Leben. Mit diefen 4 feften Charakterzügen
ift das Wefen der Sittlichkeit formell befchrieben;
natürlich können fie in verfchiedenen Graden vorhanden
j fein, aber von Pfeudomoral ift nicht zu reden.

Im 2. Theil darf nicht Inhalt des Sittlichen ver-
j wechfelt werden mit dem Gebiete, auf dem fleh das
, Sittliche offenbart, oder mit dem, was gefchehen foll, oder
! mit dem, was in fich felbft abfoluten Werth hat 'folches
! findet fich ja auch auf intellectuellem und rein religiöfem
Gebiete) oder mit dem Willen Gottes. Die Motive der
Sittlichkeit können nicht ohne fchweren Schaden als
' Inhalt des Sittlichen betrachtet werden. Der letztere
' befleht — kurz gefafst — in der Tugend, welche die
Verwirklichung deffen anftrebt, was immer und überall
gefchehen foll. Sie ift dem Wefen nach eine; gerade
S die chriftliche P3thik kann fo herrlich in dem längften
; Tugendenkatalog das eine Gemeinfame aufzeigen und
zugleich aus dem Abftracten an das Concretum der
Tugend, Chriftus, heranführen. Doch hat die Tugend
2 Sphären der Bethätigung, das individuelle und das
fociale Leben. Nothwendig mufs beides getrennt und
: das individuelle Leben zuerft behandelt werden. In beiden
Sphären kann wieder gerade die chriftliche Ethik am
vollkommenften den Gehorfam gegen Gott als das Princip
aller Tugend nachweifen. Das Gewiffen zeigt jeden Menfchen
einer höheren Macht unterworfen: nur aus diefer
' Heteronomie und der Autonomie zufammen geht echt
! fittliches Handeln hervor. Die letzte Hauptfrage — denn
den Inhalt des Sittlichen im Einzelnen zu betrachten,
erfcheint minder wichtig — ob in der Sittenkunde die
Analyfe oder Synthefe den Vorrang haben follen, beantwortet
Lamers zu Gunften der erfteren um der Logik
und der Forderungen unferer Zeit willen. Erft ift zu entwickeln
, wie das Sittliche entfteht, dann was es ift; die
vollendete Synthefe ift Chriftus, die fchönfte Krönung
des ganzen Werkes.

Fun Urtheil fteht mir auf diefem Gebiete der Wiffenfchaft
nicht zu, doch will ich nicht verfchweigen, dafs
nach meiner Meinung die Schwierigkeiten einer Syftemati-
firung des Ethifchen noch nicht fo einfach gehoben find,
wie es nach den gefchickten Vorfchlägen Lamers' den
Anfchein hat.

Rummelsburg bei Berlin. Lic. Jülich er.