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Ausgabe:

1887 Nr. 5

Spalte:

103-105

Autor/Hrsg.:

Grau, Rud. Frdr.

Titel/Untertitel:

Das Selbstbewusstsein Jesu 1887

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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103 Theologifche Literaturzeitung. 1887. Nr. 5. 10 [

Grau, Prof. Dr. Rud. Frdr., Das Selbstbewusstsein Jesu.

Nördlingen, Beck, 1887. (XVI, 393 S. gr. 8.) M. 7.—

Es handelt fich, wie das Vorwort uns belehrt, um
eine rettende That. Denn während der Verfaffer es mit
einer gewaltigen Gegnerfchaft zu thun hat, weifs er auf
feiner Seite ,viel theologifche Trägheit und dogmatifchen
Indifferentismus, welcher fich mit Vorliebe confervativ I
nennt', und felbft ,unfere Kirchenmänner glauben, dafs
diejenigen des Nicänums und der Auguftana als dogma-
tifcher Ruhekiffen fich zu bedienen ein Recht hätten,
die im Uebrigen in praktifcher Beziehung etwa für innere
oder äufsere Miffion thätig wären'. Gewifs wäre mit
einer Vielgefchäftigkeit, der man fich nur hingiebt, um
fich gegen die das Gewiffen beftürmenden Wahrheits-
fragen zu betäuben und der Pflicht, an ihrer Löfung zu
arbeiten, loszufprechen, der Kirche und Theologie unterer
Tage nicht wahrhaft geholfen. ,Die grofse Arbeit unferer
Zeit auf allen Gebieten des Reiches Gottes kann nicht
gefchehen, ohne dafs zugleich die Erkenntnifs diefes
Reiches fortfchritte.' Ganz einverftanden.

Die Erkenntnifs diefes Reiches ift aber bedingt durch
die Erkenntnifs deffen, der es gebracht hat. Die An- I
fänge und das Ende feines Lebens freilich find von der
Kritik flark beanfprucht. ,Das Selbftbewufstfein Jefu
dagegen ift in einer gröfseren Zahl von Worten und
Reden zum Ausdruck gekommen, welche über jeden
Zweifel der Kritik erhaben find'. Zwar nicht im vierten,
aber doch in den drei erften Evangelien liegt folches
Material gehäuft vor. , Indem unfere Zeit auf die Synoptiker
zurückgeht, handelt fie nur nach einer in der
Sache felbft liegenden Nothwendigkeit'. ,So fchöpft
denn vorliegende Schrift nur aus diefer Quelle, und zwar
nach Abzug derjenigen allerdings nur geringen Stücke,
an die irgend kritifche Zweifel fich geheftet haben'.
Vortrefflich!

Nun hat weiter die unausgefetzte Bearbeitung der
fynoptifchen Frage zu den beiden Hypothefen geführt,
dafs in den gröfseren Redetheilen des erften und des
dritten Evangeliums der wefentliche Beftand einer echt
apoftolifchen Redenfammlung erhalten fei, und dafs das
Marcusevangelium dem gefchichtlichen Gang und Gehalt
der beiden gröfseren Evangelien zu Grunde liege und
alfo- neben jener urapoftolifchen Schrift die wichtigfte
Quelle derfelben bilde (S. 29). Gleichfalls unterfchrieben!
Nur dafs fich der Verfaffer vielleicht täufchen dürfte,
wenn er vermeint, von beiden Refultaten, fo fehr er für
feine Perfon an ihre Richtigkeit glaubt, bei Unter-
fuchungen über ,das Selbftbewufstfein Jefu' Umgang
nehmen zu können.

Nachdem ein erftes Capitel in der angedeuteten
Richtung die Quellenfrage wenigftens berührt hat (mehr
läfst fich nicht fagen), behandeln drei folgende, noch
immer zur Einleitung gehörig, das ,Gewiffen Jefu', fein
Verhältnifs zur Natur und zum Alten Teftament. Am
erften Ort kommt ,die Moral Jefu', der fittliche Mafsftab,
womit er mifst, die Selbft- und Weltbeurtheilung, die er
demgemäfs übt, zur Sprache, und auch der Unterzeichnete
ift der Meinung, dafs eine Darfteilung der
Gedankenwelt Jefu ungefähr damit anheben müffe, und
noch mehr Urfache hat er, fich zu freuen über des Ver-
faffers Nachweis der Verwerthung, welche die Eindrücke
aus Natur und Menfchenleben, die Reminiscenzen an
die Leetüre der Schrift in Jefu Reden erfahren; denn
was fich hierüber S. 77 und 93 f. findet, hat mir die
tröftliche Gewifsheit eingetragen, dafs die Ausführungen
in meinen ,Synoptifchen Evangelien' S. 459 f. nicht
fpurlos vorübergegangen find. Freilich ift es Grau
nicht möglich, bei einer fo elementaren Stufe des Erkennens
ftehen zu bleiben. Er knüpft daran fofort ,eine
weitere Umfchau wie im Alten Teftament, fo in der
Gefchichte Jefu' (S. Iii), um zu zeigen, dafs fich Jefus
auch in der Wahl der Oertlichkeiten feiner Berufs-

thätigkeit ftets von Reminiscenzen an das Alte Teftament
habe leiten laffen. Beifpielsweife geht Jefus über
den Kidron auf den Oelberg; denn ,fchon in der Gefchichte
David's erweift fich diefer Weg über den Kidron
durch das Thal Jofaphat und den Oelberg hinan als ein
Weg des Gerichts' (S. 112), hält auf jenem Berg feine
Zukunftsrede, weil dort nach Sach. 14, 4 Jehovah's Füfse
ftehen werden' (S. 115). ,Doch darin ift die Weisfagung
diefes Orts nicht erfchöpft' (S. 116) — aber die Geduld
des Referenten und gewifs auch manches Lefers.
Uebrigens geht das fo weiter: Jefus Chriftus hat, wie es
fcheint, nichts Wichtigeres auf Erden zu thun, als in
fein Thun und Laffen, Reden und Schweigen lauter Beziehungen
auf das Alte Teftament hineinzugeheimnifsen,
um denen, welche fcharffinnig genug find, feine Ab-
fichten zu errathen, zugleich zu beweifen, dafs nur die
Hofmann'fche Schule, zumal in der Grau'fchen Abzweigung
, den richtigen Schlüffel zum Verftändnifse fo-
wohl der Weisfagung, wie der Erfüllung führe. ,So
werden alle folgenden Capitel diefes Buches zugleich
Fortfetzungen diefes Capitels fein' (S. 117).

Diefe folgenden Capitel (3—8) handeln aber ,vom
Reiche Gottes', vom ,Menfchenfohn', vom ,Lamm Gottes'
und vom ,Gottesfohn' — wenigftens giebt der fo angekündigte
Inhalt den Vorwand für eine Reihe von Ausführungen
her, die fchwer zu claffificiren find, fofern
man zuweilen zwar den Eindruck einer biblifch-theo-
logifchen Erörterung, aber weit öfter noch den eines
populären Effay oder gar eines Leitartikels etwa aus der
,Lutherifchen Kirchenzeitung' davonträgt. Wer nun aber
der Meinung ift, es fei etwas Anderes, ob man ein gelehrtes
Buch, etwas Anderes, ob man einen Journalartikel
, etwas Anderes wieder, ob man eine erbauliche
Betrachtung, eine Predigt u. f. w. fchreibe, der kann fich
nur widrig berührt finden, wenn z. B. der Abfchnitt über
das ,Gewiffen Jefu' in feuilletonartiger Weife eröffnet
wird mit Betrachtungen über das Chriftusbild der Kunft,
z.umal da hierüber, wie klar aus dem thörichten Spiel mit
Vera ikon S. 41 f. erhellt, keinerlei Art von zufammen-
hängendem Wiffen zu Gebote fleht. Ebenfo wird der
Abfchnitt über das Reich Gottes eingeleitet durch allerhand
Eröffnungen über den Vorzug der lutherifchen vor
der fchweizerifchen Reformation; dabei wird S. 127
Zwingli in die zwifchen Franciskanern und Socinianern
verlaufende Bewegung eingereiht; S. 264 ,liegt Zwingli's
Sacramentslehre auf derfelben Linie, auf welcher der Ver-
fuch von David Straufs fich bewegt, die Wunder Jefu
für Symbole der Meffiasidee zu erklären'; S. 376 f. ift
es dagegen ,fcholaftifcher Sauerteig, der in der fchweizerifchen
Reformation fortwirkt'. Schlimmer noch ift, dafs
der alfo anhebende Artikel vom Reich Gottes nur zur
Einleitung eines polemifchen Excurfes dient über den
,Abgrund, der die Lehre Kant's von der Lehre Jefu
trennt' (S. 164 f.). Der Königsberger Weife fcheint in
feiner Vaterftadt nicht gerade als Prophet zu gelten;
dem Königsberger Theologen wenigftens ift er ,felbft
auf feiner moralifchen Höhe doch nur ein Knecht' (S. 165),
,in die Reihe der Efau- oder Saulnaturen gehörig' (S. 166).
Aber auch dies wieder ift nur Prolog zu einer Philippica
wider Ritfehl, dem zufolge das Chriftenthum nicht fo-
wohl eine Kreislinie, als vielmehr eine Ellipfe wäre —
eine Metapher, von welcher der Verfaffer eine befonders
abfehreckende Wirkung erhofft; denn er wiederholt fie
noch zweimal (S. 128. 167 f. 391). Diefclbc unausfteh-
liche Art, mitten in wiffenfehaftlichen oder wiffenfehaft-
lich fein follenden Erörterungen Zuftände und Perfonen
der Gegenwart im Tone eines gefchraubten, prophe-
tifchen Pathos mit geiftreich fchillernder Phrafeologie
zu kritifiren (vgl. z. B. S. 44: ,So trefflich D. Fr. Straufs,
der Kaufmannsfohn, die realen Werthe diefer Welt zu
würdigen wutste und fo fcharffinnig er viele Realitäten
des Lebens Jefu befprochen hat, auf das Perlengefchäft,
von dem Jefus im Gleichnifs redet, verffand er fich nicht'),