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Ausgabe:

1887 Nr. 5

Spalte:

99-102

Autor/Hrsg.:

Stanton, Vincent Henry

Titel/Untertitel:

The Jewish and the Christian Messiah: A study in the earliest history of christianity 1887

Rezensent:

Schürer, Emil

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Theologifche Literaturzeitung. 1887. Nr. 5.

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deutliches Licht. An fchief gegriffenen Bezeichnungen
fehlt es nicht, wie wenn Jefaja im Gegenfatz zu dem
,Landmann' Micha ein ,feiner Hofmann' heifst (S. 133).
Die beliebten Analogien aus der modernen Gefchichte,
in welchen auch unfer Verfaffer fich verfucht, find kaum
verftändlich. So wenn z. B. die fo rafchen Uebergänge
und Schwankungen zwifchen Jahvekult und Götzendienft,
wie die Gefchichtsbücher fie kennen, für unmöglich erklärt
werden, weil zu ihrem Vollzug jedesmal Jahrhunderte
erforderlich wären: ,als Beifpiel möge bemerkt
werden, dafs der im vorigen Jahrhundert zurückgedrängte
Jofephinismus jetzt erft wieder feine Fittige zu regen
beginnt' (S. 149). Auf dem Titel fteht aber die Jahreszahl
1886.

Das zweite Buch behandelt ,die griechifche Welt'
(S. 196 — 346), das dritte ,Paläftina im griechifchen Zeitalter
' (S. 347—430). Das die verfchiedenen Theile in
Beziehung zu einander fetzende Band liegt in der Bemerkung
, ,dafs in der griechifchen Weltanfchauung, deren
Zweck und Endziel der fittlich reine Menfch unbefchadet
aller Cultusformen und Glaubensdogmen war, Fermente
lagen, die ebenfo bedeutfam in der Menfchheit wirken
mufsten, wie die Lehren des Judenthums, und in der
gegenfeitigen Durchdringung Beider haben wir ficher das
zu fuchen, was gläubige Anfchauung fo gern als ein
Ungewordenes plötzlich in die Kreife irdifcher Geftal-
tung treten fieht' (S. 345). Sonach fei, wie im Schlufs-
abfchnitt (S. 431—433) gezeigt wird, ,das Chriftenthum
das nothwendige Refultat der jüdifch-griechifchen Entwicklung
gewefen'.

Dem Verfaffer ift es heiliger Ernft mit feinem Suchen.
Was er uns giebt, find aber nur Materialien, Studien,
Gedankenanfätze. Refultate wie ,dafs noch etwas Höheres
in der Natur liege' (S. 406), ,dafs wir innerhalb der mora-
lifchen Weltordnung den Menfchen felbft als den Träger
und Urheber feines Gefchickes, den Thäter feiner Thaten
anerkennen, müffen' (S. 409), lohnen fo grofsen Aufwand
von Mühfal nicht, und dafs ,die heutige Weltanfchauung
den Spuren des göttlichen Geiftes' nachgehe, ,indem fie
ihn in dem einzelnen Individuum als deffen ewige und
gewiffefte Kundgebung erfaffen lehrt' (S. 433), drückt
den Gegenfatz zur ,antiken Weltanfchauung' nur undeutlich
und mifsverftändlich aus.

Der Verfaffer fchreibt durchgängig G. Bauer, zuweilen
auch Bär und Thiele ftatt G. Baur, Bähr und
Tiele. Die ,Schoterim' (S. 93) find wohl Druckfehler.

Strafsburg i. E. H. Holtzmann.

Stanton, Lecturer Vincent Henry, M. A., The Jewish and
the Christian Messiah: A study in the earliest history
of christianity. Edinburgh, T. & T. Clark, 1886. (XVII,
399 S. m. 1 Tab. gr. 8.) Cloth.

Die Grundanfchauung, von welcher der Verf. diefes
Werkes ausgeht, kann nicht beffer charakterifirt werden,
als mit feinen eigenen Worten S. 96—98:

/Manche chriftliche Theologen haben fich beinahe
fo ausgedrückt, als ob fie dächten, dafs die ganze chriftliche
Lehre dem Verftande der Propheten klar gegenwärtig
war, und als ob die Juden ernftlich zu tadeln feien, wenn
fie diefelbe nicht aus ihren Weisfagungen allein entnähmen
. Solche Redeweife betrachten jetzt nur noch Wenige
als ftatthaft. Denn, um nicht bei anderen Gründen zu
verweilen, fo ift es augenfcheinlich denkbar, und ein Ge-
fichtspunkt, welcher der Infpiration der Propheten nichts
vergiebt, dafs fie vom Geifte zu Aeufserungen können
getrieben worden fein, deren Bedeutung fie felbft, und
noch vielmehr ihre Zeitgenoffen nur fehr theilweife ver-
ftehen konnten. In Wahrheit wird aber jetzt mehr als
dies von vielen frommen und im Punkte des chriftlichen
Glaubens orthodoxen Kritikern zugegeben. Es ift in fehr
weiten Kreifen anerkannt, dafs Illufionen, welchen die

j Zucht der Erfahrung und Enttäufchung folgte {Illusion

I followed by the discipline of experience and disappointmoif)
eine nicht unwichtige Rolle in der näheren Ausgeftaltung
der deutlichften meffianifchen Hoffnungen Ifraels fpielten.

! Man hat eingefehen, dafs die Ausdrucksweife der Propheten
oft gerade in ihrem höchften Flug triumphirender
Erwartung in engem Zufammenhang fteht mit den Ver-

| hältnifsen der Zeit, in welcher fie fchrieben. Sie fprechen,

I als ob das Zeitalter vollkommener Gerechtigkeit und
Seligkeit endgültig eintreten werde mit der Ueberwin-
dung der Feinde Ifraels, welche fie zu ihrer Zeit kennen.
Ihre Erwartung eines wahrhaft gerechten und fiegreichen
Königs fcheint oft angeregt worden zu fein durch irgend
einen unmittelbaren Gegenftand der Hoffnung, wie z. B.
durch die Geburt eines Thronerben. Während fie träumten
und zu fprechen glaubten von diefen nahen Errettungen,
lehrte der Geift fie grofse Worte reden, welche nur in

1 einer weit entlegeneren Zeit wahre Erfüllung finden
follten. Sodann, als die Zeit verftrich, nach manchen
Enttäufchungen in Betreff einzelner Männer und einzelner
Errettungen, lernten fpätere Gefchlechter Ifraels alle
diefe Erwartungen übertragen auf einen, der beftimmter
aufgefafst wurde als der Erretter feines Volkes, auf
deffen Kommen fie noch zu warten hätten. Aber felbft
bis zuletzt war die Auffaffung von feinem Werke und
feinem Amte eine fehr begrenzte {a very limited conccp-
tion is formed of His tvork and offices). — Eine folche
Darftellung der Ausbildung der meffianifchen Hoffnung
zerftört nicht den Werth des Zeugnifses der Weisfagung
auf Chriftum, wenn es auch nicht ganz von derfelben
Art ift, wie nach der älteren Meinung. Die Weisfagungen

I können nicht mehr fo wunderbar erfcheinen, einfach als
Vorherfagungen betrachtet. Aber das wirkliche Ziel, in
welches die Entwickelung der meffianifchen Erwartung
in Ifrael auslief, kann Jedem, der an die göttliche Leitung
der Weltgefchichte glaubt, beweifen, dafs diefe Erwartung
von Gott benimmt war als Vorbereitung auf das Kom-

! men Jefu. Und wenn dies fo ift, dann ift fie ein Zeug-
nifs feiner göttlichen Sendung'.

Der Verf. tritt alfo dem Wahne entgegen, als ob die
chriftliche Auffaffung von dem Wefen des Meffias,
von feinem Beruf und von dem Wefen des Heiles fchon

j im Alten Teftamente und im vorchriftlichen Juden-

thum zu finden fei. Er fieht es mit Recht gerade umgekehrt
als die Aufgabe einer gefunden Apologetik an,
zu zeigen, dafs das Chriftenthum neue Erkennt-

! nifse gebracht hat, eine vollkommenere, tiefere
Auffaffung von dem Wefen des Heiles und dem

j Berufe des Meffias. Diefen Nachweis zu führen
ift der Zweck feines Buches.

Er giebt daher in einem einleitenden erften Theile
(S. 1—200) vor allem eine Darfteilung der meffianifchen
Erwartungen des Judenthums im Zeitalter Jefu ChriftL

Ausführlich find hierbei die literarifchen Quellen befpro-
chen, aus welchen wir die Kenntnifs derfelben zu fchöpfen
haben (S. 27—95), die fibyllinifchen Orakel, das Buch
Henoch, die Apokalypfen des Efra und Baruch, das Buch
der Jubiläen, die Affumptio Mofis, die Pfalmen Salomo's
u. f. w. Stanton fchliefst fich hier vorwiegend an die

I Behandlung desfelben Gegenftandes bei Drummond an

i {The Jewish Messiah 1877), ift aber auch mit der deut-

| fchen Literatur wohl vertraut. Aufgefallen ift mir, dafs
er vom Buch Henoch die (mir allerdings auch nur dem
Titel nach bekannte) neuere englifche Üeberfetzung von
Schodde nicht zu kennen fcheint (The book of Enoch,
translated with introduetion and notes, Andovcr 1882).

I Beim vierten Buch Efra wird zwar erwähnt, dafs das im
lateinifchen Vulgärtext fehlende Stück im J. 1875 von
Bensly aus einer Handfchrift von Amiens bekannt gemacht
worden ift, nicht aber, dafs feitdem dafselbe Stück
auch nach einer Handfchrift von Alcala publicirt worden
ift {Journal of Philology vol. VII, 1877, P- 2&4 sqq.), und
dafs auch noch eine dritte Handfchrift, in Paris, nachge-