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Ausgabe:

1887 Nr. 4

Spalte:

89-93

Autor/Hrsg.:

Renan, Ernest

Titel/Untertitel:

L‘Abesse de Jouarre. Drame. 13. édition 1887

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1887. Nr. 4. 90

wohl noch nicht fo allgemein anerkannt, dafs ein ent- I Tage holen aber die Schergen die Aebtiffin nicht, fon-
fprechender Zufatz auf dem Titelblatt überflüffig gewefen dem nur den Marquis. Der Fürfprache eines jungen
wäre ' 0lnciers verdankt fie ihr Leben. Ein Selbftmordver-

Was den Inhalt des Buches betrifft, fo kann fich I fuch wird vereitelt. Sie mufs zu ihrer Strafe leben, wie
die Bcfprechung kürzer faffen, als dies der Verf. gethan hat, ein junger Priefter nach abgelegter Beichte ihr mittheilt,
der uns auch feine Anflehten über die Realfchulfrage ; ,Seien Sie eine Chriftin, eine vollkommene Franzöfin'.
(S. 79—81, ferner S. 152—157) und das Manchefterthum ; Die beiden letzten Acte haben geringes Intcreffe. Erft
nicht vorenthalten zu dürfen glaubte. Um zunächft einen 1 ernährt fie ihr Kind durch Feilhalten von Backwerk und
Punkt der Uebereinftimmung zu bezeichnen, fo dürfte will von einer Heirath nichts wiffen. Dann heben Jahre
der Verf. Recht darin haben, dafs die nativiftifchen An- fpätcr wieder als Marquife von St. Florent unter dem
hchten Joh. Müller's nicht als berechtigte, phyhologifche , Confulat lebend, reicht he, ihre Gelübde preisgebend,
Ueberfetzung der Kant'fchen Lehre vom a priori anzu- i dem bürgerlichen Officier, der he einft gerettet, die
fehen find. Das a priori hat in der That mit dem An- Hand. ,Ich bin ftolz auf Sie wie auf einen meiner Ahnen,
geboren fein nichts zu thun. Aber diefe Polemik Claf- Wir müffen Frankreich wieder aufrichten helfen. Ver-
fen's gegen Joh. Müller's Anficht, dafs der Netzhaut eine einigen wir uns!'

angeborene Kenntnifs ihrer räumlichen Dimenhonen etc. i Das Stück hat grofse Feinheiten und ift überreich
beiwohne, fufst nicht auf einer richtigen Auffaffung des an geiftvollen Paradoxien; als Drama ift es äufserft
a priori; auch Claffen verfucht diefen Begriff pfycholo- fchwach. Der Hintergrund ift hiftorifch, und über ge-
gifch zu definiren, was unmöglich ift. Auf S. 86 fchreibt wiffe Scenen, die fich in den Revolutionsgefängnifsen
er: ,In Kant's Sinne ift aber kein Begriff angeboren, abgefpielt haben, find wir von Zeitgenoffen unterrichtet,
fondern nur die Fähigkeit, ihn zu bilden, mufs a priori Man wird auch wegen der Auswahl der Fabel mit dem
voraufgehen'. Und S. 215: ,Dadurch' (foll fich auf Verfaffer nicht rechten. Der Künftler vermag jeden
Logik und Erkenntnifstheorie beziehen) ,aber finden wir, Vorwurf zu adeln. Dafs unter den Schrecken des Todes
dafs wir das Vermögen, überhaupt in Raum und Zeit zu aucn dje ftrengften und heiligften Grundfätze zufammen-
empfinden und das Empfundene mit den Functionen des brechen können, ift eine Thatfache, die uns im tiefften
Verftandes zu beherrfchen, in uns haben vor aller zu erfchüttern vermag. Die grofse Wahrheit, dafs
Erfahrung, und dafs alle Erfahrung nur durch diefe (JLeT; wekher fich auf fein eigenes Herz verläfst, ein
Fähigkeiten möglich wird'. Wie aber etwas der Erfah- jsjarr wjrrj uns lebhaft gegenwärtig. Aber Renan
rung a priori voraufgehen folle, ift nicht zu verftehen, mejnt es ganz anders. Immerfort macht er fich in dem
und wenn Kant felbft ähnliche Ausdrücke gebraucht, fo Stück mit der Religion zu fchaffen. Wir kennen diefelbe,
ift es eben Aufgabe feiner Anhänger, derartige fchlecht jenes Qemifch aus einem fublimirten Pantheismus und
formulirte Wendungen aus dem Syftem zu ehminiren. franzöfifchem Patriotismus mit einem ungewiffen Refpect
Für die Pfychologie ift Alles erworben, fei es vom In- vor den kirchlichen Ceremonien und der graeiöfen
dividuum, fei es von der Gattung; wodurch aber die Schwärmerei für die Humanität. Aber neu ift ein AnBedeutung
des a priori nicht im minderten berührt wird. <jeres. In dem Stücke begegnet uns eine fatale und
Ich kann fomit nur dem beipflichten, was fchon widerliche Verwechfelung von finnlicher Liebe, feiigem
früher Jacobfen (nach Claffen's Anführung S. 120) gegen Leben, Unendlichkeit und Reich Gottes. Wie bei Au-
den Verf. geltend gemacht hat, dafs nämlich Erkennt- guajn die Liebe, aber die himmlifche, ein Synonym für
nifstheorie und Sinnesphyfiologie von einander ganz Tugend und Leben und Weisheit und fchliefslich für
unabhängige Disciplinen find und jede für fich allein Gott felber ift, fo ift für Renan die Liebe, aber die
ihren felbftändigen Weg zu gehen hat. Am allerwcnigften flnnliche, das Synonym für die gleichen Begriffe. Man
aber kann die letztere Vortheil davon haben, wenn man ; traut feinen Augen oft nicht, indem man die ,philofo-
fie nach Kraufe'fchen Gleich- und Querfchlüffen verrenkt, phifchen' Discurfe des .Marquis' lieft, und man möchte

ein Beginnen, das zu abenteuerlich ift, als dafs eine ernft
hafte Discuffion desfelben möglich wäre.

Giefsen. F. A. Müller

den Verfaffer, um feine frivolen Paradoxien in etwas zu
entfchuldigen, dadurch entladen, dafs man fich erinnert,
welche Anziehungskraft für ihn allezeit eine fchillernde
und paradoxe Phrafe gehabt hat. Allein diefe Erklä-
Renan, Ernest, de l'Academie Frangaise, L'Abesse de rung, durch manche ernfthafte Stellen in dem Drama
Jouarre. Drame. 13. edition. Paris, Calmann Levy, 1886. nahegelegt, ift leider durch die Vorrede verboten. Ich
VITT „ . ! fetze fie in wörtlicher Uebertragung unverkürzt hierher,

(Vlll, 110p.gr. ö.j ! weil jedes Referat unmöglich wäre und weil diefe Vorrede

Renan hat feine wiffenfehaftlichen Studien durch die j des erften Schriftftellers von Frankreich, des Autors der
bfaffung eines Drama's unterbrochen. Wie dasfelbe ent- , ^Origines du Christianisme1, in Frankreich das höchfte

ftanden ift, hat er felbft in der Vorrede dem Lefer mit
getheilt. Sie ift der Schlüffel für das Stück, und um der
Vorrede willen hat diefe Zeitung Grund, fich mit dem-
felben zu befchäftigen. Die Fabel ift in Kürze folgende:
Die jugendliche, philofophifch gebildete und fromme Aebtiffin
von Jouarre, Marquife von St. Florent, wird in der
Revolutionszeit in das Gefängnifs, d. h. in das College du

Auffehen errregt hat und auch bei uns Beachtung
verdient.

Vorrede.

Aus meinem Kenner im College de France fehe ich jeden Tag
Stein um Stein die letzten Stücke der Mauer des College du Plessis

niederfallen, welches von Geoflfroi du PlefTis, dem Secretär des Königs

Philipp, im Jahre 1317 gegründet, von Richelieu im 17 Jahrhundert ver-

Cr r t cor! 1 .. . '. 1 ) . , . I ___— 1 ~ 1. ~— ! - O T _ V . .____1___» _*___. 11 - ■ st v a . . 1

PleSSÜ gebracht, um am nächften Tage auf's Schaffot ge- groben worden ift und welches im 18. Jahrhundert einer der Mittel-

1 u .. a Tr^-r f,;fff f.« „nt« „;*»1f>n anderen de- punkte der heften philofophifchen Bildung gewefen ift. Hier war es, wo

tuhrt zu werden. Dort trifft fie unter vielen anderen üe Sj.^ dft grofse ^ ^ vdlendjjfter HiUorike rdne Erzien

fangenen den Marquis d Arcy, der fie einft verehrt hat und durch den AbM sigorgne erhalten hat> den Erften _ in Frankreich _°

der auch ihr nicht gleicllgiltig gewefen ift. Auch er er- welcher die Ideen Newton's vollftändig begriffen hat. Das College du

wartet am nächften Tag den Tod. Der Marquis — er j Plessis wurde im Jahre 1790 gefchloffen. In d. Jj. 1793 "794 war

foll den aufgeklärten Idealiften repräfentiren — verfchafft «Jdas tmurigfte Gefängnifs in Paris. Hier internirte man die Verdäch-

,- ■ . ,& , T.. • «jEfi ■ _ a^Kfiffir, nnrl "8eni me fo z" lagen im Voraus Verurtheilten; man verhefs es nur, um

lieh am Abend Eingang 1.1 die Zelle der Aebtiffin und vor das Kevolution^tribunal oder zum Tode n gehen.

mit derfelben Beredtfamkeit, mit der er am Nachmittag Ich fuche mir oft die Gefpräche zu vergegenwärtigen, welche die

einen verzagenden Realiften zur Ergebung in fein Schick- /-eilen gehört haben müffen, die jetzt beim Abbruch des Gebäudes ge-

fal gebracht hat, Überzeugt er die Aebtiffin angcfichtS Uiftet llnd — jene Höfe, deren letzte Bäume bald abgehauen fein werden,

des Todes, der alles CoilVCntionelle abrodrt und eine V1' mir,die Unterredungen vor, welche in diefen grofsen, nun nie-

nene Mnra rZl V l ^on^nlIunt-11L a"lutl"L dergelegten Sälen gehalten worden find, in den Stunden unmittelbar vor

neue Moral predigt, von der Notwendigkeit und dem dem let7ten Ruf> und ich habe dne ^ yon Dialogen mir erdacht>

Recht einer anderen Art von Ergebung. Am nächften denen ich, wenn ich fie fchreiben werde, den Titel: .Dialoge der letzten