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Ausgabe:

1887

Spalte:

68-69

Autor/Hrsg.:

Frommel, Max

Titel/Untertitel:

Einwärts, aufwärts, vorwärts! Pilgergedanken und Lebenserfahrungen 1887

Rezensent:

Löber, Richard

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6;

Theologifche Literaturzeitung. 1887. Nr. 3.

68

mal der Fall eintreten follte, dafs durch diefe Befchrän-
kung der kirchlichen Selbftändigkeit gegenüber dem
Staat die eine oder andere nützliche Einrichtung nicht
getroffen werden könnte: fo lange der Staat die Kirche
nicht an der Verkündigung des reinen Evangeliums und
an der ftiftungsgemäfsen Verwaltung der Sacramente
hindert, hat kein wirklich evangelifcher Chrift ein Recht,
einen folchen Zuftand unerträglich zu finden. Regel-
mäfsig aber verdankt die evangelifche Kirche ihrem
jetzigen Verhältnifs zum Staat, ihrer ,Feffelung an Händen
und Füfsen' die Bedingungen ihres Beftandes als Volkskirche
, und in der Gegenwart noch einen Schutz gegen
den Zerfall in Secten, für welche grofse Kreife in ihr
durch die pfeudokirchliche Richtung disponirt worden
find. Und es können Fälle eintreten, ja fie flehen vielleicht
unmittelbar bevor, wo die ftaatlichen Behörden
oder Vertretungskörper, weil fie dem Andrängen der
kirchlichen Behörden und der Synoden einen wirkfamen
Uamm entgegenfetzen, ein Anrecht auf dasfelbe Prädicat
fich verdienen, welches Luther dem Augsburger Reichstag
von 1518 wegen feines Auftretens gegen die Organe
der Kirche ertheilt hat, dafs fie ein ,rechtes chriftliches
Concilium' feien.

Giefsen. J. Gottfchick.

Schaeffer, Lic. Dr. Ad., Le Bonheur ou Esquisse d'une
apologie rationnelle du Christianisme. 2. ed. revue et
augmentee de lettres inedites de V. Hugo etc. Paris,
libr. Fischbacher, 1887. (XXXI u. 339] S. in — 12.)
Fr. 3, 50.

Diefe Schrift ift nicht auf einen ausfchliefslich theo-
logifchen Leferkreis berechnet; der Verfaffer, ein fruchtbarer
und vielfeitiger Schriftfteller, hat den Gelehrten-
ftil fo viel wie möglich vermeiden und allgemein ver-
ftändlich fchreiben wollen. Es ift ihm trefflich gelungen;
jeder Gebildete wird ihm leicht folgen können. Man hat
feine Freude an der lebendigen, originellen und durchaus
reinen Sprache. Der Gedankengang ift in Kürze
folgender: Vernunft und Gewiffen ftellen dem Menfchen
die Gütigkeit (la bonte) als höchftes Ziel vor. Diefer
Begriff wird fehr hübfch als ,charite' (Liebe, im Sinne
von 1. Kor. 13) und justice', Gerechtigkeit, andemDoppel-
grundfatz entwickelt: Was du willft, dafs die Leute dir
thun, das thue auch ihnen, und was du nicht willft, dafs
die Leute dir thun, das thue ihnen auch nicht. Nun
fehnt fich derMenfch nach der Glückfeligkeit {le bonheur)
diefe liegt aber in der Gütigkeit, aufser der es kein diefes
Namens würdiges Glück giebt. Dies der erfte Theil des
Buches; der zweite handelt von den Mitteln zum Ziel.
Es find: Natur, Kunfl und Wiffenfchaft, Selbftbetrachtung
fummt dem Gedanken an den Tod und an das ewige
Leben, Freundfchaft und Bücher, dies alles geringere
Mittel im Vergleich mit dem noch zu erwähnenden. Denn
noch bleibt übrig ,vom beften Freund zu fprechen, Jefus
Chriftus'. Verfaffer thut es mit Ernft und Liebe, um von
der Perfon des Heilandes auf die Evangelien und das
Neue Teftament überhaupt, fchliefslich noch auf die
Kirche überzugehen. Sein Chriftus, gleich weit entfernt
vom Gott-Chriftus der einen und dem reinen Menfchen-
Chriftus der andern, fcheint als ein Mittelwefen zwifchen
Gottheit und Menfchheit zu fchweben. Er ift Menfch
gewefen und dennoch ein über der Menfchheit erhabenes
Wefen. Der Verfaffer ift indeffen weit entfernt, feineTheorie
irgend jemand aufdringen zu wollen; der ganze Paffus
fchliefst vielmehr mit dem für die ganze Tendenz der
Schrift bezeichnenden Worte: ,Um ein Chrift zu fein, ift
glücklicher Weife Folgendes die Hauptfache: dafs man
nämlich jenem göttlichen Wefen nachfolge, das fo recht
geredet, fo rein gelebt, und deffen Kreuz niemand ohne
einen heiligen Schauer betrachten kann'. Der apologetifche
Gedanke, der nebeneinherläuft, befteht darin, dafs gezeigt

wird, wie die Gütigkeit, welche Vernunft und Gewiffen
als das höchfte Ziel anerkennen, eben auch den Mittelpunkt
des ganzen N. Teft. bildet, und Chriftus, welcher
! diefes Ideal nicht allein vorgezeigt, fondern verwirklicht
| hat, fo zu fagen die Incarnation des Gewiffens felbft ift.
j Freilich könnte man fragen, ob Vernunft und Gewiffen,
j welche in fo fchöner Harmonie mit dem Evangelium
| flehen, nicht eben eine chriftlich beftimmte Vernunft, ein
chriftlich beftimmtes Gewiffen find. Nichtsdeftoweniger
behält diefer Gedankengang feinen Werth für den Lefer-
I kreis, den der Verfaffer befonders im Auge hat: ,An
euch wende ich mich, die ihr an den Formeln zweifelt,
die man euch eingeprägt hat und meinet, mit denfelben
verfchwinde auch das Chriftenthum! Euch möchte ich
; den Unterfchied zwifchen dem Nebenfächlichen und dem
j Wefentlichen fühlbar machen, euch zu Gemüthe führen,
dafs das Wefentliche ift: die Heiligung . . . ., wie fie zugleich
durch die Vernunft und durch J. C. geboten wird'.
Der Verfaffer möchte feine Lefer für ein Chriftenthum
begeiftern, welches nicht todter, engherziger Buchftaben-
glaube, fondern Geift und Leben ift, auf diefe Weife zugleich
diejenigen dem Chriftenthum erhalten oder für
dasfelbe gewinnen, welche durch die abftrufen, unver-
ftändlichen P"ormeln einer ftarren Rechtgläubigkeit ab-
gefchreckt werden, und dem unfeligen Parteiwefen dadurch
fteuern, dafs das allen Richtungen Gemeinfame,
nämlich die Nachfolge Chrifti und die Heiligung, als die
grofse Hauptfache dargeltellt wird. Das ift der Kern der
| Schrift und ihr eigentlicher Zweck. Und man kann es
! dem Verfaffer nicht verargen, dafs ihm die Entrüftung
über die Engherzigkeit einer gewiffen Orthodoxie in der
eigenthümlich bewegten Vorrede fcharfe Worte in die
Feder gegeben hat. Im Gegentheil, zumal wenn man
die Gefchichte des franzöfifchen Proteltantismus feit 1871
betrachtet, und fieht, wie feit der allgemeinen Synode
von 1872 die Unduldfamkeit der orthodox-fynodalen Partei
in beftändigem Wachsthum begriffen ift und zum
grofsen Theil fchuld ift an dem Fehlfchlag der proteftan-
tifchen Bewegung nach dem letzten Krieg, wird man
dem Verfaffer danken, dafs er laut und fcharf geredet.
Der dritte Theil des Buches enthält Anmerkungen und
Erläuterungen, meiftens aus Auszügen berühmter Schriftfteller
beftehend. Hier und in der Vorrede theilt der
Verfaffer an ihn gerichtete, mit dem Gegenftande zufam-
menhängende Briefe mit von Laboulaye, Victor Hugo,
Lacordaire.Montalembert, Georges Sand, Edmond About.
Abbe Wernert, von dem ebenfalls ein Brief abgedruckt
ift, war eine auch in proteftantifchen Colmarer Kreifen
fehr beliebte Perfönlichkeit, gut katholifch, aber eine
weitherzige Chriftcnfeele, wie das von ihm über die von
Francois de Sales empfohlenen Mittel zur Bekehrung der
Proteftanten gefällte Urtheil bezeugt: ,Welch' gräfsliche
Tyrannei! wie ift es möglich, dafs eine fo loyale Seele
nicht erfchrak beim Gedanken an alle Heuchler, welche
durch folche Mafsregeln hervorgebracht werden mufsten!'

Colmar. L. Horft.

Frommel, Gen.-Superint. u. Confift. R. Dr. Max, Einwärts,
aufwärts, vorwärts! Pilgergedanken und Lebenserfahrungen
. Bremen, Müller, 1886. (X, 227 S. 8.) M. 2. 80;
geb. M. 4. —

Eine reiche Welt von Lebenserfahrungen fehen wir
hier zu klaren, durchgeiftigten Geftalten verarbeitet, fo
dafs jene uns erft recht verftändlich werden. Oft ift ein
bedeutender Stoff, auf den Andere viele Bogen verwenden
würden, auf wenigen Blättern und doch mit plaftifcher
Anfchaulichkeit dargeftellt. Wir fehen da gleichfam die
abgenutzte Scheidemünze des Alltagslebens gegen wenige
gehaltvolle Goldftücke umgetaufcht. Der in die Anschauung
eines folchen Kunftwerkes verfunkene Lefer
wird wohl bisweilen vergeffen, dafs in diefem Buch alles