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1887 Nr. 26

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627-630

Titel/Untertitel:

Vorträge der theologischen Konferenz zu Giessen, gehalten am 9. Juni 1887. (3. Folge.) W. Herrmann: Der Begriff der Offenbarung. - Karl Müller: Bericht über den gegenwärtigen Stand der Forschung auf dem Gebiet der

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung. 1887. Nr. 26.

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ergiebt (ich auch die rechte Beurtheilung der mittelalterlichen
Kunfl, die wohl in den Klöftern fehr gepflegt
worden ift, aber, weil nicht hervorragend von mönchifchen
Künftlern ausgeübt, vielmehr meift von Künftlern, welche
dem Kloflerverbande nur lofe oder gar nicht angehören,
durchaus nicht als dumpfe, hierarchifche Mönchskunfl,
fondern als wahre Volkskund zu betrachten ift.

Das find nur flüchtige Skizzen von den umfaffenden
und feinen Ausführungen im farbenreichen Bilde. Wir,
die wir mit wahrem Genuffe an die kunflgefchichtlichen
und die fpeciell kulturgeschichtlichen Kollegien des
Leipziger Profeffors zurückdenken, haben zu unferer
gröfsten Freude nun einen grofsen Theil deffen, was wir
einft im lebendigen Worte gehört haben, in gleicher Lebendigkeit
und Kraft niedergefchrieben vor uns. Aber den
Wunfeh, den wir fchon damals gehegt haben, laffen auch
diefe Bilder wieder laut werden: möchte uns der Meifter
eine zufammenhängende Kulturgeschichte fchenken. Nicht
weniger lebhaft, als wir es damals in unferer Studentenzeit
gefühlt haben, fagen wir es jetzt: Kein anderer ift
fo dazu berufen wie er.

Rom. Johannes Sieker.

Vorträge der theologischen Konferenz zu Giessen, gehalten
am 9.Juni 1887. (III. Folge.) Prof. Dr.W. Herrmann:
Der Begriff der Offenbarung. — Prof. Dr. Karl Müller:
Bericht über den gegenwärtigen Stand der Forfchung
auf dem Gebiet der vorreformatorifchen Zeit. Giefsen,
Ricker, 1887. (65 S. 8.) M. 1.—

Offenbarung ift dem Chriften die Selbftoffenbarung
Gottes, d. h. die Thatfache, dafs Gott ihn durch einen
unwiderfprechlichen Erweis feiner allmächtigen Liebe
überwältigt und ihn aus der Verlorenheit feines natürlichen
Zufiandcs in eine neue Welt verfetzt. Diefe Thatfache
, aus welcher wir eine Macht erfahren, die uns in
die Gegenwart Gottes Seilt und uns emporhält, wenn
Noth und Sünde uns ins Bodenlofe hinabziehen wollen,
diefe weltüberwindende Thatfache ifl Jefus Chriftus. Indem
feine persönliche Haltung gegen die Menfchen uns
die Zuverficht giebt, dafs fein Gott unfer Gott ift, erhebt
er uns in den Bereich der Liebe Gottes. Diefe Thatfache
tritt in unfer Dafein als etwas unbegreiflich Neues,
das nie alt werden kann. Sie iS nicht eine Lehre, die
wir mit Schriftbeweifen und Vernunftgründen mühfam
unterflützen; fie iS auch nicht ein lediglich fubjectives
Erlcbnifs, welches in den Augenblicken der Gottver-
laffenheit des natürlichen Lebens als Traum und Wahn
uns wieder entchwinden könnte; nein, fie ifl eine Wirklichkeit
, die uns glücklich und frei macht, eine Wirklichkeit
, die wir nicht erS durch eine AnSrengung des
Fürwahrhaltens als eine Gottcsoffcnbarung feftzuSellen
brauchen, weil fie uns durch die Macht und den Reichthum
ihres Inhalts überführt, und uns nöthigt den Gott
zu verehren, der uns durch fie berührt. —

Wer aus dem Betriebe der hergebrachten Theologie
an diefe Ausführungen über die Offenbarung herantritt
und diefelben nach dem Mafsftabe der dogmatifchen
Tradition bcurtheilt, wird fleh durch diefen Vortrag hüchft
unangenehm berührt fühlen. Wo find die unentbehrlichen
Bedimmungen, aus denen man den Offenbarungsbegriff
zu conflruiren pflegt? Wie kann doch der Verfaffer die
grundlegenden Kategorien von allgemeiner undbefonderer,
mittelbarer und unmittelbarer, natürlicher und übernatürlicher
Offenbarung fo ohne Weiteres ignoriren? Liegt
ihm denn gar nichts daran, uns zunächft über die Möglichkeit
der Offenbarung zu belehren, bevor er berechtigt
wäre, uns in medias res, d. h. vor die Wirklichkeit der
Offenbarung mit fo kühner Zuverficht zu ftellen? Und
ift vollends die von ihm geradezu als heilsnothwcndig
geforderte Unterfcheidung der Offenbarung und der Schrift
(S. 13) nicht vielmehr ein feelengefährlicher Irrthum,

[ durch welchen die Zuverläffigkeit der Offenbarung ei-
fchüttert wird? Mufs endlich die Wirkfamkeit der mit
fogrofsem Pathos gepriefenen, aber von ihrer dogmatifchen
Formulirung völlig losgelöden Thatfache der gefchicht-
lichen Erfcheinung Jefu Chrifti nicht durch ein fubjectives
Erlebnifs in der Seele des Einzelnen bedingt fein? So
werden die Klagen und Anklagen deren lauten, welche
in Herrmann's Stellung und Behandlung der PVage die
ihnen liebgewordenen Schlagwörter vermiffen. Wer fleh
aber davon überzeugt hat, dafs folche Schlagwörter nur
eine bequeme Hülle find, hinter welcher fleh ein für die
chriftliche Kirche und Theologie durchaus unfruchtbares
Verfahren verbirgt, dem kehren fleh alle jene Ausfiel-
i lungen zu directen Empfehlungen des Herrmann'fchen
j Vortrags. Unferem Verfaffer vertieft fleh die Frage nach
der Offenbarung zur Darlegung .eines Streites, in dem
wir alle flehen, ich meine den Kampf des Glaubens in
uns felbft'. In ergreifenden Worten fchildert er den
Kampf der Anfechtung, den wir in uns felbft erfahren
müffen, wenn wir wiffen wollen, was die Offenbarung ift.
Nur das, was uns aus der Anfechtung rettet, macht auf
uns den Eindruck des überwältigend Neuen, einer wahrhaftigen
Offenbarung; und nur weil Gott in Guido fo
mit uns verkehrt, dafs er uns die Sünden vergiebt und
in den Herzensgrund einer gequälten Creatur eine Freude
legt, die durch keine Lad erdickt wird, nur deshalb erfahren
wir'Chridus als die erlöfende Offenbarung unferes
Gottes. — Wahrlich, eine Dardellung, welche uns von vornherein
fowohl in den tragifchen Ernd unferer fchwerden
Kämpfe, als in den vollen Reichthum chridlicher Heils-
erfahrung einführt, fie läfst uns blutwenig Gcfchmack
übrig für jene in den herkömmlichen dogmatifchen Pro-
legomcnen mit einem grofsen Aufwand von Scharffinn
behandelten Probleme, welche vor lauter Bewcifen für
die Offenbarung uns die Thatfache der Offenbarung kaum
erreichen laffen. Herrmann entwickelt und begründet
feine Anfleht nach zwei Seiten hin. Einmal bekämpft
er den Irrthum der vulgären Theologie, welche den Inhalt
der Offenbarung in der Summe der Schriftgedanken
erblickt; andererfeits weid er die mydifchc Auffaffung
zurück, nach welcher die Offenbarung lediglicli als fub-
jectiver Vorgang ohne Bezugnahme auf die objectiven
Mächte der Gefchichte in der Seele des Einzelnen fleh
vollzieht. Dafs diefe uns fchon aus früheren Schriften
Herrmann's bekannte, hier aber mit befonderer Klarheit
und Kraft vorgetragene Lehre von der Offenbarung in
principiellem Gegcnfatz zu der, den Menfchen gerade
1 aus den lebendigen Zufammenhängen der wirklichen Gefchichte
ifolierenden Theorie des Rationalismus aufrecht-
| erhalten und durchgeführt id, wird jedem Unbefangenen
und Sachverdändigen fofort einleuchten. Ich theile des-
| halb die Erwartung des Verfaffers nicht, welchem ,die
! durch die Bemühungen der kirchlichen Preffe gefchaffene
j Sprachverwirrung die ziemlich fichere Ausfleht eröffnet,
| dafs feinen Ausführungen entgegengehalten wird, das fei
i Rationalismus'; Herrmann wird wohl kaum in der Lage
I fein, die ,fröhliche Verachtung', welche er für folche
1 Anklagen bereit hält, wirklich zu üben. Dagegen
durften diejenigen, die feinem Vortrag zudimmend gefolgt
I find, doch bedauern, dafs manche auf den Gegenfland
I direct bezügliche Fragen entweder nur angedeutet oder
j ganz übergangen worden find. Wer mit den übrigen
j Schriften des Verfaffers vertraut id, kann diefe Lücken
1 zwar leicht ergänzen; follte aber der Zweck des Vor-
I trags einen folchen Recurs auf anderweitige Aeufscrungen
Herrmann's nicht entbehrlich machen? Die Zweckbeziehung
der Offenbarung auf die religiöfe Gemeinfchaft
wird wohl H. am wenigden bedreiten, und dafs die ge-
| fchichtliche Erfcheinung Jefu Chridi nicht in abdracter
! Weife von den hidorifchen Zufammenhängen der Ver-
j gangenheit und der Folgezeit ifolirt werden kann, hat
er felbd gelegentlich geäufsert. (Vgl. zur erden Frage
; bef. H.'s Buch, Die Religion im Verhältnifs zum Welt-