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Ausgabe:

1887

Spalte:

607-609

Autor/Hrsg.:

Katzer, Ernst

Titel/Untertitel:

Der Geistliche und die moderne Gesellschaft 1887

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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fcheint, nicht glücklich. Im erlten Bande feiner Gefchichte
des Pietismus (S. 38 ff.) weift Ritfehl darauf hin, dafs
gegenüber dem lateinifchen Katholicismus der kirchliche
Proteftantismus d. h. dasjenige, was in den Stiftungen j
Luther's, Zwingli's und Calvin's gemeinfam fei, durch den
Inhalt des Lebensideals in feiner Eigenthümlichkeit cha-
rakterifirt fei. Indem Gafs nicht umhin kann (II. 1. S. 37),
diefe Wahrnehmung dadurch anzuerkennen, dafs auch
er felbft der Reformation die Wirkung zufchreibt, nicht
nur eine Klärung und Vereinfachung der chriftlichen Er-
kenntnifs, fondern auch die Herftellung eines neuen Lebensbodens
und Lebenszieles herbeigeführt zu haben,
glaubt er doch hinzufügen zu follen, dafs es ihm nicht
richtig erfcheine, wenn die Vorftellung eines Lebensideals ,
als eine in der Reformatioszeit fchon entwickelte hinge-
itellt werde. Wir halten dafür, dafs diefe Polemik gegen- ,
über den näheren Ausführungen, die Ritfehl felber a. a. O.
gegeben, unnöthig war. Ritfehl felbft läfst darüber keinen |
Zweifel, dafs jenes Lebensideal in der Lehre noch nicht
nach allen Seiten entwickelt war. — Auch die Kritik
des Neokantianismus, welche bei Gafs (ich findet (II. 2. 1
S. 116 f.), durfte diefen nicht erfchrecken, da Kant's Kritik 1
der reinen Vernunft über den Werth der Metaphyfik in j
der wiffenfehaftlichen Theologie einen Zweifel kaum
übrig läfst. Und was endlich dem Umftand anbetrifft,
dafs Gafs auch über Myftik und Pietismus anders
und günftiger urtheilt als Ritfehl, jene als ein der
Frömmigkeit beider Confeffionen gemeinfames Subftrat
(II. 1. S. 42), diefen, fofern er auf deutfehem Boden fich
entwickelt, als ein Erzeugnifs nur der lutherifchen Kirche
und der religiöfen Geiftesanlage eines hervorragenden
Mannes betrachtet (II. 1. S. 2851, fo werden auch die hiefür
vorgebrachten Gründe nicht jeden überzeugen, insbesondere
auch diejenigen nicht, welche die Wiedertäufer
nur als eine Caricatur der Reformation erfcheinen laffen
(vgl. auch Kattenbufch in diefer Zeitung 1887, Sp. 503). j

Wir erwähnten oben, dafs der Herr Verf., um eine
Gefchichte der Ethik zu geben, zu wenig fyltematifch
verfahre. In etwa hilft er diefem Mangel ab durch die '
in den beiden letzten Paragraphen gegebenen Schlufs-
gedanken, welche in einer Skizze und in grofsen Zügen
fein eigenes Syftem der Ethik darlegen. Dasfelbe um- J
fafst drei Theile, deren erfter den Gcgenftand der Ethik
in der Art umfafst, dafs gefchildert wird, wie das Sittliche
Princip i m Menfchen und in der Gcmeinfchaft wirkt,
während der zweite das Sittliche als vom Menfchen ausgehend
betrachtet, und der dritte befchreibt, wie durch
die menfehliche Gefellfchaft die von der Weltordnung
gegebenen natürlichen Verbindungen in fichtbare Dar-
ftellungsmittel des Sittlichen verwandelt werden. Der
Raum geftattet es nicht, näher auf die gegebene Skizze '
einzugehen; nur dies fei noch bemerkt, dafs der Verf. |
im erften Haupttheil den Rahmen ficht für die Güterlehre,
im zweiten den für die Pflichten- und Tugendlehre und
im dritten den für die fpecielle Moral, für welche ein
beschreibendes Verfahren am Platze fei. Die Vermuthung
liegt nahe, dafs namentlich der dritte Theil trotz des für
ihn geforderten blofs beschreibenden Verfahrens gegenüber
dem erften Sich nicht felbftändig genug abheben
dürfte; doch könnte nur die concrete Ausführung der j
Skizze zu genügend begründeter Kritik die Handhabe
bieten.

Der Herr Verfaffer ift fich bewufst, im Dienfte chrift-
lich proteftantifcher Wiffenfchaft gearbeitet zu haben; I
trotz der gemachten Ausstellungen find auch wir der |
Ueberzeugung, dafs er diefer durch fein Werk eine an-
erkennenswerthe Förderung hat angedeihen laffen.

Lennep. Lic. Dr. Thönes.

Katzör, Paft. Dr. Ernft. Oer Geistliche und die moderne Gesellschaft
. Leipzig, Grunow, 1887. (32 S. gr. 8.) M. —. 60. |
Diefe anziehend gefchriebene und bcherzigenswerthe

Abhandlung hat bereits das von Pfarrer Lic. Rade herausgegebene
, an vortrefflichen Referaten und Auffätzen
reiche ,Evangelifch-Lutherifche Gemeindeblatt' (Leipzig,
Verlag von Fr. W. Grunow) gefchmückt, nachdem die-
felbe zuvor als Referat auf der Paftoralconferenz in
Bautzen gedient hatte.

Der Herr Verf. gliedert feine Abhandlung in die
beiden Theile: ,die moderne Gefellfchaft und der Geistliche
' und ,der Geiftliche und die moderne Gefellfchaft';
eine rednerifche Abbreviatur, mit welcher das wechfel-
feitige Verhalten der genannten Factorcn zu einander
bezeichnet wird. Die moderne Gefellfchaft wird in ihrem
Verhalten zum Geistlichen unter drei Rubriken: die
Wohlwollenden, die Indifferenten, die Feindfeligen gefchildert
, fcharf, treffend, nicht ohne Würze des Sarkas-
mus hie und da. Für das Verhalten des Geistlichen zur
modernen Gefellfchaft wird wiffenfehaftliche Tüchtigkeit,
theologifche, philofophifche und gefchichtliche Bildung
gefordert; die Predigt müffe original an Inhalt,
rhetorifch in der FVrm fein; fehr zeitgemäfs wird vor
der Ausplünderung fremder Predigtfammlungen gewarnt;
auf inten five Arbeit, auf Treue in der Seelforgc wird
hoher Werth gelegt. Neben der wiffenfehaftlichen wird
die ethifche Tüchtigkeit hervorgehoben; ein geordnetes
Hauswefen und ehrbares Familienleben ift unbedingt
noth; auch gebildete Formen des Umgangs kann
der Geistliche nicht entbehren, defto mehr klerikale
Standeskleidung und derartige Thorheiten; in allen
Dingen habe der Geistliche charaktervolle Sclbftändig-
keit zu erkennen zu geben.

Man ficht, eine Reihe unentbehrlicher, vortrefflicher
Paftoralregcln, denen wir die weitefte und intenfivftc Ver-
werthung wünfehen. Gleichwohl möchte Referent einige
Defiderien nicht unterdrücken. Die Abhandlung wird beherrscht
von dem Gegenfatz der modernen Gefellfchaft
und des Geistlichen; dort die grofse Maffe der Zeitgenossen
, hier die Einzelpcrfonen der Geistlichen oder die (Jollec-
tivperfon des geistlichen Standes. In concreto beftcht jedoch
die ,moderne Gefellfchaft', fo weit fie den Paftor
zunächst angeht, aus feiner Gemeinde, die ihm befohlen
ift, mit der er fich eins, alfo in nächster Verbindung
, nicht im Gegenfatz, wiffen foll. Wir meinen,
die Abhandlung würde eine andere Tonfärbung bekommen
haben, wenn das Bewufstfein von dem Verhältnils
des Paftor zu feiner Gemeinde von vornherein fich geltend
gemacht hätte. Der Grund des Mangels fcheint
auch nicht nur in der Formulirung des Thema's zu liegen.
Die Abhandlung ift durchzogen von der Auffaffung des
pädagogifchen Charakters des öffentlichen Gottesdienstes
und des geistlichen Amtes überhaupt, eine Auffaffung
, die in Luther;s Aeufserungen doch nur eine gebrechliche
Stütze hat; nur in einem kurzen Abfatz
(S. 17) blickt eine andere Auffaffung durch. Mehrfach
wird ausgesprochen (S. 15. 16. 32), das Ideal fei Entbehrlichkeit
der Paftoren: weil wir noch in der Streitenden
Kirche leben, weil das ,einfältige Volk' und der
,rohe Pöbel' noch immer vorhanden feien, deshalb bedürfe
die Gefellfchaft der Geistlichen. Alfo das Dafein
der Paftoren ein testimoninm paupertatis der Gefellfchaft?
Und wer fich nun nicht zum ,einfältigen Volk' und zum
,rohen Pöbel' rechnet, mufs fich kraft des Gebotes der
Selbftachtung und der Wahrhaftigkeit jede amtliche
Berührung mit dem Geistlichen verbitten? Es ift uns
nicht unbekannt, dafs von Luther her (vgl. Gr. Kat.
zum dritten Gebot) diefe Auffaffung traditionell in der
lutherifchen Kirche ift; wir halten fie gleichwohl für
äufserft bedenklich.

In nur loferem Zufammenhang mit diefer Anfchau-
ung mag es Stehen, dafs wir unter den Erfordcrniffen
der Predigt nur originale Gedanken und rhetorifche Form
und dgl. hervorgehoben fehen. Die Hauptfache fcheint
ausgelafien zu fein. Es ift diefes, dafs voll und ganz das
Evangelium gepredigt werde, im Sinne des Apoftels