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Ausgabe:

1887

Spalte:

40-41

Autor/Hrsg.:

Raehse, Hugo

Titel/Untertitel:

Die christlichen Centralideen des Reiches Gottes und der Erlösung. Mit besonderer Rücksicht auf Nichttheologen dargestellt 1887

Rezensent:

Thoenes, Karl

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leichtert, dafs fie, zum Theil wenigftens, in der Erkenntnifs,
dafs fie das deutliche Wort der Schrift gegen fich haben,
die Forderung eines unmittelbaren Verkehrs mit Gott
undChriftus dämpfen durch denZufatz: aber nicht unvermittelt
. So wird der Streit eigentlich zum Wortftreit.
Reifchle erfetzt nun im Intereffe der Fernhaltung myfti-
fcher Vorftellungen das ,unmittelbare' durch ein ,lebendig
perfönliches' Verhältnifs. Die Erörterung erhebt fich
aber doch über den Wortftreit durch die Hereinnahme
der Frage nach dem erhöhten Chriftus. Gegenüber den
Verdächtigungen, welche Ritfchl's Theologie aus Anlafs
diefer Frage über fich ergehen laffen mufste, als liege
in dem Verlangen eines ftets durch die lebendige Erinnerung
an das Evangelium vermittelten Verhältnifses
zu Chriftus die Leugnung des perfönlich fortlebenden
Chriftus, zeigt der Verfaffer in dankenswerther pfycho-
logifcher Analyfe, wie, ganz in Analogie des perfön-
lichen Verhältnifses zwifchen lebenden Perfonen, die
Vermittlung unferes Verkehrs mit Chriftus durch fein
Wort fchon ein Uebergreifen über den Apparat der Vermittlung
nach dem jenfeitigen Ich, alfo die Vorausfetzung
des Fortlebens Chrifti gegeben ift. Im Vorbeigehen ift
ja diefes übrigens fchon von Ritfehl felbft (Theol. u.
Metaph. S. 47) durch die ausdrückliche Behauptung
eines ,perfönlichen Verhältnifses Gottes oder Chrifti zu
uns' ausgefprochen. Wir möchten auch fragen, warum
man Ritfehl, wenn in feinem Poftulat der Vermittlung
unferes Verhältnifses zu Chriftus die Berechtigung liegen
foll, an feinem Glauben an den Erhöhten zu zweifeln, nicht
auch die Verleugnung des Glaubens an den lebendigen
perfönlichen Gott imputirt hat, für deffen Verhältnifs zu
uns genau diefelben Normen der Vermittlung wie bei
Chriftus aufgeftellt werden? Und noch fügen wir hinzu,
dafs jene Infinuation, foweit fie fich gegen die R.'fche
Schule richtet, um fo unverftändlicher ift, als Herrmann
in feinem Kampfe gegen eine Theologie, welche die Bedeutung
der Perfon Chrifti zu Gunften des von ihm ausgehenden
Erlöfungsprincipes entwerthet, den Glauben
an den erhöhten und fortlebenden Chriftus fo deutlich
als möglich bekannt und begründet hat (Relig. im Verh.
zum Welterkennen und zur Sittlichkeit S. 378 f.).

Das dritte Merkmal der Myftik ift die Annahme einer
Einwirkung Gottes auf den Menfchen, welche
im innerften Seelengrund, alfo hinter den activen
Functionen des geiftigen Lebens fich vollzieht.
Wie Ritfehl dem gegenüber, entfprechend feiner pfycho-
logifchen Anfchauung, dafs das Wefen des Geiftes eben
in feinen Functionen wirklich ift, behauptet, die Gnadenwirkungen
Gottes laffen fich nur in den entfprechenden
fittlichen und religiöfen Acten nachweifen: fo erklären
feine Gegner, es käme bei ihm zu keiner wirklichen
Lebensgemeinfchaft, höchftens zu einer Willenseinigung.
Jedenfalls bleibe Gott in einer gewiffen Ferne. Als das
religiöfe Motiv diefes Widerfpruchs findet der Verfaffer
die Befürchtung, es werde dadurch der chriftliche Gnaden-
ftand in feiner göttlichen, übernatürlichen, von unferer
Seite verdienftlofen Begründung gefährdet. Der Verfaffer
beruhigt gegenüber diefem Einwand durch eine
aus der Tiefe gefchopfte Darlegung der Erfahrung des
überweltlichen Lebens, welches allein die Macht des
Evangeliums überwältigend in uns wirkt, wie fie der
Gläubige, ohne die Stütze jener Theorie, macht. Beherzigenswert
]! ift auch der Hinweis auf die Bedenken
einer Theorie, welche die Begründung des Gnaden-
ftandes in der Leere des Unbewufsten erfolgen läfst.
Des Weiteren richtet fich der Verfaffer gegen den Einwand
, es könne bei dem Aufgeben einer befonderen
Seelenfubftanz die Einwirkung des Evangeliums auf die
Gläubigen nicht eine centrale, nur eine zerfplitterte
fein. Diefe Meinung ift die Folge der falfchen Vorausfetzung
, als falle mit der von ihren Thätigkeiten getrennten
Seelenfubftanz auch die Einheit der Seele. Diefe
befteht ja aber dennoch — in der Einheit des Bewufst-

feins, das den in den verfchiedenen Seelenthätigkeiten
gegebenen Stoff verknüpft und den Inhalt der einzelnen
Thätigkeit unaufhörlich in die anderen überleitet. Auf
Grundlage diefer Vorausfetzung kann kein Zweifel fein,
dafs auch der zunächft der vorftellenden Thätigkeit des
Geiftes gebotene Inhalt des Evangeliums fofort auch
als Werthinhalt dem Gefühl und als Motiv dem Willen
vermittelt wird. So ift die Einheitlichkeit und Stetigkeit
der Einwirkung des Evangeliums gewahrt. Der Verfaffer
berichtigt mit dem Angeführten zweifelsohne ein
Mifsverftändnifs, das trotz Kant und Lotze noch vielfach
verwirrend wirkt. Ebendarum aber find wir nicht ein-
verftanden, wie er S. 61 fich doch geneigt ausfpricht,
den Ausdruck Subftanz für die Seele beizubehalten. Es
ift nun einmal fchon in Folge des Drucks der Etymologie
fo, dafs der Begriff der Subftanz ftets die räumliche
Anfchauung hervorruft. — Noch geht der Verfaffer
auf diejenigen ein, welche unter der Devife des bibli-
fchen Realismus die Prätention ganz befonderer Pofitivität
machen und das ethifch-religiöfe Verhältnifs des Menfchen
zu Gott gänzlich zurückftellen hinter der Forderung, dafs
wir vor Allem Chriftus als den ,wirklich fubftantialen
Untergrund unferes Seins' haben müffen. So wird das
Verhältnifs dann ein ,wirklich myftifches'. Wir glauben,
um diefe giebt fich der Verfaffer umfonft Mühe. Sie
haben das Bedürfnifs nach derberen Begriffen, als er fie
zu breiten vermag; fie find zu feft überzeugt, dafs auch

j das, worin wir nur Worte ohne vorftellbaren Inhalt erkennen
, Realitäten find. Zuletzt antieipirt der Verfaffer

{ das muthmafsliche Urtheil über feinen Verfuch. Man
werde fagen, die ganze Prüfung der Anflehten, welche

I ein myftifches Element für das Chriftenthum fordern,
laufe auf das Refultat hinaus: ,was an diefen Anflehten

I myftifch ift, ift nicht berechtigt; was berechtigt ift, ift
nicht myftifch'. Er aeeeptirt diefe Formulirung des Er-
gebnifses und wir mit ihm. Wir bezeugen ihm aber auch,
dafs damit das Urtheil über den Werth feiner Schrift
nicht ausgefprochen ift. Wir fchlagen denfelben hoch
an. In ihrer fachlichen Ruhe, in ihrem fteten Bemühen

j um die Entdeckung der in Frage kommenden religiöfen
Intereffen, trägt fie vieles bei zur Klärung der Begriffe

] und ift fie wohl geeignet, mit Vielen, die der Theologie
Ritfchl's mit Mifstrauen gegenüberftehen, die Verftändi-
gung anzubahnen.

1 Ulm. A. Bilfinger.

Raehse, Dr. Hugo, Die christlichen Centraiideen des Reiches
Gottes und der Erlösung. Mit befonderer Rückficht
auf Nichttheologen dargeftellt. Halle, Niemeyer, 1885.
(48 S. gr. 8.) M. —.80.

Wenn der Verf. in der Vorrede fagt, dafs bei den
| meiften heutigen Gebildeten bezüglich der Lehre von der
! Erlöfung eine Unklarheit herrfche, welche geradezu ein
j Nichtwiffen fei, zugleich aber oft ein weit gröfseres Intereffe
an religiöfen Fragen gefunden werde, als viele vorausfetzten
, fo kann man ihm nur zuftimmen, und gewifs
war es darum fchon an und für fich ein verdienftliches
Unternehmen, gerade für das Verftändnifs gebildeter
Nichttheologen die Lehre von der Erlöfung und die
nächftzugehörige vom Reiche Gottes kurz darzuftellen.
Aber Dr. Raehfe hat feine Aufgabe auch mit grofsem
Gefchick gelöft. Zwar fcheint er durch die Eintheilung
feines Stoffes in einzelne Paragraphen nur eine Art
Schul- und Lehrbuch zu geben, aber die Leetüre der
kleinen Schrift überzeugt davon bald, dafs nur das Bedürfnifs
der Kürze und Klarheit die Paragraphenform ver-
anlafst hat, und ebenfo trägt der Umftand zum Verftändnifs
für Nichttheologen bei, dafs die biblifchen
Belegftellen gröfstentheils vollftändig wiedergegeben find
und zwar in einer auf den Grundtext zurückgehenden
felbftändigen guten Ueberfetzung. Auch die öfter mit