Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1887 Nr. 2

Spalte:

36-40

Autor/Hrsg.:

Reischle, Max

Titel/Untertitel:

Ein Wort zur Controverse über die Mystik in der Theologie 1887

Rezensent:

Bilfinger, A.

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

35

Theologifche Literaturzeitung. 1887. Nr. 2.

36

der dogmatifchen Parteiung ruhende Oppoütion gegen
kaiferliche Kirchenpolitik auslaufen laffen in eine rigo-
riftifche, grollende Ifolirung und Bekämpfung der zu
Transactionen und Rückfichtnahmen kirchenpolitifcher
Art genöthigten Weltkirche werden treffend hervorgehoben
; die Monographie befriedigt daher nicht blofs
ein biographifches und literarhiftorifches Einzelintereffe,
fondern greift in die gefchichtliche Gefammtbeurtheilung
der Zeit fruchtbar ein. Verdienftlich ift die forgfältige
Befprechung der Schriften des L., jener feltfamen, turbulenten
und doch monotonen Invectiven gegen den
Kaifer Conftantius (S. 24—40, 97—109). In dem Ver-
fuch, die zeitlich fo nahe zufammenftehenden, jedenfalls
innerhalb weniger Jahre verfafsten Schriften genau nach
ihrer zeitlichen Abfolge zu beftimmen, tritt er (S. 107)
unter anderm auch der von mir (RE. IX, 109) vermutheten
Zeitfolge entgegen, und ich geftehe gern, dafs ich, was
die Voranftellung der Schrift de non parcendo betrifft,
meinen nicht erfchöpfenden Eindrücken vielleicht zu
rafch gefolgt bin. Der wichtigfte Gegengrund des Verf.
ift die Berufung darauf, dafs L. in jener Schrift p. 256,
7 ed. Hart, bereits auf mehrere andere fich bezieht, worunter
nur folche gemeint fein könnten, welche er bereits
früher an den Kaifer abgefandt habe. Letzteres
halte ich nicht für fchlechterdings gewifs, und die Argumentation
des Verf.'s würde für mich überzeugender fein,
wenn er in den uns erhaltenen Schriften Stellen aufge-
wiefen hätte, welche den Gedanken enthielten, den L.
in den betr. Schriften ,oft' ausgefprochen zu haben behauptet
, nämlich: qnod peccata quidem fecerint
nostra, ut in tnas anticliristi praecursoris veniremus ma-
nus, te tarnen pugnare contra Deum etc. Dafs die Chriften
unter den Verfolgungen fich bewähren follen u. ä. fpricht
er öfter aus (38, 22. 59, 21), jenen Gedanken aber, dafs
fie in ihnen auch tragen, was fie mit ihren Sünden verdient
haben, erinnere ich mich nicht angetroffen zu haben.
Aber freilich den Grad von Selbftverleugnung habe ich
nicht befeffen, lediglich darauf hin die Sandwüften diefer
Schriften noch einmal von Anfang bis zu Ende zu durchwandern
.

Die für das luciferianifche Schisma wichtige Schrift
des Hieronymus, altercatio Luciferiani et Orthodoxi hatte
ich geglaubt in die Zeit des römifchen Aufenthalts des
Hieronymus unter Damafus fetzen zu müffen, gegen die
gewöhnliche Anficht, welche fie einige Jahre früher in
den Aufenthalt zu Antiochien fetzt. Kr. Hellt in durchaus
objectiver Weife die Gründe für beide Meinungen
gegenüber, auf eine beftimmte Entfcheidung verzichtend.
Ich mufs das aus der Reihenfolge der Schriften des
Hieronymus in cal. 135 hergenommene gewichtige Gegenargument
mit ihm als ein folches anerkennen, ja ich
fehe mich jetzt genöthigt, noch felbft auf einen andern
Punkt hinzuweifen, der, fo wenig mir die Sache aus
innern Gründen wahrfcheinlich vorkam, doch für Antiochien
zu fprechen fcheint. Der Eingang des Dialogs erwähnt
das Anzünden der Strafsenlaternen beim Beginn
der Nacht. Nun rühmt Libanius in dem Panegyrikus
auf Antiochien gerade dies als einen der vielen Vorzüge
der Stadt, dafs hier die Fackel der Sonne von andern
Leuchten abgelöft wird, dafs Nacht und Tag fich nur
durch die Verfchiedenheit des Lichts unterfcheiden; und
die Worte des Ammian. Marcell. (14, 1) von der Stadt,
übt pernoctantium luminum 'claritudo dierum solet imitari
fulgorem beziehen fich wiederum gerade auf Antiochien.
Dagegen fehlt meines Wiffens, fo auffallend dies fein
mag, jedes beftimmte Zeugnifs für eine gleiche Einrichtung
in Rom.

Die Schrift des Verf.'s würde noch Veranlaffung geben,
auf manche andere Punkte einzugehen, z. B. auf die hervorgehobene
Thatfache, dafs Lucif. in einer — der letzten
— Schrift und gerade nur in diefer, den Cyprian in eigen-
thümlicher Weife ausgenutzt hat, wozu mit dem Verf. auf
Harnack's Bemerkungen in Th. L.-Z. 1886, 174 zu ver-

I weifen ift. Es fei aber genug, zum Schlufs hervorzuheben,
dafs Sorgfalt, Umficht und Akribie des Verf.'s fich über-
I all zu erkennen geben.

Kiel. W. Möller.

Reise hie, Repetent Max, Ein Wort zur Controverse über
die Mystik in der Theologie. FYeiburg i. Br., Mohr,
1886. (70 S. gr. 8.) M. 1. 60.

Die Schrift greift den vielleicht tiefften Streitpunkt
der heutigen Controverfe über Ritfchl's Theologie auf.
Nichts wird diefer mehr verargt auch feitens Solcher, die
im Uebrigen von ihr zu lernen geneigt find, als ihre
' Stellung gegen die pietiftifch-myftifche Auffaffung des
1 Chriftenthums. Hier, meint man, gelte es zweifellos,
S religiöfe Intereffen gegen Ritfehl zu vertheidigen. Wir
j erklären uns diefen Widerfpruch grofsentheils daraus,
I dafs man in der Anhänglichkeit an die hergebrachte
{ Meinung nur den polemifchen Ton bei R. herausgehört
; hat. Man überfieht aber, dafs feine Stellung hier eine
I eminent pofitive ift, nämlich der unmittelbare Ausdruck
; feines ,Standpunkts in dem Bekenntnifs der lutherifchen
! Kirche'. Das Aufleben der Myftik in der evangelifchen
i Kirche ift nachweisbar verurfacht durch die Entleerung
j und Verödung, welchen die Lehre von der Rechtfertigung
i bald nach der Reformation anheimgefallen ift. Dafs der
Pietismus, als eine Form praktifcher Frömmigkeit, dadurch
allein möglich war, kann als allgemein zugeftan-
den angefehen werden. Ganz deutlich erweift fich jene
| Wahrnehmung auch an der dogmatifchen Lehre von der
' unio mystica. So wie diefe Lehre, 100 Jahre nach der
! Reformation, Feuerborn in die Dogmatik eingeführt hat,
fo ift fie offenbar nichts anderes als der Ausdruck eines
Horror vacui, der eintrat mit dem Abbrechen der Brücke
zwifchen dem neuen Leben des Gläubigen in der reno-
vatio und dem vorangehenden göttlichen Heilsprocefs,
deffen Schwerpunkt in der forenfifch gedachten justi-
ficatos liegt. Indem Ritfehl die Rechtfertigung aus dem
Glauben wieder in einem Sinn deutete, dafs mit ihr der
völlig zureichende Grund des neuen Lebens gegeben ift,
j fiel ihm von felbft der inhaltsleere Begriff der unio
mystica dahin.— Wir können noch in umfaffenderem Sinn
I verdeutlichen, wie die Verweigerung des Heimathrechts
für die Myftik bei R. die directe Wirkung feiner Deu-
] tung des Chriftenthumes im Sinne der Reformation ift.
I Die Myftik des Mittelalters fchöpft u. E. ihr relatives
Recht wefentlich aus zwei Gefichtspunkten: der Er-
kenntnifs der inneren Leere und Zwecklofigkeit der offi-
| ciellen rein kirchlichen Frömmigkeitsübung und dem Be-
wufstfein, dafs in dem Sande der maffenhaft angehäuften,
I von der Scholaftik nur äufserlich verarbeiteten kirchlichen
Ueberlieferung dem chriftlichen Subject der fefte
und fühlbare Grund des Glaubens verloren gehen müffe.
I Diefe Motive haben wohl auch Luther in feiner früheren
j Zeit der Myftik nahegebracht. Indem aber die Reformation
in der Predigt des Evangeliums den ficheren
Grund chriftlicher PVömmigkeit und in dem fittlichen
I Beruf und Leben das alleinige zweckvolle Gebiet ihrer
j Bewährung wieder aufzeigt: fo heilt fie eben die Schäden,
deren Vorhandenfein die Myftik anzeigt, und fie gewährt
I in legitimer Weife das, wofür die gegen den gefchicht-
lichen und fittlichen Charakter des Chriftenthums neutrale
Myftik einen unwahren Erfatz gefchaffen. Es ift
alfo kein Raum vorhanden für diefe in der evangelifchen
| Kirche. Wo trotzdem in derfelben eine Anhänglichkeit
an die Myftik vorhanden ift, da ift zu vermuthen, dafs
man fich der Befitzthümer des evangelifchen Glaubens
nicht voll und ganz bewufst ift.

Auf der Linie diefer Auffaflung liegt die vorliegende
Vertheidigungsfchrift Ritfchl's, fofern fie zum Schluffe
! bekennt, dafs den Wall gegen das Eindringen der
Myftik in die chriftliche Religion bilden mufs die dop-
j pelte Erkenntnifs von deren wefentlich ethifchem Cha-