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Ausgabe:

1887 Nr. 22

Spalte:

518-520

Autor/Hrsg.:

Heinrici, C. F. Georg

Titel/Untertitel:

Die Forschungen über die paulinischen Briefe: ihr gegenwärtiger Stand und ihre Aufgaben 1887

Rezensent:

Grafe, Eduard

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517 Theologifche Literaturzeitung. 1887. Nr. 22. 518

fein Urtheil über die leitenden Männer des 4. Jahrhunderts 1 thum habe er fich mit jener Mafsregel geftellt. Wie
in einigen Punkten ein reiferes als das feiner Vorgänger: I übertreibend diefe Ausdrücke find, hat ja der Erfolg ge-
aber mit diefen Vorzügen ift das Erfcheinen eines ganzen | zeigt, übrigens braucht ein Gegner der Schultze'fchen An

Werkes noch nicht gerechtfertigt, felbft wenn darin nicht
fo viel Fragliches und geradezu Verkehrtes mit unterliefe.

Das Buch von Gregorovius über Athenais-Eudokia
fcheint Sch. (S. 389; ganz entgangen zu fein, S. 207 weifs

fchauung noch lange nicht den Conftantin für einen gemeinen
Heuchler zu halten (S. 36 f.). Erftaunlicherweife
aber feiert Sch. felber fchon S. 58 f. die Klugheit und
vorfichtige Ueberlegung, mit welcher Conftantin von An-

er nicht, dafs wir für das 4. Jahrhundert noch keinerlei | fang an feine Religionspolitik betrieben, und in dem

Verwendung des Weihrauchs beim chriftlichen Cultus
annehmen dürfen. S, 118 wird keck die Hypothefe hingeworfen
, der Xnyoe xa>>' ESULqPcov und der Xoyoq jteQi

klärenden Wortes. Durchweg fehlen fichere und solid
begründete Anfchauungen. Die Einleitung will einen
Ueberblick über die Zahl der Chriften im römifchen

Rückblick S. 453 fetzt er Conftantin's weltgefchichtliche
Gröfse darein, ,dafs er feine Zeit verftand', dafs er klar
erkannte, welcher der beiden kämpfenden Religionen
%a>&qg>Jtifit<oq to'v Xöyov feien'erft nach 350 und nicht die Zukunft gehöre. Und dann foll er mit einer höchft
von Athanafius gefchrieben; die entgegenftehenden In- j unklugen That diefen klugen Weg befchritten haben? —
ftanzen, die unverkennbare Verwandtfchaft mit den un- j Aber ähnliche Widerfprüche in (einen Ausfagen treffen
angreifbaren Reden gegen die Arianer und der Vita An- ! wir bei Sch. allerwärts. S. 164 heifst unter Julian das
tonii (die er felbft bemerkt S. 119 f.) würdigt er keines Reich ,überfüllt', vorher ift über die ftarke Abnahme der

Bevölkerung geklagt worden. S. 367 f. werden uns die
Priefter der heidnifchen Tempel als durch Honorius 408
gänzlich enterbt dargeftellt; S.374 heifst es: In Afrika wa-
Reich zur Zeit Conftantin's geben; fchliefslich bekennt er ren im J. 415 die Priefterthümer noch mächtig. Insbe-
fich da S. 22 A. 3 zu Keim's Abfchätzung auf 16 Milli- fondere über Stimmung, Widerftandskraft und geiftige
onen unter 100 Millionen Gefammtbevölkerung. Ent- i Lebendigkeit des Heidenthums begegnen wir je nach
fprechend lefen wir dann S. 59 von 70—80 Mill. Pleiden, augenblicklichem Bedarf den abweichendften Erklärungen.
S. 34 aber von .über 80 Mill. heidnifcher Bevölkerung': Bald wird demfelben eine wunderfame Indolenz nach-
Sch. hat vergeffen, dafs er S. 22 die Zahl der Juden da- gefagt, bald ift es in höchfter Spannung und Beforgnifs.
mals auf mindeftens 8 Mill. im Reiche berechnet hat! Nach S. 308 übte die alte Religion noch um 400 n. Chr.
Noch fchwerer ift es, aus feinen Schätzungen betreffs eine zauberhafte Wirkung; nach S. 333 bedeutet sie um
der einzelnen Provinzen die Gefammtzahl von 16 Mill. j dlefelbe Zeit nichts mehr. Wörtlich das letztere wird
Chriften zu errechnen. Im Orient conftatirt er ca. 3V0 im ; uns S. 424 verfichert, aber dies hindert nicht, dafs wir
Abendland Million, wo bleiben die übrigen 12? Und j S. 434 lefen, in Oftrom habe der Hellenismus noch im 5.
wer wird glauben, dafs Armenien über 2 Millionen Chriften j und 6. Jahrhundert eine ^hervorragende geiftige Bedeu-
beherbergte zur Zeit, wo Syrien nur 100000 enthielt? tung' befeffen, und nach S. 444 exiftiren unter Juftinian
Wie können 16 Millionen herauskommen, wenn man in im byzantinifchen Reiche ,noch erhebliche Refte des Hei-
Nordafrika nur auf je 50 Menfchen einen Chriften rechnet! denthums'. Minder wechfelnd find die Urtheile über die
Ganz aus der Luft gegriffene Vermuthungen begegnen Kirche, aber nicht minder phantaftifch; die Abfchnitte,
z. B. S. 372, dafs Arianer und Heiden im Bunde geftan- die das Verhalten der ,Kirche' zur Heidenbekämpfung
den hätten gegen das orthodoxe Kaiferthum, und S. 358 f., behandeln, find erftaunlich dürftig und voreingenom-
der heidnifche Theil der Römer habe dem Barbaren Ra- men. Und mit welchem Recht charakterifirt Sch. gerade

dagais fchnfuchtsvoll und nachher den Schaaren Alarich's
mit ähnlichen Erwartungen entgegengeblickt. Die Cha-
rakterifirung der Hauptactcure ift eine überaus fchwan-
kende; was S. 194 über Valens gefagt wird, ftimmt doch
fchlecht zu dem S. 188 Bemerkten; S. 187 wird Valen-
tinian mit gebührendem Lob ausgeftattet, fogar ein mi-
litärifches Genie und ein Meifter in der Diplomatie genannt
, nach S. 195 war Conftantius doch ,eine weit
tuchtigere Herrfchernatur". Damit vergleiche man nun
das Urtheil S. 94—96, wo unverbunden neben dem höch-
ften Preis fcharfer Tadel über Conftantius ausgefprochen
wird. Sch. will abfchliefsende Charakteriftiken liefern,
wo die Quellen nun einmal dazu nicht hinreichen; noth-
wendig wird er zum Uebertreiber. Bei den Söhnen
Conftantin's wird das allgemein eingeräumt werden; fo
harmlos wie es S. 72 f. erfcheint, waren fie keinesfalls
und ihre .Freundföhaft' hätte Sch. S. 75 lieber nicht
.rühmen' follen. Mich befriedigt die Zeichnung von
iulian's Geftalt freilich auch nicht. Ihm perfönliche Humanität
abzudrehen (S. 128) fehe ich keinen Grund; der
Vorwurf der Parteilichkeit trifft ihn (S. 139) doch nicht
mehr als feine Vorgänger; lächerlich ift die Behauptung
(S. 152), Julian's Religionspolitik fteche dadurch, dafs fie

das 4. Jahrhundert (S. 202) als das, ,wo der Zufall diefem
oder jenem das Scepter in den Schofs warf', was viel
eher vom 3. gälte?

Dafs der Verf. Ueberflüffiges mittheilt und fich wiederholt
, ift noch fein geringftcr Fehler; was er von den
Welthiftorikern gelernt zu haben glauben kann, fehe ich
nicht, es müfste denn feine Neigung fein, mit Begriffen
zu operiren wie: Zufall, Gefchick, Zug der Zeit (S. 65. 74)
namentlich aber ,der Staat' und ,die Kirche'. Letzteres
mag der weitausfehauende .abfchliefsende Welthiftoriker'
fich erlauben; in einer Specialunterfuchung auf fo fchwie-
rigem Feld füllte man allgemeine Wendungen und Urtheile
möglichft meiden und felbft im Rückblick hätten
wir Orakel, wie S. 453: ,Das Staatswohl hat ftets ein
gröfseres Recht als irgend eine Doktrin' dem Verf. gern
erlaffen.

Alles tri Allem halten wir V. Schultzens Unternehmen
für ganz mifslungen; die Frage nach dem Verbleib des
griechifch-römifchen Heidenthums hat er im Einzelnen
wenig gefördert, im Grofsen nach Kräften verfchoben
und verdunkelt; nicht einmal über den Fortfehritt der
äufseren Seite des Kampfes orientirt er anfehaulich. Er
prätendirt viel, aber diefer feiner Arbeit fehlt energifche

zu blutigen Tumulten und zu Hinrichtungen gefuhrt habe, Vertiefung, Gründlichkeit und Sorgfalt im Einzelnen;
,von der von Konftantin und feinen Söhnen eingenom- mit einem fchnellen Wurf find folche Fragen nicht zu

menen Haltung fcharf ab'. Dafs Julian .einer fo welt-
gcfchichtlich.cn Aufgabe nicht im entfernteften gewachfen
war''(S. 165), ift eine bedeutungslofe Phrafe. Ganz wider-
fpruchsvoll ift auch die Würdigung der Perfon und der
Motive Conftantius. S. 34 heifst es, die .letzten Beweggründe
feines Bekenntnilses zum Chriftenthum (durch das
Labarum!) können nur religiöfe gewefen fein'; eine folche
öffentliche Verletzung des Heidenthums habe ,als eine
politifch fchr unkluge Mafsregel' in jenem Augenblick
zu gelten, und (S. 33) in fcharfen Gcgcnfatz zum Heiden-

löfen.

Rummelsburg b. Berlin. A. Jülicher.

Seil, Ob.-Confift.-R. Dr. K., Die geschichtliche Entwickelung
der Kirche im 19. Jahrhundert und die ihr dadurch gesellte
Aufgabe. — Die Forschungen über die paulinischen
Briefe: ihr gegenwärtiger Stand und ihre Aufgaben von
Confift.-R. Prof. Dr. G. Heinrich Vorträge, gehalten