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Ausgabe:

1887 Nr. 20

Spalte:

480-481

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Wilh.

Titel/Untertitel:

Die göttliche Vorsehung und das Selbstleben der Welt 1887

Rezensent:

Sachsse, Eugen

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Theologifche Literaturzeitung. 1887. Nr. 20.

480

ift: mit dem Waffer, das geftern noch darin war, identifch
trotz verfchiedener Erfcheinung, der erwachfene Mann
ift identifch mit dem Kinde, das ich vielleicht vor 30
Jahren gefehen habe. Aber auf keine Weife ift nach der
gegebenen Darfteilung das Brod des Abendmahls mit
dem Leibe Chrifti identifch, fondern es ift ihm ähnlich.
Durch den irreführenden Ausdruck Identität icheint der
Verf. mehr bewiefen zu haben, als thatfächlich der Fall
ift. Sodann behauptet Verf. hier als etwas Selbftver-
ftändliches, dafs das Brod im Abendmahl als göttlich
geheiligter Geiftkörper lebendig machend fei. Aber das
ift ja die ganze Frage beim Abendmahl, ob und wodurch
das Brod lebenfpendend fei; dicfe mufste zuerft auf
Grund einer eingehenden Unterfuchung der Schriftftellen
in den fynoptifchen Evangelien und dem I. Korinther-
briefe erledigt werden. Und hier finde ich den Hauptmangel
der ganzen Arbeit: nirgendwo ift eine gründliche
Auslegung der mafsgebenden Ausfprüche Jefu und feines
Apoftels; denn die kurze Berührung diefer Stellen am
Schlufs der ganzen Darftellung (p. 466), gelegentlich
einer Polemik wider Rückert und Ebrard, wird diefen
Mangel nicht erfetzen. Eine vorfichtige Exegefe würde
fehr bald gezeigt haben, dafs der Herr das Brod nicht
in Beziehung fetzt zu feinem Leibe überhaupt, fondern
zu dem in den Tod gegebenen Leibe und dem am Kreuze
vergoffenen Blute d. h. zu dem Bundesopfer auf Golgatha
. Diefe fchon in der kirchlichen Lehrentwickelung
ungebührlich zurückgeftellte Beziehung hat Verf. gänzlich
überfehen und fo den Mangel der kirchlichen Lehre
noch überboten. — Doch wir gehen weiter. Wir haben
alfo zwei Gegenftände, die gewiffe Aehnlichkeiten haben:
den Leib Chrifti und das Abendmahlsbrod; aber ift diefer
Vergleich nur eine fubjective Denkoperation oder haben
beide aufser der Aehnlichkeit auch eine gewiffe Gemein-
fchaft? Darüber belehrt uns das 2. Capitel: Die facra-
mentliche Einheit. Diefe befteht nämlich darin, dafs
Jefus die Elemente als Geniefsender in fich aufnahm und
durch den natürlichen StofTwechfel in feinen Leib verwandelte
. Deshalb nennt er proleptifch das Brod feinen
Leib. Aber, wie der Verf. anderweit felbft zugiebt, hat
Jefus bei der Einfetzung des Abendmahls felbft nicht
gegeffen und getrunken, alfo kann der Herr diefen fon-
derbaren Gedanken nicht gehabt haben. Sodann macht
Verf. fich felbft den Einwurf, der Herr habe fagen muffen:
das ift euer Leib und Blut! da ja doch Brod und Wein
durch den StofTwechfel in den Leib der Jünger verwandelt
wurde. Verf. begegnet diefem Einwurf durch die weitere
Behauptung, dafs auch der Leib der Jünger Jefu eigener
Leib fei und widmet diefer Betrachtung das 3. Capitel.
Wir haben alfo das Refultat, dafs der Herr das Brod
feinen Leib nennt, nicht weil er es in Beziehung fetzt zu
feinem gekreuzigten Leibe, fondern weil es als natürliches
Nahrungsmittel in den Leib der Jünger verwandelt
wird und die Leiber der Gläubigen auch in gewiffem
Sinne Chrifti Leib find. Das 3. Capitel handelt von dem
Leibe des Eigenthums. Da erhalten wir zunächft eine
andere Erklärung der Stiftungswortc. Brod und Wein
war das einzige irdifche Befitzthum, welches Jefus noch !
hatte; als folches nennt er es feinen Leib = Befitz,
welchen er fterbend feinen Jüngern vermacht. Das Brod
ift aber Repräfentant aller irdifchen Güter, die Chriftus
für fich und feine Kirche in Befitz nimmt; diefe überweift
der Herr daher hier den Jüngern zum Eigenthum.
Nunmehr kommt Verfaffer zu der Erklärung, Leib Chrifti
fei Alles, worin der Xoyog fich verleibliche, und unterfcheidet
einen fünffachen Leib Chrifti: 1) fein perfönlicher Leib, I
2) die Leiber der Gläubigen, 3) der Kirchenleib, 4) der
Brodleib, 5) die irdifche Habe der Gläubigen. Diefer
fünffache Leib ift eine körperliche Einheit, daher wo
eine Art des Leibes ift, find auch die andern; wo alfo
der Brodleib ift, da ift auch der perfönliche Leib Chrifti.
Daraus würde denn folgen, dafs wir im Abendmahl auch
die Leiber der Gläubigen oder ihren irdifchen Befitz

empfangen. Im letzten Capitel fetzt fich Verf. mit ver-
fchiedenen kirchlichen Lehren auseinander und fchliefs-
lich hören wir noch, dafs aus dem geweihten Brod die
Auferftehungsleiber der Gläubigen herauswachfen.

Nach diefer Inhaltsangabe dürfte das Urtheil gerechtfertigt
erfcheinen, dafs Verf. den Grundgedanken
Jefu bei Stiftung des Abendmahls nicht gebührend be-
rückfichtigt hat, nämlich die Beziehung auf das Bundesopfer
am Kreuz und auf das dadurch erworbene Heilsgut
, die Vergebung der Sünden; dafs er verfchiedene
Ausdeutungen der Einfetzungsworte gegeben hat, die
exegetifch nicht begründet und unter fich nicht zufammen-
hängend find; dafs er alfo feine Abficht, die kirchliche
Lehre zu fördern, nicht erreicht hat. Mit diefem Urtheil
will ich dem grofsen Fleifse und der ausgebreiteten Be-
lefcnheit des Verf.'s meine Anerkennung nicht verfagen.
Auch hier mag der Spruch gelten: in magnis voluisse
sat est.

Herborn. D. Sachfse.

Schmidt, Pfr. Dr. Wilh., Die göttliche Vorsehung und das
Selbstleben der Welt. Berlin, Wiegandt & Grieben,
1887. (230 S. gr. 8.) M. 3. 50.

Verfaffer fetzt fich zunächft mit der proteftantifchen
Kirchenlehre dahin auseinander, dafs neben der conser-
vatio die Annahme eines coneursus dei überflüffig fei,
weil mit der Erhaltung der erfchaffenen Kräfte auch
die Wirkfamkeit derfelben gegeben fei, denn Kräfte
ohne Wirkungen feien undenkbar. Bei böfen Handlungen
fei der coneursus fogar bedenklich, weil er
die perfönliche Freiheit aufhebe und Gott zum Urheber
des Böfen mache. Vielmehr hat der Menfch innerhalb
gewiffer Grenzen die Freiheit, die ihm verliehenen Kräfte
unter Benutzung des gottgeordneten Caufalnexus zu gebrauchen
. Ebendeshalb ifl noch eine weitere actio dei
anzunehmen, durch welche er feine Weltpläne gegenüber
der menfehlichen Freiheit durchfetzt: die gubernatio oder
Fürfehung. Diefelbe beruht nicht auf einem abfoluten
Vorherwiffen, welches alle Freiheit aufhöbe und das
Weltdrama zum Marionettenfpiel machte. Indem Gott
freie Creaturen fetzte, hat er feine Allwiffenheit in Bezug
auf das Zukünftige befchränkt. Gott weifs nur feine Pläne
und das Weltziel voraus; er weifs auch alles Wirkliche. Die
Handlung, durch welche er in jedem Augenblick die Wirklichkeit
dem gefetzten Endziel annähert, ift die gubernatio.
Sie befteht in der zweckmäfsigen Gruppirung der Per-
fonen und Umftändc, fie greift auch durch Wunder ein.
Im 2. Capitel geht Verf. auf die Ausfagen der hl. Schrift,
im 3. auf das fromme Bewufstfein ein. Er erinnert, wie
jene die creatürliche Freiheit vorausfetze und von deren
Gebrauch das Weltgefchehen abhängig mache. Die Länge
des Einzellebens ift nicht unabänderlich beftimmt, fondern
hängt vom fittlichen Verhalten ab. Auch die Ueber-
zeugung von der Wirkfamkeit des Gebets verbiete die
Annahme einer bis ins Einzelnfte gehenden Vorherbe-
ftimmung. Selbft viele Weisfagungen Gottes feien nicht
unwiderruflich, fondern könnten durch das fittliche Verhalten
des Menfchen rückgängig gemacht werden. Der
Weltzweck ift das Reich Gottes, zu welchem in der
Schöpfung die praedispositio gegeben ift, welche aber
nur durch Mitwirkung der creatürlichen IAeihcit realifirt
werden kann. Gegen deren Mifsbrauch ift das Wunder
erforderlich. Das Wunder ift alfo nicht eine Correctur
der Wcltfchöpfung, fondern des Mifsbrauchs der menfehlichen
Freiheit. Es mufs auffallen, dafs Verf. hier nicht
den übergeordneten Begriff der Offenbarung anwendet,
durch welche der irrende Menfch dem Heilsziele Gottes
zugeführt wird; daraus würde das Wunder verftändlich
werden theils als gottgeordnetes Zufammentreffen naturlicher
Gefchehnifse mit geiftiger Lebensmittheilung, theils