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Ausgabe:

1887 Nr. 19

Spalte:

450-452

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Heinr. Otto

Titel/Untertitel:

Der Weg zur Kräftigung der protestantischen Kirche 1887

Rezensent:

Ehlers, Rudolph

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Theologifche Literaturzeitung. 1887. Nr. 19.

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doch die Betrachtungsweife, die es von vorn herein
combinirt, verworfen werden. Der allein richtige Weg
zur Erkenntnifs gerade des wirklichen ift hier die ,ab-
ftracte Ifolirung', die der Verfaffer verwirft. Ich meine:
wir muffen eins nach dem andern erwägen, fo dafs wir
uns dabei bewufst bleiben, wie wir es je und je nur mit
einem Theilinhalt des wirklichen zu thun haben und erft
mit der Berückfichtigung beider Gefichtspunkte nach
einander das Ziel der Erkenntnifs erreichen, — fo weit
es erreichbar ift.

Ift dies richtig, dann wird die vom Verf. vorge-
fchlagene Betrachtungsweife fich dadurch als irrig er-
weifen, dafs fie keinem der beiden Gefichtspunkte, weder
dem des Gefetzes noch dem des Gutes, in feiner Eigenart
gerecht wird. Das fcheint mir in der That der Fall
zu fein. Und darüber mögen noch ein paar Worte ge-
ftattet fein.

M. E. werden wir dem Gegenftand der Ethik nur
gerecht, wenn wir den Gedanken des Sittengefetzes als
den für das fittliche Leben entfcheidenden anerkennen:
beruht doch unfere Rede vom Sittlichen auf der Erfahrung
von der Spannung zwifchen diefem Gefetz und der
Neigung. Es ift zwar ein Fehler der ethifchen Reflexion,
wenn fie um deswillen vielfach an den formalen Merkmalen
des Sittlichen, wie fie in dem Gedanken einer
unbedingten und allgemein gültigen Gefetzgebung zu-
fammengefafst find, hängen bleibt und vergifst, dafs es
nichts im allgemeinen gutes und böfcs giebt, fondern
wirklich gut oder böfe nur das concrete, inhaltlich erfüllte
Handeln ift. Was in den Erörterungen des Ver- I
faffers hierauf hinzuweifen dient, ift gewifs aller Beachtung
werth. Aber diefer Fehler fcheint mir doch
weit geringfügiger als der andere, dafs und wenn die
fundamentale Bedeutung des Gefetzes und Gehorfams
gegen das Gefetz für das fittliche Leben verkannt wird.
Oder follte es wirklich genügen, die Gefetze als die
Regeln zu charakteriflren, nach welchen zur Verwirklichung
des höchften Gutes gehandelt werden foll, und
hervorzuheben, dafs wir in den meiften Fällen ftatt auf
Erwägung des Erfolgs auf den Gehorfam gegen das 1
Gefetz angewiefen find? Ich will zwar nicht leugnen, I
dafs wiederum in diefer Theorie etwas überaus richtiges j
liegt. Es dürfte dies oder doch etwas ähnliches über
den thatfächlichen Urfprung der Gefetze im gefchicht- ]
liehen Leben nachzuweifen fein. Aber das gehört ein- I
mal fchon der objectiven Erwägung des Ethikers an und I
darf auf keine Weife in die fittliche Reflexion des han-
delnden Subjects. welche dadurch nur in Verwirrung
gerathen könnte, hineingetragen werden: der Gehorfam
gegen das Gefetz ift für diefes nicht der regelmäfsige
Nothbehelf, fondern einfach das normale, von dem es
daher auch keine Ausnahmen geben foll. Sodann und
vor allem mufs die Stellung der Gefetze als Mittel näher
dahin benimmt werden, dafs fie nothwendige Mittel find,
— nothwendig nicht im Sinn deffen, was fich unter gegebenen
unvollkommenen Verhältnifsen als unvermeidlich
erweift, fondern im Sinn deffen, ohne welches der
Zweck feinem inneren Wefen nach unerreichbar bleibt.
Auch bei der willigften Pflichterfüllung dürfen wir über
der freudigen Antheilnahme die innere Haltung des Gehorfams
nicht vernachläffigen. Es thun, hiefse nicht blofs
die Gefahr der Verirrung heraufbefchwören. Es wäre
vor allem der empfindlichfte Raub an uns felbft, eine
wefentliche Schädigung in der Theilnahme am verwirklichten
fittlichen Zweck. — So fcheint mir der Gefichts-
punkt des Gefetzes und Gehorfams bei der vom Verf.
vorgefchlagenen Betrachtungsweife nicht zu feinem Recht
zu kommen.

Aber auch der Gefichtspunkt des Gutes nicht.
Was hier das höchfte Gut heifst, ift eigentlich ein Mittelding
zwifchen Gut und Ideal. Es hat zu viel vom Gut
an fich, um ein fittliches Ideal zu fein, deffen Art es ift,
fchlechtweg zu gebieten und das Seinfollende zu fordern,

weil es fein foll. Es hat aber eben fowohl zu viel vom
fittlichen Ideal an fich, uni wirklich ein Gut zu fein.
Denn ein Gut ift doch das, was wir begehren und nicht,
was wir begehren follen; das höchfte Gut des Verfaffers
dagegen erweift fich fchliefslich als etwas, was die Einzelnen
begehren follen. Und deshalb kommt auch der
Gefichtspunkt des Gutes bei diefer Betrachtungsweife
nicht zu feinem Recht. Wird ftatt deffen, wie oben gefordert
, beides auseinandergehalten, dann ift es möglich,
wie es der Sache entfpricht, an zweiter Stelle die felb-
ftändige Bedeutung des Gutes als Gut im fittlichen Leben
voll und ganz zu würdigen. Dies, dafs die concreten
fittlichen Ideale ftets mit entfprechenden Gütern zufammen
auftreten und wirkfam werden, ja darüber hinaus, dafs
fie in ihrem Urfprung mit folchen Gütern aufs engfte
verflochten find, wie davon eben fchon die Rede war.
Auch die Bedeutung der Religion für das fittliche Leben
würde allererft in diefem Zufammenhang richtig erkannt
werden können, namentlich die Stellung, welche das
Chriftenthum im fittlichen Leben einnimmt und die ihm
deshalb auch in der Ethik als der Lehre von demfelben
gebührt. Denn die beruht darauf, dafs das Chriftenthum
den, welcher glaubt, eines höchften überweltlichen Gutes
verfichert und dadurch zur treibenden Kraft aller fittlichen
Pflichterfüllung werden kann und foll. Die Würdigung
der Religion nur als eines berechtigten menfeh-
lichen Lebensintereffes unter und neben anderen wird
der Bedeutung, welche das Chriftenthum für das fittliche
Leben hat, m. E. nicht gerecht.

Berlin. Kaftan.

Lehmann, Prof. Heinr. Otto, Der Weg zur Kräftigung der
protestantischen Kirche. Vortrag, geh. im liberalkirchl.
Verein zu Kiel den 14. Dezbr. 1886. Kiel, Lipfius &
Tifcher, 1887. (16 S. gr. 8.) M. —.50.

Welcher evangelifche Chrift freute fich nicht der
Botfchaft, wenn Einer verheifst, er wiffe den Weg, der
zur Kräftigung der proteftantifchen Kirche führt, und er
fei im Stande, Anderen diefen Weg zu zeigen? Denn
dafs diefe proteftantifche Kirche krank fei, ohne den
zu wünfehenden Einflufs auf das evangelifche Volk, und
namentlich der katholifchen Kirche gegenüber fchwach
(p. 5), darüber find Alle einverftanden, welche die evangelifche
Kirche lieb haben und den Wunfeh theilen, fie
möchte beffer, als fie es thatfächlich thut, die Anfprüche
erfüllen können, welche mit Recht an fie zu ftellen find.
Ift es gar ein Nichttheologe, der jenen Weg zu zeigen
unternimmt, ein Gelehrter, ein Mann der Wiffenfchaft,
welcher den grollenden, hadernden kirchlichen Parteien
Vorfchläge zu machen hat, in deren Befolgung fie fich
friedlich zufammenfinden können, fo hat er zwiefach ein
Anrecht darauf, dafs man ihn höre und was er zu fagen
hat, forgfältig prüfe. Gegenüber der vorliegenden Schrift
erregt allerdings fchon der Umftand Bedenken, dafs es
ein verhältnifsmäfsig kurzer Vortrag ift, welcher das
fchwierige Unternehmen zu löfen verfpricht. Auf
kaum 14 Seiten foll das Geheimnifs ergründet werden,
au deffen Löfung fich fo viele bis zur Verzweiflung vergeblich
abgemüht haben. Und wenn wir auch mit dem
Verfaffer überzeugt find, dafs es in der That nicht vieler
Künfte bedürfte, die evangelifche Kirche fich felber und
ihrer hohen Aufgabe wiederzugeben, dafs die Sache viel
einfacher ift, als die Mehrzahl der Rathgeber zugeftehen
mag — ob fie fo einfach fei, wie der Verfaffer uns
möchte glauben machen, darüber hegen wir doch ftarke
Zweifel.

Er vertheidigt zunächft den liberalkirchlichen Verein
zu Kiel gegen eine Anzahl von Anklagen, welche feine
Entwickelung bisher gehemmt und ihm viel edle Kräfte,
manch tüchtigen Mann fern gehalten haben, welche zu
fei ner Förderung berufen zu fein fchienen. Er weift